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european war
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INTERNATIONALE
MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT, KUNST UND TECHNIK
BEGRÜNDET VON FRIEDRICH ALTHOFF
HERAUSGEGEBEN VON MAX CORNICELIUS
BAND XIV • 1920
VERLAG UND DRUCK B. G. TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN
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INHALTSVERZEICHNIS.
I. Mitarbeiter.
Spalte
Abb, Wilhelm, Geh. Regierungsrat,
Berlin,
Persönliche Erinnerungen an Frie¬
drich Althoff.687
Arnim, Hans v., ord. Univ.-Prof., Dr„
Frankfurt a. M.,
Die Platonbiographie Ulrichs von
Wilamowitz. 1
Aronstein, Philipp, Oberlehrer, Prof.,
Dr., Berlin,
George Meredith in seinen Briefen. 29
Babinger, Franz, Dr., Würzburg,
Die Zukunft der morgenländischen
Studien in Deutschland .... 385
Below, G. von, ord. Univ.-Prof., Dr.,
Freiburg i. Br.,
Zur Wiedereröffnung des literar.
Austausches zwischen Amerika
und Deutschland.288
Biese, Alfred, Gymnasialdirektor,Prof.,
Dr., Frankfurt a. M.,
Jean Paul im Lichte des Humors. 426
Braun, Fritz, Oberlehrer, Prof.,
Deutsch-Eylau,
Ewald Banse, Die Türkei ... 173
—, Hans v. Kiesling, Damaskus. . . 761
Curtius, Ernst, Robert, ord. Univ.-
Prof., Dr., Marburg,
Französische Kulturkämpfe . . . 549
Dal man, Gustaf, ord. Univ.-Prof., Dr.
D. Dr., Greifswald,
Das zweite Jahr des Nordischen
Instituts der Universität Greifswald 277
E b e 1 i n g, A., Oberingenieur, Dr., Char-
\ lottenburg,
August Raps.755
Eißfeldt, Otto, Privatdozent a. d. Uni¬
versität Berlin, Prof., Dr.,
Julius Wellhausen. 193. 325
Spalte
Goldbeck, Emst, Gymnasialdirektor,
Dr., Berlin,
Paul Stäckel zum Gedächtnis . . 439
Gradmann, Robert, ord. Univ.-Prof.,
Dr., Erlangen,
Die Erdkunde und ihre Nachbar¬
wissenschaften .603
Gunkel, Hermann, ord. Univ.-Prof.,
D. Dr., Halle a. d. S.,
Eine hebräische Meistererzählung 73.155
H., J., Der Friedensvertrag von Ver¬
sailles .480
—, Lepsius, Der Todesgang des arme¬
nischen Volkes.761
Hansen, Adolph, ord. Univ.-Prof., Dr.,
Gießen,
Goethes Arbeiten zur Morphologie 229
Hashagen, Justus, ord. Univ.-Prof.,
Köln,
Neue Veröffentlichungen über die
Vorgeschichte des Weltkrieges 305. 410
Hüben er, Gustav, Privatdozent a. d.
Universität, Dr., Göttingen,
Samuel Butler der Jüngere . . . 557
Klemperer, Victor, Privatdozent a. d.
Universität, Dr., München,
Das französische Universitätswesen 47
Kornemann, Ernst, ord. Univ.-Prof.,
Dr., Breslau,
Philipp II. und Alexander der Große 111
—, Die Anfänge der römischen Republik 481
Krüger, F., Professor an der Techni¬
schen Hochschule, Dr., Danzig.
Die Stellung der physikalisch-ma¬
thematischen Wissenschaften an
den deutschen Technischen Hoch¬
schulen .525
Laquer, B., Sanitätsrat, Wiesbaden,
Carl H. Beckers „Kulturpolitische
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Inhaltsverzeichnis
VI
[ Spalte
Aufgaben des Reiches“. Eine amt¬
liche Denkschrift.281
■ Mannhart, Hans, Bibliothekar des
Deutsch. Ausland-Inst., Dr., Stuttgart,
Die Zukunft unserer Auslandkunde 641
Michaelis, Paul .Oberlehr., Dr., Berlin,
Charles de Villers.133
Mulert, H., ord. Univ.-Prof., Kiel,
Walter Köhler, Die Geisteswelt Ul¬
rich Zwinglis.479
Murko.M., ord. Univ.-Prof., Dr., Leip¬
zig, Die ethnographischen Verhält¬
nisse Rußlands. 577. 674
N'iedner, Felix, Prof., Dr., Berlin,
Könige und Skalden in der Heims-
kringla. 245. 337
R., H., Wilhelm Erbt, Die deutsche Er¬
ziehung . 759 j
Rosbund,Max, Realschuldirektor z. D.,
Erfurt,
Die Ostmark. Eine Landeskunde
des deutschen Nordostens von Prof.
Fritz Braun.649
Salomon, Felix, Univ.-Prof., Dr., Leip¬
zig.
Lloyd George vor 1914 .... 97
—, Lord Morleys „Erinnerungen“ . . 503
Spalte
; Spitzer, Leo, Privatdozent an der
Universität, Dr., Bonn,
Barbusse und Duhamel .... 595
Thiele, Gunnar, Oberlehrer, Dr., Kö¬
penick,
Die Anfänge des preußischen Kul¬
tusministeriums.289
i Walzel, Oskar, ord. Prof. a. d. Tech¬
nischen Hochschule, Dresden,
Tragik nach Schopenhauer und von
heute.734
Wechßler, Eduard, ord. Univ.-Prof.,
Dr., Berlin,
E. R. Curtius, Die literarischen Weg¬
bereiter des neuen Frankreich . . 169
Werner, Ernst, Prof., Heidelberg,
Das Lektorat und die Ausbildung
der Neuphilologen.625
Wolff, Max J„ Prof., Dr. jur„ Berlin,
Karl Vosslers „Dante“.209
—, Lope de Vega.449
Wulff, 0., Kustos am Kaiser-Friedrich-
Museum, Professor an der Universi¬
tät, Dr., Berlin,
\ v Neue Aufgaben der öffentlichen
' ^ Kunstpflege.710
II. Abhandlungen und Mitteilungen.
Althoff, Persönliche Erinnerungen an
Friedrich. Von Wilhelm Abb . . 687
Amerika und Deutschland, Zur Wie¬
dereröffnung des literarischen Aus¬
tausches zwisdien. Von G.vonBelow 288
Auslandkunde, Die Zukunft unserer.
Von Hans Mannhart.641
Banse, Ewald. Die Türkei. Von Fritz
Braun.173
Barbusse und Duhamel. Von Leo
Spitzer.595
Beckers. Carl, H., „Kulturpolitische Auf¬
gaben des Reiches“. Von B. Laquer 281
Butler, Samuel, der Jüngere. Von
Gustav Hübener.557
Curtius, Die literarischen Wegbereiter
des neuen Frankreich. Von Eduard
Wechßler.169
\ ..Dante", Karl Vosslers. Von Max J.
; Wolff.209
i Duhamel, Barbusse und. Von Leo
- Spitzer.595
Erbt, Wilhelm. Die deutsche Erziehung.
Von H. R.759
Erdkunde, Die, und ihre Nachbarwis¬
senschaften. Von Robert Gradmann. 603
Ethnographischen, Die, Verhältnisse
Rußlands. Von M. Murko . . 577. 674
Französische, Das, Universitätswesen.
Victor Klemperer.47
Französische Kulturkämpfe. Von Ernst
Robert Curtius.549
Friedensvertrag, Der, von Versailles.
Von J. H.480
Goethes Arbeiten zur Morphologie.
Von Adolph Hansen.229
Heimskringla, Könige und Skalden in
der. Von Felix Niedner. . . 245. 337
Jean Paul im Lichte des Humors. Von
Alfred Biese.426
Kiesling, Hans von. Damaskus. Von
Fritz Braun.761
Köhler, Walter, Die Geisteswelt Ulrich
Zwinglis. Von H. Mulert .... 479
Kultusministeriums, Die Anfänge des
preußischen. Von Gunnar Thiele . 289
Kunstpflege, Neue Aufgaben der öffent¬
lichen. Von O. Wulff.710
' 4*7
170131
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Inhaltsverzeichnis
Vü
vra
Spalte
Lektorat, Das, und die Ausbildung der
Neuphilologen. Von Ernst Werner. 625
Lepsius, J. Der Todesgang des arme¬
nischen Volkes. Von J. H.761
Lloyd George vor 1914. Von Felix
Salomon.97
Lope de Vega. Von Max J. Wolff . 449
Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht. 89
Meistererzählung, Eine hebräische. Von
Hermann Gunkel.73. 155
Meredith in seinen Briefen. Von Phi¬
lipp Aronstein.29
Morgenländischen Studien in Deutsch¬
land, Die Zukunft der. Von Franz
Babinger. 385
Morleys, Lord, „Erinnerungen“. Von
Felix Salomon.503
Nordischen Instituts der Universität
Greifswald, Das zweite Jahr des. Von
Gustaf Dalman.277
Ostmark, Die. Eine Landeskunde des
deutschen Nordostens von F. Braun.
Von M. Rosbund.649
Philipp II. und Alexander der Große.
Von Emst Kornemann.111
Physikalisch - mathematischen Wissen¬
schaften, Die Stellung der, an den
deutschen Technischen Hochschulen.
Von F. Krüger.525
Platonbiographie, Die, Ulrichs v. Wila-
mowitz. Von Hans v. Arnim. . . 1
Preußischen Kultusministeriums, Die
Anfänge des. Von Gunnar Thiele . 289
Raps, August. Von A. Ebeling. . . 755
Republik, Die Anfänge der römischen.
Von Ernst Kornemann.481
Spalte
Rußlands, Die ethnographischen Ver¬
hältnisse. Von M. Murko . . 577. 674
Sägmüller, J. B. Der apostolische Stuhl
und der Wiederaufbau des Völker¬
rechts und Völkerfriedens .... 365
Stäckel, Paul, zum Gedächtnis- Von
Emst Goldbeck.439
Technischen Hochschulen, Die Stel¬
lung der physikalisch - mathemati¬
schen Wissenschaften an den deut¬
schen .525
Tragik nach Schopenhauer und von
heute. Von Oskar Walzel .... 734
Universitätswesen, Das französische.
Von Victor Klemperer.47
Villers, Charles de. Von Paul Michaelis 133
Vosslers, Karl, „Dante“. Von Max J.
Wolff.209
Wellhausen, Julius. Von Otto Eiß-
feldt.. 193. 325
Weltkrieges, Neue Veröffentlichungen
zur Vorgeschichte des. Von Justus
Hashagen. 305. 410
Zeitschriften- und Bücherschau.
Ästhetik und allgemeine Kunstwis¬
senschaft (M.-F.) 93. Aus englischen
Zeitschriften (Albert Ludwig) 761.
Neue Literatur zur Geschichte des
Altertums (Emst Kornemann) 463.
573. Deutsche Kunst des 15. und
16. Jahrhunderts (Dr. Grete Ring) 261.
Pädagogik (H. R.) 367. Philosophie
(K. Oe.) 177. Theologie (H. Mulert)
649.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG
HEFT 1
OKTOBER 1919
Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz.
Von Hans v. Arnim.
Das Verständnis Platons wie der
griechischen Philosophen überhaupt
kann nur durch Zusammenwirken phi¬
lologisch-historischer mit philosophi¬
scher Forschung erschlossen werden.
Aber schwer ist es, die Aufgabe, die
dem Philologen, gegen die, welche dem
Philosophen gestellt ist, abzugrenzen.
Wilamowitz’ „Platon" will nur die phi¬
lologische Aufgabe lösen, „Platon,
den Menschen und seine Werke
den Lesern nahezubringen" — nicht
den Fachgelehrten, sondern dem wei¬
teren Leserkreise. Er will eine Bio¬
graphie Platons geben, welche zeigt,
„wie dieser Mensch geworden ist, was
er gewollt, gedacht, gewirkt hat“. Die
Einordnung dagegen der Gedanken
Platons in die Entwicklung der mensch¬
lichen Erkenntnis, die Bloßlegung der
Fäden, die sie mit älteren und jünge¬
ren Denkern verbinden, die Prüfung
der platonischen Lehre auf ihren
Wahrheitsgehalt sieht Wilamowitz als
Aufgabe des Philosophen an. Als Philo¬
logen interessiert ihn die Lehre Pla¬
tons nur um des Menschen, nicht der
Mensch um seiner Lehre willen. Die
Werke Platons, jedes für sich genom¬
men. insofern es dem liebevollen Be¬
trachter etwas Persönliches enthüllt
und den Seelenzustand Platons zur Zeit
der Abfassung offenbart, sind ihm
wichtiger als die Frage, ob sich die in
ihnen vorgetragenen Gedanken zu
einem System zusammenschließen.
Wenn Platons Dialoge philosophische
Gedanken in künstlerischer Form dar¬
stellen, so ist ihm die Form wichtiger
als der Inhalt, und jene Altersschrif¬
ten Platons, die streng fachwissen¬
schaftlich sind und die dramatische
Form kaum noch äußerlich wahren, z. B.
„Parmenides“ und „Sophistes“, werden
grundsätzlich nicht so eingehend be¬
handelt wie literarisch eindrucksvollere
Werke. Die praktische Seite der plato¬
nischen Philosophie, d. h. ihr Streben,
den einzelnen sowohl wie Staat und
Gesellschaft besser und glückseliger zu
machen, ist dem Biographen und Ge¬
schichtsforscher naturgemäß wichtiger
als die logischen, ontologischen und er¬
kenntnistheoretischen Untersuchungen.
Was wir über Platons äußere Erleb¬
nisse wissen, wird nicht, wie in den
meisten Büchern über ihn, in einem be¬
sonderen biographischen Kapitel von
der Behandlung der Schriften abgeson¬
dert und zusammengefaßt, weil das
ganze Werk Biographie ist und auch
in der Besprechung der Schriften und
Lehren nur Biographie sein will. Der
erste Band ist rein darstellend. Er ver¬
zichtet auf Begründung und auf Quel¬
lenbelege, so daß nirgends griechische
Lettern erscheinen; er setzt sich fast
nirgends mit den Ansichten der Mit¬
forscher auseinander; er enthält keine
Untersuchungen, sondern nur Ergeb¬
nisse. Wo dem Verfasser in einzelnen
Fällen Begründung seiner Darstellung
1
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3
Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
nötig schien, hat er sie in Exkursen ge¬
geben, die in einem zweiten Bande zu¬
sammengefaßt sind.
Voraussetzung für die Einbeziehung
der Schriften in den Zusammen¬
hang biographischer Darstellung ist die
Kenntnis ihrer zeitlichen Folge.
Diese hat, wie bekannt, seit Schleier¬
macher und K. F. Hermann einen
Hauptgegenstand der deutschen Plato-
forsdiung gebildet. Trotz immer erneu¬
ter Versuche wollte es nicht gelingen,
eine bestimmte Ansicht über die Zeit¬
folge zu allgemeiner Anerkennung zu
bringen. Ohne diese aber konnte man
nicht zum Verständnis der philosophi¬
schen Entwicklung Platons, zur Ein¬
ordnung dieser in die Gesamtentwick¬
lung der griechischen Philosophie und
zu einer abschließenden Darstellung
und geschichtlichen Würdigung der
platonischen Philosophie gelangen. Wi¬
lamowitz hält die „platonische Frage“,
d. h. die Frage nach Echtheit und
Reihenfolge der erhaltenen Dialoge für
gelöst. „Über die Echtheit ist fast völ¬
lige Einhelligkeit erreicht —; die Prü¬
fung von Sprache und Stil hat es in
den letzten Jahren auch erreicht, daß
die Dialoge gruppenweise in eine ganz
feste Ordnung gebracht sind, und diese
relative Chronologie wird durch die
Verbindung mit den vier Epochenjah¬
ren, dem Tode des Sokrates und den
drei Reisen, in eine absolute umge¬
setzt, die nur geringen Verschiebungen
Raum läßt.“ In diesen Worten ist an¬
erkannt, daß die Untersuchung von
Sprache und Stil für die Ermittlung der
Zeitfolge der Dialoge entscheidende Be¬
deutung gewonnen und zu endgültigen
Ergebnissen geführt hat. Alle Forscher,
die sich an diesen sprachlichen Unter¬
suchungen zur Chronologie der platoni¬
schen Schriften beteiligt haben, wer¬
den dieses Zeugnis eipes so angesehe¬
nen und unvoreingenommenen Beur¬
teilers mit Genugtuung begrüßen, nicht
zum wenigsten der Verfasser dieses
Aufsatzes, der auf Grund der Stilbeob¬
achtung die Schriften nicht nur, wie
seine Vorgänger, auf drei große Haupt¬
gruppen verteilt, sondern durchweg
und bis ins einzelne in eine feste Ord¬
nung gebracht hat, die bis auf wenige,
nicht sehr erhebliche Abweichungen
auch von Wilamowitz befolgt wird.
Ich halte diesen Grundbau der Platon¬
biographie von Wilamowitz für fest
und unerschütterlich, was nicht aus¬
schließt, daß künftig noch manche Ver¬
suche, ihn zu erschüttern, unternom¬
men werden.
Aber wichtiger als die äußere Zeit¬
folge ist ihre Deutung. Der Platz, den
jeder einzelne Dialog in dieser Folge
einnimmt, ist von der größten Bedeu¬
tung für das Verständnis des Dialoges
selbst. Erst wenn wir wissen, welche
früheren Schriften der Philosoph in je¬
der einzelnen Schrift als seinen Lesern
bekannt voraussetzt, werden wir ihren
Sinn und ihre Absicht voll erfassen;
und erst wenn wir so jedes einzelne
Werk als Glied der ganzen Reihe ver¬
standen haben, werden wir auch um¬
gekehrt das ganze platonische Schrift¬
tum aus den einzelnen Schriften als
Gesamtwerk verstehen. Die Deutung
der SchriftenfoLge in diesem Sinne ist
m. E. auch in Wilamowitz’ Platonbuch
noch nicht in allen Punkten endgültig
erreicht. Einige Bedenken, die mir ge¬
blieben sind, werden im folgenden be¬
sprochen.
In den Schriften der reifen Mannes¬
jahre Platons (im „Menon", „Kratylos“,
„Symposion“, „Phaidon“ und in der „Re¬
publik“) steht im Mittelpunkt die Ideen¬
lehre, die durch die Lehre von der
Anamnesis mit der diesen Schriften zu¬
grundeliegenden Auffassung vom We-
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5
Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
6
sen der Seele verknüpft ist. Die Haupt¬
frage für die Deutung der ganzen
Schriftenreihe ist ohne Zweifel, wie sich
zu dieser mittleren Gruppe, die den
Höhepunkt der platonischen Schrift¬
stellerei darstellt, die ihr zeitlich vor¬
aufgehende Gruppe der frühen Schrif¬
ten und die ihr nachfolgende der Al¬
tersschriften verhält. Von den Alters¬
schriften will ich hier nicht handeln.
Ich stimme Wilamowitz zu, wenn er
die Ansicht ablehnt, Platon habe in sei¬
ner Altersperiode jene Hauptlehren sei¬
ner Philosophie stark umgebildet oder
gar aufgegeben. Unsere Übereinstim¬
mung in der Datierung des „Phaidros"
führt zur gleichen Beurteilung auch
dieser Frage. Dagegen hege ich Be¬
denken gegen seine Auffassung der
frühen Schriftenreihe bis zum „Gor-
gias“ und der in ihr ausgedrückten
Entwicklung Platons als Mensch,
Schriftsteller und Philosoph. Obgleich
gerade hier bezüglich der Zeitfolge
(von dem späteren Ansätze des „Euthy-
demos“ durch Wilamowitz abgesehen)
zwischen uns eine Übereinstimmung be¬
steht, die mir um so erfreulicher ist,
als gerade hier die Ansichten anderer
Forscher am meisten auseinandergin¬
gen, ist doch unsere Deutung dieser
Reihe bezüglich ihres Verhältnisses zur
Mittelgruppe durchaus verschieden.
Während ich in dieser Schriftenreihe
eine zielbewußte methodische Vorbe¬
reitung auf die Hauptwerke der Mit¬
telgruppe sehe, nimmt Wilamowitz an,
daß Platon, als er diese frühen Schrif¬
ten verfaßte, die Grundlehre seiner spä¬
teren Philosophie noch nicht konzipiert
hatte, daß sie also ohne Beziehung auf
diese Grundlehre geschrieben sind.
Drei Dialoge sind nach Wilamowitz
noch bei Lebzeiten des Sokrates ge¬
schrieben: „Ion“, „Hippias d. kl.“, „Prota-
goras“. Er behandelt sie unter der Über¬
schrift „Jugendübermut“, weil er in
ihnen persönliche Satiren ohne ern¬
sten philosophischen Gehalt sieht,
Werke eines „neuen Archilochos", wie
Gorgias den Platon genannt haben soll.
Sie enthalten, meint er, weder sokra-
tische noch platonische Lehren, son¬
dern geben nur rein künstlerisch die
Eindrücke Platons von den Gesprä¬
chen wieder, in denen Sokrates hochmü¬
tige Scheinwisser blamierte. Daß sie
vor dem Tode des Sokrates geschrie¬
ben sind, zeigt sich, nach Wilamowitz,
vor allem darin, daß Sokrates hier noch
nicht den Nimbus des wahren Tugend¬
lehrers hat. Was Sokrates war, ist dem
Platon selbst erst durch Sokrates’ Mär¬
tyrertod bewußt geworden. Daher er¬
scheint der Sokrates dieser frühesten
Dialoge als ein bloßer Virtuos des
Streitgespräches, dem es nur darauf an¬
kommt, seinen Gesprächsgegner, gleich¬
viel mit welchen Mitteln, zu besiegen,
nicht als ein Mann, dem Wahrheit und
Tugend über alles geht.
Diese Ansicht von Wilamowitz steht
in Zusammenhang mit dem Bilde, das
er von Sokrates selbst zeichnet. Denn
sie läßt sich nur verteidigen, wenn Pla¬
ton von Sokrates weder positive Lehr¬
sätze noch eine brauchbare wissen¬
schaftliche Methode übernommen hatte:
und so schildert in der Tat Wilamo¬
witz den Sokrates: als einen Mann,
der in der Geschichte der Philosophie
nicht einmal erwähnt zu werden ver¬
dient. „Was die Erkenntnistheorie an¬
langt, so kann man Platon unmittelbar
an Protagoras und Zenon den Dialek¬
tiker anschließen; für Sokrates ist zwi¬
schen ihnen kein Platz frei. Aristoteles
rühmt ihm nach, daß er das Definieren
aufgebracht hätte. Von diesem Lobe
hat ihn H. Maier siegreich befreit“ usw.
Sokrates hat auch nicht die falsche Me¬
thode der Sophisten bekämpft und
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PRINCETON UNIVERSITY
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8
Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowiiz
durch diese Polemik indirekt die
Wissenschaft gefördert. Auch hat er
nicht den Übergang von der Natur¬
philosophie zur Ethik bewirkt. Die Er¬
findung der induktiven Methode bildet
nicht einen Ruhmestitel des Sokrates;
denn er kommt mittels derselben nicht
zu dem Allgemeinen, das er sucht. Sein
Suchen nach dem die Tugend begrün¬
denden Wissen, dem er gemeinsam mit
seinen Schülern obliegt, führt niemals
zum Ziele. Aber es wirkt trotzdem er¬
ziehlich auf den Schüler. Einerlei, ob
dieser am Ende zu sagen weiß, was
die Tugend ist, von der Sokrates ge¬
rade redet, und wie sie sich zu dem
Ganzen der Tugend verhält: „er weiß,
daß sie ist, und auch, daß sie dem
Menschen erreichbar ist, wenn
er nur will. Denn vor ihm steht einer,
der sie besitzt und übt, Sokrates.“ Diese
Schilderung des Sokrates, in der ne¬
ben lauter Negationen der Hinweis auf
seine praktische Tugendübung den ein¬
zigen positiven Zug bildet, kann meines
Erachtens nicht richtig sein. Denn es
ist ein innerer Widerspruch, daß ein
Lehrer, der zur Skepsis gegenüber al¬
len herkömmlichen ethischen Maßstä¬
ben und zu eigenem Nachdenken über
die Pflichten und Aufgaben des Men¬
schen anleitet, schließlich doch nur
durch sein praktisches Beispiel erzieh¬
lich wirken sollte. Wenn Sokrates seine
Schüler überzeugt, daß Tugend Wis¬
sen sei, dieses Wissen aber in ihnen
nicht zu erwecken und nicht einmal
anzugeben wußte, was den Gegenstand
dieses Wissens bildet, so hatte er ihnen
die Tugend zum Problem gemacht. Un¬
möglich konnten sie eine Tugend, deren
Wesen nicht zu kennen sie sich bewußt
geworden waren, an Sokrates entdecken
und rein aus der Anschauung seines
Wesens die Überzeugung schöpfen, daß
sie jeder sich aneignen kann, wenn
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er nur will. Aber ich will hier nicht
diese Auffassung des Sokrates wider¬
legen, sondern nur darauf hinweisen,
daß sie für Wilamowitz’ Auffassung
der frühesten Schriften Platons (sowohl
der drei bei Sokrates’ Lebzeiten, wie
der nach seinem Tode verfaßten) die
notwendige Voraussetzung bildet. Wäre
Platon durch Sokrates in seinem Nach¬
denken über die Grundprinzipien der
Ethik gefördert worden, dann hätte er
ihn schon vor seinem Märtyrertode als
den Mann erkennen müssen, der durch
das Wahre zum Guten hinführte; dann
hätte er ihn auch nach seinem Tode nicht
als einen Mann zu verteidigen gesucht,
dessen Untersuchungen über die Tu¬
gend zwar unfruchtbar bleiben, der
aber dennoch durch seine Person sitt¬
lich erziehend wirkt.
Was nun die drei Dialoge, „Ion“, „kl.
Hippias“ und „Protagoras“, betrifft, so
kann ich nicht glauben, daß sie der
Absicht, Personen lächerlich zu ma¬
chen, ihre Entstehung verdanken, son¬
dern finde in allen sachliche Unter¬
suchungen, die mit den in den folgen¬
den Dialogen geführten in innerem Zu¬
sammenhänge stehen. Plato sucht in
der ganzen Reihe seiner Jugenddialoge
das Wesen der Philosophie als einer
selbständigen Wissenschaft neben und
über den bereits anerkannten Einzel¬
wissenschaften zu bestimmen. Tugend,
Erziehung, Reform von Staat und Ge¬
sellschaft können, meint er, nur auf
dieser Wissenschaft beruhen, deren
spezifischer Gegenstand noch der Be¬
stimmung bedarf. Besonders faßt er
diese Aufgabe von der Seite des Er¬
ziehungsproblems an. Wie ist Erzie¬
hung zur Aret6 möglich? Da muß er
zunächst zeigen, daß die bisher aufge¬
tretenen Bildungsapostel und Tugend¬
lehrer diese Wissenschaft nicht be¬
sitzen, also auch keine wahren Erzieher
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9
Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
10
sind. Diesem Zweck dient der „Ion"
nicht minder als der „Protagoras“.
Denn die Ansicht, daß das Studium
Homers die Hauptquelle allgemein
menschlicher Bildung sei, war damals
weit verbreitet. Der Rhapsode Ion ver¬
steht nicht nur die homerischen Ge¬
sänge wirkungsvoll vorzutragen, son¬
dern will auch in allen Gegenständen,
die in der alle Seiten des Menschen¬
lebens umfassenden homerischen Dich¬
tung Vorkommen, als Sachverständiger
gelten. Diese Gegenstände gehören aber
teils in die Einzelwissenschaften (t i%vai),
so daß deren Vertreter für sie die
eigentlichen Sachverständigen sind,
teils in die Philosophie, so daß für den
Rhapsoden als Homerphilologen und
Homerinterpreten kein spezifischer Ge¬
genstand übrig bleibt. Sein Anspruch,
eine Lehre zu besitzen, die als unmit¬
telbares Bildungs- und Erziehungs¬
mittel gelten könnte, ist also unberech¬
tigt. Die Art, wie dies von Sokrates
bewiesen wird, ist ganz dieselbe, wie
im Vorgespräch des „Protagoras“ vom
Sophisten, auch einem Vertreter uni¬
verseller Bildung, nachgewiesen wird,
daß er keinen spezifischen Gegenstand
seiner Sachkunde namhaft machen
kann. Hat dieser Nachweis im „Prota¬
goras“ einen allgemeinen theoretischen
Zweck, so kann er im „Ion“ unmöglich
nur zur persönlichen Verspottung des
Rhapsoden dienen. Die Rhapsoden¬
kunst wird mit denselben Maßstäben
gemessen, die Platon auch sonst in sei¬
ner Wissenschaftslehre anwendet; ge¬
wogen und zu leicht befunden.
Der „kleinere Hippias“, den ich
aus stilistischen Gründen nicht in so
frühe Zeit, sondern in die des „Gor-
gias“ und „Menon“ setze, ist m. E. nicht
geschrieben, um den Hippias lächerlich
zu machen, sondern behandelt eben¬
falls ein sachliches Problem, das
für Platons Wissenschafts- und Tu¬
gendlehre von Bedeutung ist. Gegen
den sokratischen Intellektualismus,
demzufolge Tugend Wissen ist, wurde
von Gegnern natürlich oft eingewen¬
det, auch wer das Gute wisse, könne
freiwillig (absichtlich) das Schlechte
tun; ein solcher Mensch sei offen¬
bar schlechter, als wer unfreiwil¬
lig, ohne es zu wissen, unrecht tue.
Gegen diesen Einwand will der „Hip¬
pias“ den sokratischen Intellektualis¬
mus verteidigen. Im ersten Haupt¬
teil wird gezeigt, daß die Fähigkeit,
wann er will, also freiwillig, die Un¬
wahrheit zu sagen, für jede Einzelwis¬
senschaft nur der Sachkundige besitzt,
derselbe, der auch, wann er will, die
Wahrheit sagen kann, und daß dieser
offenbar besser ist als der dieser Ein¬
zelwissenschaft Unkundige, der unfrei¬
willig die Unwahrheit sagt. In diesem
ersten Teil handelt sich’s nur um in¬
tellektuellen Wert oder Unwert, der
durch Besitz oder Nichtbesitz der Ein¬
zelwissenschaften bedingt ist, nicht um
die moralische Frage, ob und wann
es gut und berechtigt ist, die Unwahr¬
heit zu sagen. Diese Frage gehört nicht
in eine der Einzelwissenschaften, son¬
dern in die Philosophie (die Ethik); nur
wer philosophische Erkenntnis besitzt,
kann sie entscheiden. Durch den Über¬
gang ins Moralische scheidet sich vom
ersten der zweite Teil, in dem be¬
wiesen wird, wer freiwillig sündige
und unrecht tue, wenn es einen sol¬
chen Menschen überhaupt gebe,
könne nur der Gute sein. Der Sinn
dieser paradox klingenden, aber von
Platon ganz ernst gemeinten These ist,
daß es keinen Menschen gibt, der
freiwillig (mit vollem Bewußtsein, wi¬
der besseres Wissen) sündigt und un¬
recht tut. Wer als Philosoph das Wis¬
sen vom Guten und Bösen, vom Ge-
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11
Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
1
rechten und Ungerechten besitzt, der
ist zwar fähig das Böse und Unge¬
rechte freiwillig zu tun, aber es ist zu¬
gleich undenkbar, daß er von dieser
Fähigkeit Gebrauch macht. Die Einzel¬
wissenschaft, die nur relative Güter
schafft, kann man benützen, um das in
ihrem Sinne Schlechtere freiwillig zu
tun, wenn ein außer ihr gelegener
höherer Gesichtspunkt dies fordert; die
Philosophie, die das absolut Gute er¬
kennt, kann man nie benützen, um das
in ihrem Sinne Schlechtere freiwillig
zu tun, weil es keinen außer ihr gele¬
genen höheren Gesichtspunkt gibt, der
dies rechtfertigen könnte. — So ver¬
standen enthält der „Hippias“ eine im
Zusammenhang der platonischen Wis-
senschaftslehre wertvolle Untersu¬
chung, so daß man nicht zu der An¬
nahme seine Zuflucht zu nehmen
braucht, Jugendübermut und Spottlust
habe dem Verfasser die Feder geführt.
Richtig ist, daß der „Hippias“ nicht
geschrieben sein kann, um Sokrates ge¬
gen seine Ankläger zu verteidigen, weil
für einen Leser, der das Problem nicht
versteht, Sokrates hier als Anwalt der
Unsittlichkeit erscheinen kann. Aber
daraus kann man nicht schließen, daß
der Dialog vor dem Tode des Sokra¬
tes erschienen sei.
Auch der „Protagoras“ ist nicht
nur Komödie und Satire. Anzuneh¬
men, daß es Platon in diesem Dialog
nur auf die künstlerische Darstellung
und Verspottung des Treibens der so¬
phistischen Tugendlehrer angekommen
sei und die Fragen der Erziehungs¬
und Tugendlehre, die in ihm erörtert
werden, für Platon nicht einen Ge¬
genstand ernsten philosophischen Inter¬
esses gebildet hätten, hindert mich die
Tatsache, daß alle diese Fragen in der
folgenden Schriftenreihe wieder aufge¬
nommen und weitergesponnen werden:
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die Lehrbarkeit der Tugend, ihre We¬
sensbestimmung als Wissen, das Ver¬
hältnis der Einzeltugenden zur Gesamt¬
tugend, die Abgrenzung der tugend¬
begründenden Wissenschaft gegen die
anderen durch Bestimmung ihres spe¬
zifischen Gegenstandes, die Begriffs¬
bestimmung der Tapferkeit, das Ver¬
hältnis des Guten zum Angenehmen.
In Wilamowitz’ Darstellung sieht es so
aus, als ob alle diese Fragen weder
vor noch nach dem Tode des Sokrates
ernste philosophische Probleme für Pla¬
ton gebildet hätten. Vor dem Tode des
Sokrates spielt er nur mit ihnen und
nach Sokrates’ Tode benützt er sie
nur zur Verteidigung von dessen Per¬
son. Diese Sonderung der Dialoge in
Gruppen, von denen jede durch einen
gemeinsamen Zweck zusammengehal- 1
ten wird, und das Aufeinanderfolgen
dieser Gruppen ergibt dann etwas wie
eine Entwicklung, die aber keine philo¬
sophische Entwicklung, kein Fortschritt
des Erkennens ist. Ich bestreite ebenso
entschieden den vorwiegend apologeti¬
schen Zwecke der zweiten wie den vor¬
wiegend satirischen der ersten Gruppe
und finde in allen Dialogen der Früh¬
zeit bis zum „Gorgias“ die Bearbeitung |
eines in sich zusammenhängenden
Komplexes von Problemen, den Pro¬
blemen der Wissenschaftslehre,
zu dem Zwecke, die Philosophie als
eine selbständige Wissenschaft neben
und über den Einzelwissenschaften zu
4
begründen.
In dem Kapitel „Verteidigung
des Sokrates“ behandelt Wilamo¬
witz, außer „Apologie“ und „Kriton“,
die vier Dialoge „Laches“, „Lysis“*
„Charmides“, „Euthyphron“. Diese sechs
Schriften hat Platon nach Wilamowitz
verfaßt, um das Gedächtnis seines Leh¬
rers zu Ehren zu bringen. In den vier
letztgenannten wird Sokrates im Ver-
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
14
kefir mit jung und alt vorgeführt, um die
Vorwürfe der Anklage zu entkräften
und seine Unsträflichkeit nicht nur,
sondern auch seinen fördernden Ein¬
fluß auf alle anderen ins Licht zu set¬
zen. Es kam Platon hier viel weniger
darauf an, was Sokrates sagte, als wie
er war. Der Leser sollte die Überzeu¬
gung gewinnen, daß er die Jugend
nicht verdarb, sondern tauglicher zu
dem machte, was man von ihr im prak¬
tischen Leben erwartete. Platon schreibt
also diese Gespräche nicht als Philo¬
soph aus theoretischem Interesse, nicht
um das Wesen der Tugend aufzuklä¬
ren, sondern um Sokrates als Träger
aller Kardinaltugenden zu zeigen.
Ich meine, wenn das Platons Absicht
gewesen wäre, so hätte er diese Schrif¬
ten ganz anders anlegen müssen; mehr
nach Art jener Apologie des Sokrates,
mit der Xenophon seine „Denkwürdig¬
keiten“ beginnt. Nicht durch erdichtete
Gespräche, sondern nur durch Tatsa¬
chen, die er selbst als Augenzeuge ver¬
bürgte oder durch fremdes Zeugnis er¬
härtete, konnte er beweisen, daß Sokra¬
tes alle Tugenden besessen und betä¬
tigt hatte. Auch daß Sokrates die Ju¬
gend zu dem tauglich gemacht hatte,
was man von ihr im praktischen Le¬
hen erwartete, konnte nur durch Bei¬
spiele gezeigt werden. Wenn über¬
haupt die Frage nach dem Wesen der
Tugenden aufgeworfen und erörtert
wurde, so durfte, sollte Sokrates als ihr
Träger erwiesen werden, die Erörte¬
rung nicht ergebnislos bleiben. Denn
wenn der Leser am Schluß der Unter¬
suchung nicht mehr wußte, was Tap¬
ferkeit, was Besonnenheit, was Fröm¬
migkeit ist, wie konnte er gleichzei¬
tig die begründete Überzeugung hegen,
daß Sokrates diese Tugenden besessen
habe? Daß alle diese Gespräche mit
der Aporie enden und eine befriedi¬
gende Definition des gesuchten Be¬
griffs nicht gefunden wird, kann und
soll ebensowenig die Leser wie die
Gesprächspartner des Sokrates veran¬
lassen, sich von dem Logos ab und
der Person des Sokrates zuzuwenden,
zufrieden, daß man zwar nicht wissen
kann, was Tapferkeit ist, jedenfalls
aber Sokrates tapfer war, sondern die
Aporie soll den Leser von der Person
ab und dem Logos zuwenden, als Sta¬
chel in seinem Gemüt Zurückbleiben
und ihm keine Ruhe lassen, bis er den
Logos zu Ende gedacht hat. Auch das
spricht für meine Ansicht, daß in allen
diesen Gesprächen, im „Protagoras“,
„Laches", „Lysis“, „Charmides“, die
persönlichen Momente, auf die Wilamo¬
witz das Hauptgewicht legt, den Anfang,
die sachlichen den Schluß bilden. Wenn
Wilamowitz recht hätte, müßte es um¬
gekehrt sein. Denn der Schluß ist ent¬
scheidend für die Nachwirkung der
Schrift in der Seele des Lesers.
Am schlechtesten ist in Wilamowitz’
Darstellung der „Laches“ weggekom¬
men, dessen philosophischer Gehalt
überhaupt keiner Analyse gewürdigt
wird, während „Lysis", „Charmides“,
„Euthyphron“ im ersten Bande zwar
auch mehr von der persönlichen Seite
aufgefaßt werden, im zweiten Bande
aber Exkurse erhalten, die mehr auf
den Gedankengehalt eingehen. Es
würde zu viel Raum fordern, wenn ich
mich mit diesen Exkursen, die z. T.
gegen meine Interpretationen geschrie¬
ben sind, gründlich auseinandersetzen
wollte. Nur das möchte ich betonen,
daß sie mit der These von der apolo¬
getischen Absicht dieser Dialoge m. E.
nicht mehr ganz im Einklänge stehen.
Daß diese These nicht durchführbar
ist, zeigt sich auch schon im ersten
Bande, S. 194, wo gesagt wird, das
Theoretische hätte im „Lysisi“ und
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
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„Charmides“ nicht ohne Gewalt Unter¬
kunft gefunden, und S. 200, wo es
heißt, Platons Kämpfe um den eigenen
Glauben drängten sich in die Schrif¬
ten, die er zur Verteidigung des Sokra¬
tes schreibe. „Wenn sie eine Dishar¬
monie hineintragen, so entspricht es
seiner eigenen Stimmung.“ Die Dis¬
harmonie besteht m. E. nur zwischen
dem von Wilamowitz angenommenen
Hauptzweck dieser Gespräche und dem
philosophisch wichtigsten Teil ihres In¬
halts.
Als Platon den „Lysis“ und „Charmi¬
des“ schrieb, war er bereits durch be¬
griffliches Denken (nicht nur Gefühl
und Ahnung) zu der Überzeugung ge¬
langt, daß das absolut Gute (die Idee
des Guten) den Gegenstand des höch¬
sten Wissens bilden müsse, das allen
anderen Künsten und Wissenschaften,
die nur relative Güter schaffen wol¬
len, voranzuleuchten und die Wege zu
weisen berufen sei. Daß das Jigärov <pt-
Xov (das an sich, um seiner selbst willen
Liebe) im „Lysis" das Gute ist (und
zwar natürlich das an sich Gute), lese
ich nicht nur zwischen den Zeilen; es
ist 220 B ausgesprochen. Wir brauchen
nicht „Symposion“ und „Staat“, um es
zu verstehen. Die Einführung des srpörov
(plXov bildet den Höhepunkt des .Ly¬
sis“, dessen ganzer Gedankengang mit
großer Kunst auf sie angelegt ist. Die
Beweisführung, die darin gipfelt, daß
nur das wirklich lieb ist, was um sei¬
ner selbst willen geliebt wird, also
nicht nur als Mittel zur Aneignung
eines Gutes oder zur Abwehr eines
Übels, ist nüchtern logisch. Man sieht,
daß sie dem Verfasser selbst als stich¬
haltig gilt. Mit welchem Rechte also
sagt Wilamowitz: „Er ist sich im Ge¬
fühle bewußt, was das wahre Ziel
der Philosophie, des Strebens nach
Weisheit, sein muß, aber es ist noch
Gefühl, Ahnen, Fragen" und mit
welchem Rechte vergleicht Wilamowitz
diese Partie des „Lysis“ mit wallenden
Nebeln, durch welche hier und da ein
Lichtstrahl zuckt? Mir scheint gerade
die schlichte Nüchternheit, das Fehlen
wärmeren Gefühlsausdrucks, wo man
ihn erwarten sollte, im Gegensatz zu
dem hohen Pathos der späteren Schrif¬
ten für den jungen Platon charakteri¬
stisch. — Weil der „Lysis“ diese Hin¬
deutung auf die Idee des Guten ent¬
hält, ist seine Datierung entscheidend
für die gesamte Auffassung von Pla¬
tons Jugendschriften. Mit dem frühen
Ansatz des „Lysis“ ist die frühe Kon¬
zeption wenn nicht der Ideenlehre über¬
haupt, so doch der Idee des Guten als
des spezifischen Gegenstandes der
höchsten Wissenschaft gegeben.
Eine ähnliche Bedeutung hat der
„Laches“ für die Frage, wann Pla¬
ton auf den Gedanken kam, die Unter¬
scheidung eines vernünftigen und eines
vernunftlosen Seelenteils für den Aus¬
bau seiner Tugendlehre zu verwerten.
Nur scheinbar bleibt im „Laches“ das
Suchen nach dem Begriff der Tapfer¬
keit ergebnislos. Wer die in den beiden
Teilen der Untersuchung über die Tap- ■/
ferkeit (dem „Lachesgespräch“ und dem
„Nikiasgespräch“) angesponnenen Fä¬
den nur ein wenig weiterspinnt und
miteinander verflicht — wozu der Par¬
allelismus dieser koordinierten Kompo¬
sitionsglieder auffordert —, der kommt
notwendig zu dem Ergebnis, daß Tap¬
ferkeit das Ausharrungsvermögen ist,
mittels dessen wir gegenüber allen Af¬
fekthemmungen an dem von der Ver¬
nunft als gut und recht Erkannten fest-
halten. Das „Lachesgespräch“ ergibt
als Wesen der Tapferkeit ein einsich¬
tiges Ausharren (<ppdvi/M>g xaQzegCa), aber
welcher Art die Einsicht ist, die durch
ihre Verbindung mit dem Ausharren
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
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dieses zur Tapferkeit macht, bleibt
zweifelhaft; es zeigt sich nur, daß kei¬
nesfalls dem technischen Wissen in den
Einzelwissenschaften diese Bedeutung
zukommt. Das „Nikiasgespräch“ ergibt
als Wesen der Tapferkeit das Wissen
von dem Furchtbaren und Nichtfurcht¬
baren. Dies ist aber nur ein von den
anderen untrennbarer Teil des Wissens
vom Guten und Schlechten, welches
das Wesen der Tugend überhaupt aus¬
macht. Hier bleibt also der artbildende
Unterschied der Tapferkeit von den an¬
deren Einzeltugenden noch zu bestim¬
men. Die Ergebnisse der beiden Teile
brauchen nur zusammengefügt zu wer¬
den wie die Hälften eines durchge¬
schnittenen Apfels, um die Definition
der Tapferkeit zu gewinnen, die, wie
wir aus dem „Staat“ wissen, Platon in
der Zeit seiner Reife gebilligt hat. Es
ist also sicher, daß Platon schon, als
er den „Laches“ schrieb, diese Defini¬
tion billigte. Denn ein anderer Zweck
der Koordinierung beider Gesprächs¬
teile mit ihren Teilergebnissen als dem
Leser Verbindung dieser Teilergebnisse
zum Gesamtergebnis nahezulegen ist
undenkbar. Wußte aber Platon schon
damals, daß bei der Tugend außer dem
Wissen ein vernunftloser Faktor mit¬
wirkt, so muß wenigstens der Keim
seiner späteren Lehre von den Seelen¬
teilen schon damals in ihm gewesen
sein. Ich meine, dieses Ergebnis aus der
Interpretation des „Laches“ ist geeig¬
net, den entsprechenden Befund im „Ly¬
sis" zu bestätigen.
Nach Wilamowitz trat die entschei¬
dende Wendung in Platons philosophi¬
scher Entwicklung erst ein, als er den
„Gorgias“ schrieb. Die seit Sokrates’
Tod vor dem „Gorgias“ verfaßten Ge¬
spräche hatte der Zweck, den Sokrates
zu verteidigen, erzeugt. Zu diesem
Zweck hatte Platon den Sokrates sich
über Gegenstände verbreiten lassen,
die ihm wirklich vertraut gewesen wa¬
ren. „Mit diesen ethischen Problemen
beschäftigte sich daher Platons Den¬
ken. Es regte sich in ihm der Logiker.
Wie Sokrates freute er sich am Suchen,
am Disputieren; aber immer weniger
genügte es ihm. Er fragte nach dem
Inhalte, dem Ziele des Lebens. Das
Ziel hatte ihm der sterbende Sokrates
gezeigt, aber leidend. Er war jung, er
fühlte die Kraft und Lust zu handeln.
Dazu mußte er mit sich selbst ins
reine kommen, wissen, was er wollte,
auch was er im Leben werden wollte;
stand er doch in den Dreißigern. So¬
lange er schwankte und suchte,
konnte er nur Kleinigkeiten her¬
vorbringen. Endlich hatte er gefun¬
den, sich entschieden. — Er schrieb
den .Gorgias'.“ — Dies ist mit Wilamo¬
witz’ eigenen Worten die Entwicklung
Platons, die zum „Gorgias“ hinüber¬
führt. Wir sollen also glauben, daß
Platon nicht deswegen den Men¬
schen Sokrates verehrte, weil er für
sein eigenes sachliches Streben nach
Erkenntnis an ihm einen Führer gefun¬
den hatte, sondern umgekehrt erst in¬
folge seiner Verehrung für den Men¬
schen, weil er den toten Meister ver¬
teidigen wollte, nach dessen Tode zur
Beschäftigung mit ethischen Problemen
gelangte. Das Suchen und Disputie¬
ren, an dem sich Platon im „Laches“,
„Lysis“, „Charmides“ erfreut, soll zu dem
Ziel und Inhalt seines Lebens noch gar
keine Beziehung gehabt und ihm eben¬
deshalb immer weniger genügt haben.
Erst aus diesem Nichtgenügen soll bei
ihm, der schon in den Dreißigern stand,
die Frage nach dem Ziel und Inhalt
des Lebens entstanden sein. Nun erst
soll, weil er die Kraft und Lust zu
handeln in sich fühlte, in ihm das
Bedürfnis entstanden sein, über die
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
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Wahl eines praktischen Lebensberufs
mit sich selbst ins reine zu kommen.
Dialoge wie „Laches“, „Lysis“, „Char-
mides“, „Euthyphron“ sollen für Klei¬
nigkeiten gelten; es soll der Entschul¬
digung bedürfen, daß Platon bisher nur
solche Kleinigkeiten schuf, und die Ent¬
schuldigung soll darin gefunden werden,
daß er bisher schwankte und ver¬
geblich suchte. Die Aporie, mit der
diese Schriften regelmäßig schließen,
soll also Platons eigene Verlegenheit
sein und die Vergeblichkeit seines Su-
chens, sein zielloses Schwanken bewei¬
sen. Die eigentliche philosophische Ent¬
wicklung Platons soll erst in der Zwi¬
schenzeit zwischen dem „Euthyphron"
und dem „Gorgias“ sowohl begonnen
wie sich vollendet haben, ohne sich in
irgendeinem Werke niederzuschlagen;
und dann soll Platon plötzlich im „Gor¬
gias“ mit einer fertigen Lebensanschau¬
ung auf den Plan getreten sein und im
Kampf für diese der Heimat abgesagt
und die ganze Welt in die Schranken
gefordert haben.
Auch Wilamowitz nimmt an, daß der
Tod des Sokrates das für Platons gan¬
zes Leben entscheidende Erlebnis war
und daß die Knospe des Glaubens,
zu dem er sich im „Gorgias“ bekennt,
schon als Sokrates starb, sich in ihm
gebildet habe. „Dann erschloß sich die
Blüte langsam unter der Sonne seines
Sinnens. — Bis zum äußersten hatte
er gesonnen, bis er den Sinn der Welt,
der er absagte, in seiner Einheit er¬
faßt hatte.“ Ist es wohl, wenn dies
richtig ist, wahrscheinlich, daß von all
diesem Sinnen und von all diesem
„Ringen um eine Weltanschauung“ in
den zahlreichen Schriften Platons aus
den zehn auf Sokrates’ Tod folgenden
Jahren nichts sollte zu finden sein?
Ist es glaublich, daß der Inhalt dieser
Schriften zu der neuen „Weltanschau-
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ung“, die im „Gorgias“ verkündet wird,
gar keine Beziehung haben sollte? So
stellt es Wilamowitz dar, wenn er sagt:
Sokrates hatte ihm den Mut gegeben,
in guten Stunden die Spottlust und
das dramatische Talent zu üben. Dem
Toten zu Ehren hatte er dieses schrift¬
stellerische Spiel fortgesetzt. Die
Kunstform — beherrscht er mit Mei¬
sterschaft. Aber er hatte noch kaum
einen Gedanken bis zu Ende gedacht.“
Ich sehe in den Dialogen vor dem
„Gorgias“ mehr als ein schriftstelle¬
risches Spiel. Wenn Sokrates, wie Wi¬
lamowitz sagt, dem Platon durch sei¬
nen Tod das sittliche Ziel gezeigt, aber
das Wissen nicht verliehen hatte, das
er verlangte, so kann sich dieser, wenn
er eine philosophische Natur war, nach
Sokrates’ Tode nicht mit schriftstelle¬
rischen Spielen begnügt und zehn Jahre
lang darauf verzichtet haben, seine Ge¬
danken zu Ende zu denken.
Ich freue mich, daß die Reihenfolge
dieser Dialoge bei Wilamowitz dieselbe
ist, die sich auch mir aus stilistischen
und sachlichen Gründen als die rieh-
/
tige ergeben hat, und daß wir auch
darin Zusammentreffen, den Dialog
über die Gerechtigkeit, der jetzt das
erste Buch des „Staates“ bildet, für
eine vor dem „Gorgias“ verfaßte Ju¬
gendschrift Platons zu halten. Nur in¬
sofern besteht noch eine Meinungsver¬
schiedenheit zwischen uns, als Wilamo¬
witz sich diesen Dialog, den„Thrasyma-
chos“, als letzten der Reihe, unmittel¬
bar vor dem „Gorgias“ geschrieben
denkt, während ich ihn viel früher,
zwischen „Laches“ und „Lysis“, an¬
setze. Außerdem hat mich die Anset¬
zung des „Euthydemos“ nach dem „Me-
non“ nicht überzeugt. Ich halte ihn für
den letzten der Dialoge vor dem „Gor¬
gias“ und finde in ihm (in dem Ge¬
spräch des Sokrates mit Kleinias) die
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
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Behandlung der Einsicht (< pQÖvrjeig ), die,
nachdem Tapferkeit, Gerechtigkeit, Be¬
sonnenheit, Frömmigkeit in vier Dia¬
logen behandelt waren, nicht fehlen
durfte, um die Reihe der Kardinaltu¬
genden abzuschließen. Daß im „Euthy-
demos" die Frage nach der Lehrbar¬
keit der Tugend, die das Thema des
„Menon" bildet, beiseitegeschoben wird,
indem Kleinias auch ohne Beweis von
ihrer Lehrbarkeit überzeugt zu sein er¬
klärt, beweist nicht die Priorität des
„Menon“. Denn da im „Euthydem“ das
tugendbegründende Wissen trotz alles
Suchens nicht gefunden wird, so bleibt
dieses Zugeständnis des Kleinias ohne
Bedeutung für den Gedankengang. Die
Priorität des „Euthydem“ wird m. E.
erwiesen durch Vergleichung der Güter¬
lehre im Protreptikos des „Euthydem“
S. 279 ff. mit der ganz ähnlichen Partie
im „Menon“ S. 87 f., die sich als eine
schon Bekanntes kürzende, zugleich aber
weiterführende und vertiefende Rekapi¬
tulation der Euthydemstelle erweisen
läßt.
Auf den „Gorgias“ folgte bald die
große Reise Platons nach Ägypten und
Kyrene, nach Italien zu den Pytha-
goreern und nach Sizilien an den Hof
Dionysios’ I. von Syrakus. Spätestens
im Frühjahr 390 habe Platon sie ange¬
treten, 388 sei er heimgekehrt und habe
nun seine Schule, die Akademie, be¬
gründet. Die ersten Schriften nach der
Heimkehr seien „Menexenos“, „Me¬
non“, „Euthydemos“ und ? ,Kratylos“.
Im „Menexenos“ und „Menon“ bekunde
sich das Streben des nun in Athen als
Schulhaupt wirkenden Philosophen, die
schroffe Absage des „Gorgias“ zu mil¬
dern und wieder Sympathien für sich
zu gewinnen. Im „Menon“ und im „Kra-
tylos“ bekenne sich Platon zum ersten
Male zu der neuen Philosophie, die
erst während der Reise, unter dem Ein¬
fluß seiner pythagoreischen Freunde,
zur Reife gekommen war: Unsterblich¬
keit der Seele, Anamnesis, Ideenlehre.
Der „Menon“ sei gewissermaßen das
Antrittsprogramm seiner Lehrtätigkeit
in der Akademie, „Euthydem“ und
„Kratylos“ Abrechnung mit falschen
Forschungsmethoden, an deren Stelle
er seine Dialektik setzen will.
Platon ging nun an die Ausarbeitung
seines großen Hauptwerkes über den
Staat, in dem er durch seine Philo¬
sophie die Erziehung und durch die
Erziehung Staat und Gesellschaft zu
reformieren unternimmt. In diesem
Werke wurde zwar Sokrates als Ge¬
sprächsleiter beibehalten, aber es ver¬
schwand hier notwendig jede Ähnlich¬
keit mit den wirklichen Zügen des So¬
krates, der nun die Lehren Platons vor¬
trug. Darum wollte Platon zuvor
noch, gewissermaßen zum Abschied,
ein verklärendes Vollbild seines
Lehrers geben, das wahrste und
treueste Porträt des Sokrates schaffen
und daneben doch diesem selben So¬
krates seine eigensten Gedanken in den
Mund legen. Dies geschieht in zwei
dem „Staat“ vorausgeschickten Dialo¬
gen, „Phaidon“ und „Symposion“, die
sich zueinander verhalten wie Tra¬
gödie und Komödie und, auf gegen¬
seitige Ergänzung angelegt, ein Voll¬
bild des Sokrates zustande bringen.
„Eoce quomodo moritur iustus“ zeigt
der „Phaidon“. Im „Symposion“ sehen
wir, wie der Weise als Mensch unter
Menschen zu leben versteht. So findet
Wilamowitz den hauptsächlichen Da¬
seinsgrund auch noch dieser Haupt¬
werke der Reifezeit in der persönlichen
und künstlerischen, nicht in der philo¬
sophischen Absicht. Daß der „Phai¬
don" auch geschrieben ist, um die
Unsterblichkeit der Seele wissenschaft¬
lich zu beweisen, will er natürlich nicht
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
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bestreiten. Aber er betont mehr, daß
durch die Unsterblichkeitsbeweise der
„Phaidon“ ein Buch der Erbauung und
des Trostes auch für Leser, die eine
andere Religion oder Philosophie be¬
kannten, geworden ist, als daß hier
ein Grundpfeiler der platonischen Lehre
errichtet wird. Vom „Symposion“ sagt
er: „Philosophie ist nicht wesentlich
anders darin als in Schillers oder Höl¬
derlins Gedichten.“ Platon macht von
der Freiheit Gebrauch, in dieser Dich¬
tung Gefühle und Ahnungen laut
werden zu lassen, für die in den wis¬
senschaftlichen Debatten kein Raum ist;
aber Spiel bleibt auch dies, denn es
fehlt die ernste Wissenschaft mit ihrer
Dialektik. Wichtig ist namentlich,
daß Wilamowitz auch in den Lehren,
die Sokrates von Diotima gehört ha¬
ben will, nur ein Spiel mit Ahnungen
und Gefühlen findet, hinter dem keine
ernsthafte wissenschaftliche Überzeu¬
gung Platons steckt. In dem Exkurs
„Diotima“ im zweiten Bande wird dies
genauer ausgeführt. Es ist unbestreit¬
bar, daß Diotimas Vortrag über den
philosophischen Eros nicht die Form
dialektischer Überführung hat, die dem
Platon als die allein streng wissen¬
schaftliche gilt, ferner daß Diotima, in¬
dem sie den Eros als geistigen Zeu¬
gungstrieb darstellt, sich einer Bil¬
dersprache bedient, die seelische Er¬
lebnisse durch Analogien aus dem phy¬
sischen Leben veranschaulicht und daß
man sich dieser Bildlichkeit immer be¬
wußt bleiben muß. Dennoch bildet m.E.
die Erotik einen unentbehrlichen Be¬
standteil der platonischen Philosophie.
Es ist ein Beweis der philosophischen
Größe Platons, daß er, obgleich vom
sokratischen Intellektualismus ausge¬
gangen, bei der Bestimmung des We¬
sens und der Weltstellung der Seele
nicht nur ihre Erkenntnistätigkeit, son-
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dem auch ihr Begehren und Wollen
berücksichtigt. Der Eros im weitesten
Sinne ist nichts anderes als die Seele
selbst als begehrendes und wollendes
Wesen. Wie der Dämon Eros zwischen
Menschen und Göttern, zwischen der
vergänglichen und der ewigen Welt,
aus jener zu dieser emporstrebend die
Brücke schlägt, so hat auch die Seele
selbst in der platonischen Philosophie
eine Mittelstellung zwischen beiden
Welten. Mit ihren Wurzeln tief einge¬
senkt in die Sinnlichkeit des leiblichen
Lebens, reckt sie ihren Wipfel empor
in die Sphäre des Geistes und der Ver¬
nunft. Der Stufenleiter Wahrnehmung,
Vorstellung, Wissen, die sie im Erken¬
nen durchläuft, entspricht eine ähn¬
liche Stufenleiter des Begehrens. In sei¬
nen niedrigsten wie in seinen höchsten
Formen ist der Eros immer ein und
derselbe, denn er kann nie etwas an¬
deres als das Gute und Schöne wol¬
len. Aber dieses stellt sich je nach der
Entwicklungsstufe der Seele und des
Eros in trüberen oder reineren Formen
dar. Unmöglich kann sich der Eros der
Seele mit einer niederen Erscheinungs¬
form des Guten und Schönen dauernd
zufriedengeben. Er treibt die Seele zu
immer höheren Stufen desselben empor,
indem sie sich immer vollständiger und
deutlicher der einst geschauten Idee
erinnert. Diese auf Beobachtung eige¬
nen und fremden Seelenlebens, nicht
auf bloßem Ahnen und «Fühlen be¬
ruhende Schilderung des menschlichen
Begehrens und Wollens hat, obgleich
in dichterischer Form vorgetragen,
einen großen wissenschaftlichen Wahr¬
heitsgehalt und eine große Bedeutung
für die platonische Philosophie. Es
würde zu viel Raum beanspruchen,
wenn ich durch Vergleichung mit an¬
deren Schriften herausschälen wollte,
was in dieser Darstellung als Platons
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ernsthafte wissenschaftliche Überzeu¬
gung gelten muß. Ich kann hier nur
andeuten, daß Wilamowitz der philo¬
sophischen Bedeutung dieser Stelle m.
E. nicht ganz gerecht wird. Im besonde¬
ren möchte ich seiner Ansicht entge¬
gentreten, die er nicht nur hier, son¬
dern auch in der Erklärung des sech¬
sten und siebenten Buches der „Repu¬
blik" verficht: nach Platons eigener Auf¬
fassung könne man auf dem Wege der
Wissenschaft hoch und immer höher
steigen, aber niemals bis zu ihrem
Ziele, der Anschauung der Idee des
Guten und Schönen, und wenn wir an
der Grenze der Wissenschaft angelangt
sind, könne uns zu diesem jenseits
ihrer Grenze gelegenen Ziele nur der
Fittich der Poesie und musischer Wahn¬
sinn emportragen. Ich finde weder in
der eben besprochenen Stelle des „Sym¬
posion“ noch in der Partie des „Staa¬
tes“, die von der Idee des Guten han¬
delt, einen Beweis dafür, daß der letzte
Schritt zu ihr auf andere Weise getan
werde als die früheren: vielmehr besteht
er, ebenso wie jene, in dem dialekti¬
schen Zusammenschauen des Einen im
Vielen, welches Wiedererinnerung ist.
Wenn Platon sagt, daß das Gute noch
jenseits des Wissens und der Wahrheit,
des Denkens und des Seins liegt, so will
er es damit nur als eine Wesenheit von
noch höherer Dignität und noch größe¬
rer Ursprünglichkeit als Wissen und
Wahrheit bezeichnen, nicht aber als
etwas, das niemals Gegenstand eines
Denkens und Wissens werden kann.
Hätte er gemeint, daß es nur im „gött¬
lichen Wahnsinn“ erfaßt werden könnte,
dann hätte er nicht die Aneignung dieses
Lehrgegenstandes als unentbehrlich für
die Staatslenker und als höchstes Ziel
ihrer gesamten Erziehung hinstellen
können. Denn es ist kein ursächlicher
Zusammenhang denkbar zwischen der
durch den ganzen Bildungsgang er¬
worbenen dialektischen Fähigkeit und
einer göttlichen Inspiration, die etwas
ganz anderes ist als dialektische Syn¬
opsis.
Der „Phaidros“ ist, nach Wilamo¬
witz, unmittelbar nach dem „Staat“ ge¬
schrieben, nicht als philosophische Lehr¬
schrift, sondern aus reiner Freude am
künstlerischen Schaffen, aus einer be¬
sonderen Stimmung heraus, die Wi¬
lamowitz durch die Kapitelüberschrift
„Ein glücklicher Sommertag“ andeu¬
tet und aus der Nachempfindung des
so mannigfaltige Bestandteile enthal¬
tenden und in der Stimmung doch ein¬
heitlichen Werkes zu schildern sucht.
Selbstbeobachtung des eigenen dichte¬
rischen Schaffenstriebes, der im Wi¬
derspruch mit seiner Verwerfung al¬
ler mimetischen Poesie in seinem See¬
lenleben und sogar in seiner Philo¬
sophie von jeher eine so große Rolle
gespielt hatte, Naturstimmung und ero¬
tische Stimmungen im Verkehr mit sei¬
nen Schülern — „all dies, was in sei¬
ner Seele vorhanden war, schoß in
einem glücklichen Moment in eins zu¬
sammen, in ein Gefühl zugleich und
ein Wissen. Das mußte er sich von der
Seele schreiben, und so entstand das
neue Werk.“ Diese Ansicht über die
Entstehung des „Phaidros“, die ihn un¬
gewollt der Seele des Verfassers ent¬
strömen läßt und ihn selbst zu einem
Exempel der in ihm gegebenen Schil¬
derung dichterischen Schaffens macht,
stimmt, ich muß es bekennen, nicht zu
dem Eindruck, den mir dieses Werk
macht. Ich glaube eher bewußten
Kunstverstand und kluge Berechnung
in seiner Anlage zu entdecken. Die
Lobrede auf den Eros, die zu den im
„Symposion“ enthaltenen eine weitere
nachträgt und die Rede der Diotima
dort an Glanz der Darstellung und an
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Hans v. Arnim, Die Platonbiographie Ulrichs v. Wilamowitz
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Reichtum und Tiefe der Gedanken noch
überbietet, wird im Dialog als Para¬
digma einer höchsten Rhetorik be¬
nützt, die dem Philosophen Vorbehal¬
ten ist, und in den Zusammenhang
einer Erörterung des Verhältnisses zwi¬
schen Philosophie einerseits, Rede¬
kunst und Schriftstellerei andererseits
hineingestellt. Aber es ist sehr unwahr¬
scheinlich, daß sie zu diesem Zweck ur¬
sprünglich verfaßt ist. Sie dürfte aus
dem Bedürfnis Platons entstanden sein,
was er in der Diotimarede versucht
hatte, nunmehr auf Grund der im
„Phaidon“ und „Staat“ erreichten wei¬
teren Ausgestaltung seiner Seelen- und
Ideenlehre vollkommener zu leisten. Die
Palinodie ist m. E. der älteste Be¬
standteil des „Phaidros“ und war ur¬
sprünglich um ihrer selbst willen da.
Da sich aber Platon auch diesmal, wie
beim Epitaphios, nicht entschließen
konnte, auf die Kunstform des sokrati-
schen Dialogs zu verzichten und die
Rede ohne Umschweife als Rede zu
veröffentlichen, so hat er eine drama¬
tische Handlung und Situation erfun¬
den, die es ermöglichte, dem Sokrates
diese seinem Wesen fremde Rede in
den Mund zu legen und daneben noch
auszudrücken, in welchem Gegensatz
zugleich und inneren Zusammenhang
eine solche mythische und rhetorische
Darstellung mit seiner, Platons, Philo¬
sophie stünde. Er suchte sich als Ge¬
genstück zu seiner Rede eine densel¬
ben Gegenstand behandelnde eines an¬
gesehenen Vertreters der reinen, von
Philosophie ganz unberührten Rede¬
kunst, den Erotikos des Lysias. Da er
sowohl die formal-logische wie die in¬
haltliche Überlegenheit der philosophi¬
schen über die unphilosophische Rhe¬
torik veranschaulichen wollte, schob er
zwischen beide Reden noch eine dritte
(die erste des Sokrates) ein, die mit
der lysianischen zwar den Grundge¬
danken teilt, diesen Grundgedanken
aber, statt wie Lysias in beliebiger
Folge Enthymeme aneinanderzureihen,
nach einer streng logischen Disposi¬
tion entwickelt. Um die Palinodie hal¬
ten zu können, mußte Sokrates seiner
Nüchternheit entrückt und von den
Nymphen begeistert werden. Daraus er¬
gab sich die Szenerie, der Spaziergang
in die Landschaft. Daß Platon selbst
durch Naturstiminung oder auch durch
erotische Stimmungen in den Seelen¬
zustand versetzt wurde, in dem ihm
solche Reden gelangen, liegt darin
nicht. Der Eros als ein unbewußter
Faktor der philosophischen Erkenntnis
hat auch in Platons Seele gewirkt, aber
daß auch der von den Musen stam¬
mende Wahnsinn, von dem er 245 a
spricht und der von dem erotischen
ganz verschieden ist, ihn beim Schaf¬
fen eines Werkes wie des „Phaidros“
beseelt habe, hat er m. E. nicht sagen
wollen.
Der „Phaidros“ ist das letzte Werk
Platons, das sich der vorwiegend per¬
sönlichen und literarisch-ästhetischen
Betrachtungsweise des Biographen fügt.
„Parmenides“ und „Theaetet“, die dem
„Phaidros“ zeitlich nahestehen, behan¬
delt Wilamowitz in dem Kapitel „Nur
noch Lehrer“, obgleich er wenigstens
im ersten Teil des „Theaetet“ noch
einen letzten Anlauf zu künstlerischer
Gestaltung findet, der freilich im zwei¬
ten Teil versage, weil Platon das Werk
wegen der bevorstehenden zweiten sizi-
lischen Reise (Frühjahr 366) eilfertig
zu Ende geführt habe. Unter den Al-
terswerken,„Sophistes“, „Politikos“, „Ti-
maios“, „Philebos“, „Gesetzen“, kann
keines, so groß auch hier die auf den Stil
verwendete Sorgfalt sein mag, haupt¬
sächlich und in erster Linie aus dichte¬
rischem Schaffensbedürfnis und persön-
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30
Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
lichem Erleben des Verfassers abge¬
leitet werden. Der „Theaetet" enthält
eine Episode, in der uns der Philo¬
soph, mehr als an irgendeiner ande¬
ren Stelle seiner Werke, einen Einblick
in sein eigenes Innere verstattet. Der
„Politikos“ enthält einen Mythos, und
mythisch in gewissem Sinne ist der
ganze „Timaios“. Trotzdem sind alle
diese Schriften zweifellos Lehrschrif¬
ten eines Philosophen, auch für Wi-
lamowitz. —
Die Absicht dieser Zeilen konnte nur
sein, die Grundauffassung zu kenn¬
zeichnen, von der Wilamowitz’ Platon¬
buch getragen ist, und zu dieser Stel¬
lung zu nehmen, nicht aber das Werk
als Ganzes zu würdigen und alles Neue,
Wertvolle und Schöne, das es enthält,
anzuführen. Einer solchen Anpreisung
bedarf ein Werk nicht, dem schon der
Name seines Verfassers den Weg in die
weitesten Leserkreise bahnt und das
schon vor seinem Erscheinen mit Span¬
nung erwartet wurde. Noch nie hat die¬
sen herrlichen Stoff ein Gelehrter bear¬
beitet, der dazu eine größere Kenntnis
des gesamten griechischen Altertums
und vollkommenere Beherrschung der
Methoden geschichtlicher und philologi¬
scher Kritik mitbrachte und besser für
die Aufgabe gerüstet war, den Menschen
und Schriftsteller Platon im Zusammen¬
hang seiner Zeit und seines Volkes le¬
bensvoll zu schildern. Auch wer vom
rein philosophiegeschichtlichen Stand¬
punkt aus Platon betrachtet, kann die
Kenntnis der Umwelt, in der er gelebt
hat, nicht entbehren. Von der sprach¬
lichen, schriftstellerischen und dramati¬
schen Kunst Platons wird der des Grie¬
chischen unkundige Leser aus den ein¬
gelegten Ubersetzungsproben einen Ein¬
druck gewinnen. Der strenge Philolog
wird die reichlichen Beiträge zur Kritik
des Textes im zweiten Bande willkom¬
men heißen, und fast alle Zweige der
Platonforschung werden aus der Nöti¬
gung, sich mit diesem fertigen Gesamt¬
bild Platons irgendwie auseinanderzu¬
setzen, frische Anregungen schöpfen.
George Meredith in seinen Briefen.
Von Philipp Aronstein.
Der englische Kritiker Matthew Ar¬
nold sagt in einem seiner Essays, daß
die große Blüte der englischen Poesie
am Anfänge des 19. Jahrhunderts, die
Dichtung von Byron, Wordsworth, Shel¬
ley und Keats, deshalb nicht eine ge¬
nügende Deutung des Lebens gebe, weil
sie nicht genug gewußt habe, weil es
ihr und ihren Vertretern an umfassen¬
der Bildung gefehlt habe. Dieser Man¬
gel haftet der ganzen englischen Lite¬
ratur von Shakespeare bis auf unsere
Zeit an. Sie hat die Fehler ihrer Vor¬
züge. Ist sie, mit der deutschen Litera¬
tur verglichen, auf der einen Seite ur¬
sprünglicher, unmittelbarer, den Quel¬
len des Lebens näher, so ist sie andrer¬
seits in ihrem Ausblick beschränkter,
diesseitiger, weniger nachdenklich. Es
fehlt den englischen Dichtern an Welt¬
anschauung, ein Wort, für das ja auch
die englische Sprache keinen entspre¬
chenden Ausdruck hat Deshalb enttäu¬
schen auch die Briefsammlungen der
meisten englischen Schriftsteller. Das
gilt z. B. von den Briefen Byrons wie
denen von Keats, von denen Macaulays
wie von Dickens. Sie sind unschätzbar
als autobiographische Dokumente, aber
hierüber geht ihre Bedeutung nicht hin-
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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
32
aus. Ein ästhetisches Erbauungsbuch wie
etwa den Briefwechsel zwischen Goethe
und Schiller oder die Briefe Wilhelm
von Humboldts wird man in der eng¬
lischen Literatur vergeblich suchen.
Eine Ausnahme hiervon bilden die
Briefe von George Meredith, die im
Jahre 1912, also drei Jahre nach dem
Tode des Dichters, von seinem Sohne
herausgegeben worden sind. Die Samm¬
lung umfaßt zwei Bände, ist aber nach
dem Eingeständnisse des Herausgebers
nichts weniger als vollständig. Mere¬
dith besaß einen sehr großen Freun¬
deskreis, mit dem er, da er einsam
auf dem Lande lebte, brieflichen Ver¬
kehr unterhielt. Derselbe umfaßt eine
ganze Reihe bedeutender Personen,
Dichter und Schriftsteller, wie Dante
Gabriel Rossetti, Algernon Swinburne,
Robert Louis Stevenson, Thomas
Hardy, W. E. Henley, James Thomson
u. a., Staatsmänner und Politiker wie
John Morley und Lord Haldane, Ge¬
lehrte wie Leslie Stephen und Sir Fre-
derick Pollock, Journalisten wie Frede-
rick Greenwood, Fr. C.Burnand, Militärs
wie den Admiral Maxse und den Gene¬
ral Brackenbury u.v.a. Manche von die¬
sen Männern wie Rossetti und Lord Hal¬
dane erscheinen überhaupt nicht in die¬
ser Sammlung, manche wie Swinburne
nur selten, und von späteren Veröffent¬
lichungen dürfen wir wohl noch man¬
chen wertvollen Nachtrag erwarten.
Aber so, wie sie sind, geben uns die
Briefe ein Bild von dem Leben und den
Anschauungen eines Mannes, mit dem
sich zu beschäftigen eine Erbauung und
eine Erhöhung ist; eines wahrhaften
Weisen, dessen Leben, Schaffen und
Denken eine harmonische, in sich ge¬
schlossene Einheit bilden.
Merediths Leben war das eines
Schriftstellers. Seine Erfahrungen und
Erlebnisse waren innerlicher, geistiger
Art. Aber er hat doch in seinem langen
Leben Leid und Freude reichlich erfah¬
ren. Als die Briefe regelmäßig beginnen,
etwa im Jahre 1861 — einige wenige
gehen ihnen voran—, lebte Meredith mit
seinem kleinen Sohne in einem Land¬
häuschen bei dem Dorfe Esher in Sur-
rey, seit 1858 getrennt von seiner Frau,
mit der er seit 1849 verheiratet gewesen
war. Er war damals 33 Jahre alt und
stand auf der Höhe seiner Kraft. Aber
sein Name war noch sehr wenig be¬
kannt. Er hatte einen Band Gedichte,
mehrere kleine Prosaerzählungen und
zwei große Romane veröffentlicht, aber
der Erfolg kam noch nicht. Die Kritik
zeigte sich im allgemeinen abweisend
und spröde, und auch das Publikum
fand lange keinen Geschmack an seinen
Schriften. Es gab Ausnahmen, und diese
Ausnahmen sowohl unter den Kritikern
als den Lesern gehörten den urteils¬
fähigsten Kreisen, denen der Schriftstel¬
ler, Dichter und Gelehrten und sonst
durch Geist und Stellung hervorragen¬
den Männern an. Das hinderte aber
nicht, daß Meredith gezwungen war, ne¬
ben der künstlerischen Tätigkeit für den
Unterhalt zu arbeiten. Er schrieb für
Zeitungen und war literarischer Berater,
sog. „Leser“ der großen Verlagsfirma
Chapman & Hall, als welcher er meh¬
rere Tage in der Woche in London ar¬
beiten mußte. Es war und blieb noch
jahrzehntelang sein Schicksal, zu sehen,
wie Zeitgenossen, denen er sich mehr
als gewachsen fühlte, sich im Ruhme
sonnten, während er im Schatten blieb,
wie jüngere Leute, die er selbst geför¬
dert hatte, und die zu ihm als Meister
emporschauten, Swinburne, Hardy, Ste¬
venson, Henley u. a., im Triumph die
Straße des Ruhmes zogen, während er
selbst „über harte, gefrorene, steinige
Wege mühsam vorwärts ging“.
Nie aber verlor er deshalb den Mut.
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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
34
Wohl schreibt er einmal an eine Freun¬
din (1. Dezember 1863): „Der Kampf ist
hart, wenn man ihn ganz allein kämpft.
Und mir von Zeit zu Zeit wache ich au«
einer dunkleren Welt auf.“ Aber er
kämpft ihn tapfer für sich und seinen
Sohn Arthur, an dem er mit innigster
Liebe hängt und für den er mit rühren¬
der Hingebung sorgt. Neuer Sonnen¬
schein kommt in sein Leben durch eine
starke Liebe, die die Grundlage einer
zweiten und diesmal sehr glücklichen
Verbindung wird, seiner im Jahre 1864
geschlossenen Ehe mit Marie Vulliamy,
einer jungen Dame französischer Her¬
kunft. Mächtig ergreift die Leiden¬
schaft den 36 jährigen Mann. „Wenn ihre
Hand in der meinigen ruht, so scheint
die Welt den Atem zu halten und die
Sonne still zu stehen. Ich glaube die
Ewigkeit zu fassen. Ich liebe sie“, schreibt
er an seinen Freund Maxse (8. Juni 1864).
Bis zum September 1885, wo der Tod
ihm die Gattin entriß, lebte Meredith in
glücklicher Ehe, der zwei Kinder ent¬
sprossen. Zwar blieb er auch jetzt nicht
von Leid verschont. Sein ältester Sohn
Arthur, der sich nach seiner neuen Ehe
ihm entfremdet hatte, starb im Jahre
1890, aber an seinen beiden Kindern aus
zweiter Ehe, einem Sohn, dem Heraus¬
geber dieser Briefe, und einer Tochter,
hatte er alle Freude und genoß als heite¬
rer Großvater noch ihr Familienglück in
vollem Maße mit.
Seinen dauernden Wohnsitz hatte er
nach einigen Hin- und Herwanderungen
in einem Häuschen, das er Flint Cottage
nannte, in Boxhill bei Dorking in Sur-
rey genommen, etwa 23 engl. Meilen
südwestlich von London in hügeliger,
bewaldeter Landschaft, die reich an Na¬
turschönheiten ist. Hier lebte er, abge¬
sehen von seinen beruflichen Reisen
nach London, im Kreise der Familie
dem Genüsse der Natur, dem stillen Den-
Intemationale Monatsschrift
ken und Schaffen und der Pflege der
Freundschaft mit Gleichgesinnten, für
die sein gastfreies Haus ein Mittelpunkt
war. In seinen früheren Jahren, etwa bis
1866, unterbrach er die Arbeit durch
große Reisen in den Alpen, die er zu
Fuß durchwanderte, oft 50 km täglich
zurücklegend. Später durchwanderte er
die Heimat und erhielt sich in beständi¬
gem innigen Verkehr mit der Mutter
Erde und durch athletische Übungen,
besonders das Schwingen, Werfen und
Auffangen eines schweren Hammers, die
Kraft und Frische des Schaffens. Etwa
von 1879 an war sein Haus der Treff¬
punkt der Gesellschaft der „Sonntags-
Landstreicher“, einer Gesellschaft von
hervorragenden Gelehrten und Schrift¬
stellern, die am Sonntag lange Fußtou¬
ren machten, um so der Öde des purita¬
nischen Londoner „Sabbats“ zu entgehen
und zugleich gegen den konventionel¬
len Zwang dieser Einrichtung zu pro¬
testieren. Der Präsident dieser Vereini¬
gung war einer der intimsten Freunde
Merediths, Leslie Stephen, ein freiden¬
kender philosophischer Schriftsteller
und tüchtiger Alpinist, der Nachwelt
hauptsächlich bekannt als Begründer
und Herausgeber des Dictionary of Na¬
tional Biography. Bei uns würde man
so etwas einen „Wanderklub“ nennen,
aber im Englischen .existiert der Begriff
des „Wanderns“ mit all den reichen
poetischen Assoziationen, die sich daran
knüpfen, nicht, weil der Engländer eben
nicht „wandert“. Das entsprechende
Wort „to wander “hat bei dem praktischen
Volke immer die Nebenbedeutung des
Ziel- und Zwecklosen. Meredith war aber
ein Wanderfreund im deutschen Sinne
und hierin, wie in anderen Dingen, na¬
mentlich in seinem Verhältnis zum eng¬
lischen Kirchentum, das er sehr entschie¬
den ablehnte, durchaus unkonventionell,
ein stiller und einsamer Durchdenker,
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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen 30
der sich sein eigenes Verhältnis zur
Welt, seine eigene Weltanschauung
schuf, nach dieser lebte und die Welt
in seinen Dichtungen darstellte. Um noch
ungestörter zu sein, erbaute er sich in
späteren Jahren oberhalb seines Hauses
am Waldesrande ein kleines, aus zwei
Zimmern bestehendes Schweizer häus-
chen, sein „chalet“, wie er es nannte,
und liebte es, sich als den „Einsiedler
des chalet“ zu bezeichnen. Da klopften
die Zweige ihm ans Fenster, und die
Drossel sang ihm fröhlichen Glauben
ins Herz. Meredith hat ein hohes Alter
erreicht. Er starb im 82. Jahre, frisch an
Geist, wenn auch im letzten Jahrzehnt
gelähmt und seit 1902, wo seine letzte
Gedichtsammlung erschien, außer kur¬
zen Gelegenheitsversen nichts mehr pro¬
duzierend. Aber seine Briefe führen uns
bis an die Schwelle des Todes, den er,
wie es das Schicksal des Alters ist, an
vielen Freunden und Lieben durchge¬
kostet und innerlich erlebt hatte. Ein
schönes Abendrot liegt über diesen letz¬
ten Äußerungen eines alten Weisen,
dessen Philosophie heitere und mutige
Hinnahme des Lebens und der Wirk¬
lichkeit, fröhlicher Mut und Optimismus
und Abweisung aller Askese, aller Welt¬
verneinung ist. Er ist ein echter gläubi¬
ger Naturfrommer, für den der Tod nur
ein Eingehen in das Ganze ist. Unsere
Lieben leben weiter mit uns, noch enger
als damals, als wir ihre Stimmen hörten
und sie sahen. Wir selbst leben fort in
ihrer Erinnerung und in dem. was wir
geschaffen haben. Der Tod ist daher
kein Sieg über uns. „Ich werde dem Tod
ins Ohr lachen, denn das ist was unser
Schöpfer an uns schätzt" (9. November
1905). Bis zuletzt bewahrte er seine Hei¬
terkeit. „Ich muß mich auf einen Arm
stützen, wenn ich gehen will, und bin
gezwungen, mir Sätze mehrmals wie¬
derholen zu lassen. So ist mein Zustand
im hohen Alter. Aber meine Lebens¬
religion heißt noch immer heiter sein.
Wenn ich auch wenig von meinen Freun¬
den sehe, so lebe ich doch mit ihnen",
schreibt er wenige Monate vor seinem
Tode. Sein letzter Brief galt dem Tode
eines seiner frühesten und liebsten
Freunde, des Dichters Algernon Charles
Swinburne, der ihm etwa einen Monat
im Tode voranging. Am 16. Mai 1909
entschlief er selbst und wurde neben sei¬
ner Gattin in Dorking beigesetzt. —
Merediths Briefe umfassen einen gro¬
ßen Reichtum an Tönen. Harmloser
Scherz und fröhlicher Humor ist darin,
der sich am Kleinsten freut und mit den
Freunden und über sie lacht und plau¬
dert, die eigene Person am wenigsten
schonend; und dann kommen Betrach¬
tungen über die letzten und tiefsten Fra¬
gen des Daseins, Bekenntnisse aus den
Tiefen einer starken Seele, die sich
„durch Blut und Tränen“ zur Klarheit
durchgerungen hat. Und hier wie dort,
im Scherz wie im tiefsten Ernst, ist er
ganz ohne Pose, natürlich, aufrichtig ge¬
gen sich und andere. Niemals finden wir
Affektation bei ihm, vielmehr eine ge¬
wisse Scheu zu posieren, eine übertrie¬
bene Bescheidenheit und Selbstverklei¬
nerung, die zum Teil wohl einem Auf¬
bäumen seines Stolzes gegen zu lange
Vernachlässigung durch das englische
Publikum entspringen. So spricht er na¬
mentlich in seinen jüngeren Jahren gern
scherzweise von seinen Gedichten, in die
er doch sein Tiefstes und Bestes hin¬
eingelegt hat, und rät später begeister¬
ten Jüngern und Verehrern immer ab,
sich literarisch mit ihm zu beschäftigen,
so sehr er sich auch über jede echte An¬
erkennungfreut. In dieser inneren Wahr¬
haftigkeit und Aufrichtigkeit gegen sich
selbst liegt der große Reiz der Briefe,
die uns nie durch einen falschen Ton
abstoßen; sie ist der Grund jenes Ge-
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Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
38
1 fühls des Behagens, das sie auslösen,
veil sie frei geben, was sie geben, das
Größtp wie das Kleinste. Denn wir be¬
finden uns hier nicht bloß in der Ge¬
sellschaft eines aufrichtigen und durch¬
aus wahrhaftigen, sondern besonders
eines außerordentlich freien Geistes, des¬
sen Freiheit doch niemals zur Frechheit,
zur Zügellosigkeit wird. Frei steht er be¬
sonders dem mächtigen religiösen Kon-
ventionalismus seines Landes gegen¬
über. „Unser Puritanismus“, schreibt er
einmal, „beginnt sogar die englische
V/elt zu ermüden“ (März 1864). Gern
spottet er über die Beschränktheit der
Geistlichkeit. Ein Geistlicher der Nach¬
barschaft fragt ihn gelegentlich, ob er
glaube, daß es wahr sei, daß ein Por¬
trät von Jesus Christus existiere. Er ver¬
neint dies, meint aber, man sage, es gebe
ein authentisches Porträt der Jungfrau
Maria, dem man allerdings wohl auch
keinen vollen Glauben schenken könne.
„Er war," so fügt er hinzu, ,um mich
eines ihrer Unterschiede zu bedienen,
hochkirchlich. Man kann sehr hoch sein
und doch nicht weit sehen.“ Ein anderes
Mal macht er sich über einen Bischof
lustig, der einen Brief in der „Times"
veröffentlicht hat, in dem er versichert,
Gott erhöre unser Gebet wie der Arzt
unsere Bitte um Hilfe. „Der Beweis einer
geistigen Erwiderung durch das Bei¬
spiel einer materiellen ist prächtig bi¬
schöflich“ fügt er hinzu. Uber Geistlich¬
keit, Kirche und kirchlichen Betrieb fin¬
det sich noch mancherlei Ähnliches in
seinen Briefen. Der Puritanismus, der in
England noch immer die gesamte Le¬
bensauffassung beherrscht, ist deshalb
such für alle freien Geister Englands
i^on Shelley bis zu Meredith und Swin-
>urne der Feind gewesen. Andererseits
»t doch Meredith von jedem negativen
Radikalismus weit entfernt Er verteidigt
Ife zivilisatorische Bedeutung des Chri-
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stentums in einem Briefe an seinen radi¬
kalen Freund Maxse. Auch seinen Sohn
Arthur ermahnt er, an der christlichen
Lehre festzuhalten, wenn er auch im
christlichen Dogma nur „ein Beispiel der
noch herrschenden Armut des mensch¬
lichen Geistes“ sieht, und er empfiehlt
ihm das Gebet zu der unsichtbaren Gott¬
heit, nicht das Gebet um weltliche Gü¬
ter, das schlimmer als nutzlos sei, son¬
dern das Gebet um Seelenstärke (25.
April 1872).
Dieselbe Freiheit gegenüber der herr¬
schenden Meinung bewahrt er auch in
seinem dichterischen Schaffen. Er paßt
sich nicht „dem Geiste der britischen
Matrone und des näselnden Moralisten,
der in England so mächtig ist“, an, wenn
er auch literarisch in den Bann getan
wird als schlimmer als ein Freigeist und
die Lesegesellschaften ihn ausschließen.
„In der Kunst“, sagt er, „nehme ich nie
Rücksicht auf das, was dem engen Geiste
des Salons zulässig erscheint“ (20. De¬
zember 1861). So veröffentlicht er eine
Gedichtsammlung nach der anderen, ob¬
gleich er sehr wohl weiß, daß Poesie,
wie er sie schreibt, keine Marktware ist.
„Die Bedingungen des Handels sind
Verssammlungen ungünstig,“ schreibt er
(19. August 1878), „die sich nicht zu
Hochzeitsgeschenken für die zahllosen
jungen Geistlichen und ihre Bräute eig¬
nen." „Ein Mann muß bei dem Lichte
seines Gewissens arbeiten, wenn er
etwas Lesenswertes hervorbringen will“,
schreibt er an John Morley (22. Januar
1870), und hiernach hat er gehandelt und
schließlich doch, wenn auch erst nach
50 Jahren, auch als Dichter den Wider¬
stand der stumpfen Welt besiegt.
So frei von seiner Umgebung, so un¬
abhängig gegenüber Konvention und
öffentlicher Meinung konnte nur ein
Mann sein, der auf dem festen Boden
und der hohen Warte einer festen Welt-
2 *
Original from
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39
Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
anschauung stand. Meredith bezeichnet
sich wohl einmal im Gespräch mit einem
Geistlichen — er zieht die Geistlichen
gern ein wenig auf — als einen „Agno¬
stiker" (19. März 1882). Aber das ist
nur die negative Seite seiner Überzeu¬
gungen. Positiv ist er ein gläubiger, ja
ein begeisterter Spiritualist. „Der
Geist“, so schreibt er in der Neujahrs¬
nacht 1878 an John Morley, „umgibt uns
überall, wie, wo und auf welche Weise,
das weiß niemand. Aber in diesem Le¬
ben gibt es kein Leben außer im Geiste.
Was wir sonst Leben nennen, ist nur
ein Quälen und Verfallen (an aching
and a rotilng)“ Dieser Gedanke findet
sich in mannigfachen Formen in seinen
Briefen. „Es gibt kein Leben als das des
Geistes", schreibt er ein andermal. „Das
Konkrete ist eigentlich das Schatten¬
hafte, doch liegt der Weg zum geisti¬
gen Leben in der vollständigen Entfal¬
tung des Geschöpfes, nicht in der Er¬
tötung seiner Leidenschaften. Eine Ver¬
letzung der Natur trägt nur dazu bei,
sein Licht auszulöschen. Also zur Blüte
des Geistes durch die gesunde Übung
der Sinnei Das sind bloße Trivialitäten.
Aber sie leiten zum Pfade der Weisheit“
(16. März 1888). Und an seinen intim¬
sten Freund, den Admiral Maxse, schreibt
er einmal (3. August 1884): „Wir leben
in dem, was wir getan haben, in der
Idee: sie scheint mir der Urquell des Le¬
bens im Gegensatz zu dem des vergäng¬
lichen Blutes. Überall um mich her sehe
ich, wie sehr die Idee herrscht, und darin
schaue ich den Schöpfer, jenes ewige
Leben, zu dem wir hinstreben, das nicht
bewußt ist, wie unsere sinnlichen Emp¬
findungen es begehren, aber möglicher¬
weise erkennend... Das bewußte Stre¬
ben erregt das Glückseligkeitsgefühl nur,
um es zu töten. Jenseits des Bewußt¬
seins gibt es vielleicht eine ewige Glück¬
seligkeit. Das sind keine bloßen Worte,
sondern meine in Qualen erlebten
danken, geboren aus blutigem Schwe
des Geistes, und jetzt von mächti
inneren Leben, das alles Wirkliche i
nimmt." Und so erfüllt ihn schließ;
eine tiefe Frömmigkeit, ein lebe
Gottvertrauen. „Seien Sie sicher,“ sehn
er am 16. Juli 1906, also in seinem
Jahre, an eine Freundin, „daß der
des Geistes zu jeder Zeit der Seele
gänglich ist, die nach ihm begehrt,
in uns sein würde, wenn wir unser
rein halten wollten. Nur dürfen wir
nicht bitten, zwischen uns und
Gesetze zu treten. Die Bitte und
Fehlschlag, indem keinerlei Antwort
folgt, ist die Hauptquelle des allge
nen Unglaubens.“
Unter den Gegenständen, die *
Briefe behandeln, steht die Lite
und besonders die englische Litera
obenan. Meredith beschäftigt sich
Unterschied von den meisten engli
Dichtern viel mit literarischen Fra
und Problemen. Er ist ein scharfer
tiker seiner eigenen Kunst sowohl,
der die Briefe eine Art laufenden K
mentar bilden, als auch der Kunst
ner Zeitgenossen. Unter ihnen s
Tennyson damals an erster Stelle,
war seit dem Erscheinen seiner Gedi
Sammlung von 1842 der Liebling
englischen Publikums, der dichteri
Vertreter der herrschenden Kl
wurde nach Wordsworths Tode
Nachfolger als Poeta laureatus
starb an Ehren reich im Jahre 1892
Lord Tennyson. Er verdankt sei
Ruhm einesteils seiner wunderl
Herrschaft über Sprache und Metrik,
einschmeichelnden Melodie seiner V
und seiner echten Sangesgabe, ande
seits aber auch seiner Fähigkeit
Neigung, sich den Ideen und dem I
schmack des Publikums anzupassen,
große Erfolg seiner Dichtungen be
W
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41
Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
42
zu nicht geringem Teile auch darauf,
daß er die maßgebenden Kreise nicht vor
den Kopf stößt, daß er seine Gedanken
nicht durchdenkt, sondern, man möchte
sagen, umdenkt, umbiegt, Kompromisse
schließt mit den Vorurteilen und Ideen
der Masse. Von seinen Werken, die in
ihrer Zeit als dichterische Offenbarun¬
gen begrüßt wurden, wird wohl außer
einigen lieblichen und tief empfundenen
lyrischen Gedichten nur wenig bleiben.
Merediths Urteil über Tennyson ist au¬
ßerordentlich scharf, aber nicht unge¬
recht. Er erkennt an, daß in ihm das
Zeug zu einem großen Dichter steckt,
bedauert aber, daß das Publikum ihn
verdorben habe. Er spricht von seinen
„schlappen, schmachtenden Fischern“ in
Enoch Arden und wirft ihm vor, daß
er „der verderbten Sentimentalität der
Salons schmeichle“, er schreibt mit Be¬
zug auf die „Königsidyllen“ von seinen
„Porzellanfigürchen“, die „nicht einen
Hauch lebendigen Menschentums in sich
haben“, von seiner gezierten Schreibart,
seiner Affektiertheit und den morali¬
schen Gesinnungen der Geistlichen, der
Moral der britischen Matrone und ihrer
Tochter. „So redet er, so geht er einher,
so näselt er, so erscheint er göttlich.“
„Das Zeug ist nicht Dichtung, sondern
Dichterei... Der Mann hat die Wasch¬
leine der Musen erfaßt und sie mit Ju¬
welen behängt. — Dieser erste Dichter
Englands ist 20 Jahre hinter seiner Zeit
zurück... Ist nicht ein Duft verfluchter
Heuchelei in all der lispelnden und
wohlklingenden Reinheit der Idyllen?..
Aber es ist die Mode. Es gefällt den
parfümierten Damen, es wird gekauft."
Ein andermal spricht er von seinem
..dandyartigen Geflöte“ usf. Und er trifft
wohl den Kern des Mangels Tennysons,
wenn er sagt: „Er hat viele geistige An¬
wandlungen, aber keine Philosophie.“ In
der Tat hat Tennysons philosophische
Dichtung, seine Versuche, das historische
Christentum mit den Ergebnissen der
Wissenschaft, namentlich mit der da¬
mals in England aufblühenden Entwick¬
lungslehre in Einklang zu bringen, etwas
Dilettantisches, Schwächliches; es ist im
Grunde eine verdünnte Kompromi߬
philosophie zum Gebrauche der schön¬
geistigen Salons und mußte einen
Durchdenker und rücksichtslosen Wahr¬
heitskämpfer wie Meredith abstoßen.
Wie er in seinem Urteil über Tennyson
allein stand, so war er auch in der Mi¬
norität in seinem Eintreten für seinen
Freund, den Dichter Algernon Swin-
burne, als dieser im Jahre 1866 durch
seine „Gedichte und Balladen" mit ihrem
trotzigen Heidentum und der Heraus¬
forderung englischer Prüderie die mo¬
ralische Entrüstung des herrschenden
Philistertums erregte. Swinburne war
ein vornehmer und reicher Mann und
lebte den Sturm nieder; er starb im
Glanze dichterischen Ruhmes. Anders
war es bei dem unglücklichen Dichter
der „Stadt der furchtbaren Nacht“, Ja¬
mes Thomson, in dessen traurigem,
an eigenen Leidenschaften, namentlich
der des Trunkes, gescheitertem Leben die
Freundschaft und warme Anerkennung
Merediths einen der wenigen Lichtblicke
bildet. — Von den übrigen seiner schrift-
stellernden Zeitgenossen schätzte Mere¬
dith Carlyle am höchsten. Von ihm
sagt er, daß er von allen seinen Zeit¬
genossen am meisten den Namen eines
gottbegeisterten Schriftstellers verdiene:
„er verkündet unverletzliches Gesetz,
spricht aus den tiefen Quellen des Le¬
bens“ (2. Januar 1870). „Er stand immer
in Gegenwart der ewigen Wahrheiten,
von denen er spricht. Für die Flachheit
bloßer literarischer Fähigkeit hatte er
tiefe Verachtung. Der Geist des Prophe¬
ten war in ihm" (23. Februar 1882). Diese
Bewunderung paart er allerdings mit
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43
Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
T|
scharfer ablehnender Kritik Carlyles als
eines praktischen Politikers. „Wenn er
zu unserer Alltäglichkeit herabsteigt und
seine große geistige Weisheit auf die
Gesetzgebung anwenden will, so ist er
nicht scharfsinniger, nützlicher noch
maßvoller als ein Blitz, der in einen
Krämerladen einschlägt“ Mit Stolz er¬
zählt er, daß Frau Carlyle ihrem Manne
aus seinen Schriften vorgelesen habe
und er darauf gesagt habe, der Verfas¬
ser wäre kein Narr, hohes Lob für
diesen.“
Auch politische Verhältnisse werden
in den Briefen oft gestreift Standen
doch die besten Freunde Merediths, Fre-
derik Maxse, ein streitbarer Radikaler,
John Morley, eins der Häupter des Libe¬
ralismus, der Journalist Fred. Green-
wood u.a.mitten im politischen Kampfe.
Aber er ist fast nie politisch hervorge¬
treten. Die einzige Ausnahme gereicht
ihm zu besonderer Ehre. Im Jahre 1902
trat er in einem Briefe an die „Daily
News“ für Barmherzigkeit und Milde ge¬
genüber den besiegten Buren ein. In sei¬
nen Ansichten war er entschieden libe¬
ral, ja radikal, ein Anhänger von Home
Rule für Irland, und in seinen letzten
Jahren besonders der Frauenemanzipa¬
tion und des Frauenstimmrechts. Gleich¬
zeitig war er für Einführung der allge¬
meinen Wehrpflicht in England, die er
für eine nationale Notwendigkeit hielt.
In Deutschland sieht er den mächtigen
und überlegenen Nebenbuhler Englands.
Seine patriotische Furcht vor Deutsch¬
land entsprang seiner Hochachtung vor
deutschen Methoden und deutscher
Gründlichkeit. Er gehört zu den weni¬
gen Engländern, die Deutschland und
deutsche Literatur kannten. Auf einer
deutschen Schule, der der mährischen
Brüder in Neuwied, ist er erzogen wor¬
den; die deutsche Dichtung, namentlich
Goethe, war ihm vertraut; seinen älte-
44
sten Sohn schickte er als 17 jährigen jun¬
gen Mann zu seiner weiteren Ausbil¬
dung nach Stuttgart, und er selbst reiste
häufiger nach Deutschland. Als im Jahre
1870 der Krieg zwischen Frankreich und
Deutschland ausbrach, schwankte er zu¬
erst in seinen Ansichten. Es war das wohl
verständlich. Seine Frau war französi¬
schen Ursprungs, seine Schwäger foch¬
ten als Offiziere im französischen Heere,
er selbst war ein Kenner und Bewun¬
derer der französischen Literatur. Mo-
lifere namentlich hat ihn bedeutend be¬
einflußt. Aber schon kurz vor Aus¬
bruch des Krieges,, am 14. Juli 1870,
schreibt er an seinen Sohn: „Wenn der
Krieg ausbrechen sollte, so bedauere ich
es sehr, denn ich schätze Frankreich;
dennoch aber sehe ich, wie gut es für
Europa wäre, einen starken zentralen
Staat, der aus soliden Leuten besteht,
zu haben.“ Während des Kampfes wa¬
ren seine Sympathien auf seiten Frank¬
reichs, aber er war gewohnt, sich in sei¬
nem Urteil nicht von Sympathien, son¬
dern allein von Vernunftgründen leiten
zu lassen. So schreibt er am 25. Oktober
an seinen Sohn: „Dieser Krieg fällt
Frankreich zur Last, und der Kaiser ist
der Schurke unter der Bande. Zwei
Generationen von Franzosen sind in den
Traditionen des Napoleonismus erzogen
worden, und diese bedeuten die Bedrük-
kung und Beschimpfung anderer Natio¬
nen zum Ruhme und Wachstum der
eigenen. Sie haben Napoleon zum Füh¬
rer gewählt wegen seines Namens und
trotz seines wohlbekannten Charakters.
Man sagt, die Bauern hätten den Krieg
nicht gewollt, sie hätten in Unwissen¬
heit gesündigt, indem sie den Mann
wählten: aber wer kann leugnen, daß
es das napoleonische Prestige war, das
ihm mit überwältigender Mehrheit den
ersten Schritt zum Throne erleichterte?
Dieser Mann war der Ausdruck ihrer
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45
Philipp Aronstein, George Meredith in seinen Briefen
46
Unwissenheit, Torheit oder Eitelkeit. Die
Deutschen dagegen ernten die Beloh¬
nung einer durchweg ehrenvollen Lauf¬
bahn in der Bürgertugend. — Ich be¬
wundere und achte daher die Deutschen,
wenn auch mein Herz für die Franzosen
blutet. Aber mein Grundsatz ist immer,
mich nicht von meinen Gefühlen, son¬
dern von meinem Verstände leiten zu
lassen...“ Und wieder am 23. Dezember
1870 an denselben: „Ich achte die Deut¬
schen sehr wegen ihrer hohen morali¬
schen Eigenschaften. Jetzt gerade
schimpfen sie auf uns, aber das wird
vergehen. Ich weiß, sie sind der Freund¬
schaft fähig, und daß englische Freund¬
schaften in der Regel nicht so dauerhaft
sind.“ Er lobt die deutsche Gründlich¬
keit „Sie machen ihre Lehre gründlich
durch; und da sie nicht vor der Zeit
kritisieren, sind sie kompetente Kritiker,
wenn die Zeit kommt.“ Merediths Freund
Maxse stand wie die meisten Engländer
auf seiten der Franzosen. In einem Briefe
an diesen vom 27. Februar 1871 sagt er.
daß Frankreich die Lektion verdient
habe, denn es sei immer der Störenfried
Europas gewesen. Ob die Deutschen es
sein würden, müsse sich erst zeigen.
„Ich ziehe vor,“ fährt er fort, „zu warten,
ohne zu prophezeien. Möge Frankreich
eine tugendhafte Demokratie heranzie¬
hen, dann wird es Gelegenheit zur vol¬
len Rache an den Hohenzollern fin¬
den— Ich bin weder deutsch noch fran¬
zösisch gesinnt und auch nicht englisch,
es sei denn, daß die Nation angegriffen
wird. Ich bin ein Europäer und Weltbür¬
ger — für die Menschheit. Die Nation,
die sich am würdigsten erweist, ist die,
die ich liebe und verehre. Du mußt zu¬
geben, daß die Franzosen sich durchweg
wie Kinder benommen haben. Vielleicht
wird die schwere Prüfung ihr Wachs¬
tum beschleunigen und ihr Handeln mit
dem. was sie zu sein vorgeben, in Ein¬
klang bringen. Die Deutschen haben sich
als unerbittlich strenge Männer gezeigt,
denen mehr an ihrem Vaterlande liegt
als an dem Wohlergehen der Mensch¬
heit im allgemeinen.... Ich denke mit
Schmerzen daran, daß sie gerade heute
in Paris einziehen. Aber die Stadt ist
keine .heilige Stadt' für mich. Die er¬
staunliche Selbsttäuschung der Franzo¬
sen hierüber ist ein Beweis unter vielen,
daß ihr Geist die Haltung verloren hat.“
Noch eine besonders interessante Äuße¬
rung in einem Briefe an Morley (24 Juni
1877) sei hier erwähnt Er spricht hier
von seinen gemischten Gefühlen gegen¬
über den Deutschen, sagt, wie sehr er
ihre intellektuelle Tüchtigkeit anerkenne,
von ihren Manieren sich abgestoßen
fühle, ihre Stärke bewundere und ihren
Mangel an seelischem Schwung emp¬
finde: er habe große Achtung vor ihnen
und zögere zu entscheiden, ob sie jetzt
voll ausgewachsen seien, oder ob ein
Licht über ihnen leuchte, das sie immer
höher führen werde. „Wenn das letz¬
tere der Fall ist, so sind sie die Herren
der Welt.“ Wie unsagbar traurig stim¬
men uns diese Worte gerade in diesem
Augenblicke so vieler zu Grabe getra¬
gener Hoffnungen.
Die letzten Äußerungen Merediths
über Deutschland stehen unter dem Ein¬
flüsse des Mißtrauens und der Feind¬
schaft, die etwa von der Wende des
Jahrhunderts an die Beziehungen zwi¬
schen England und Deutschland getrübt
und vergiftet haben. „Wir sollten den
Deutschen dankbar sein“, schreibt er am
17. Februar 1903 an den „Daily Tele¬
graph“, „für die rauhe Aufrichtigkeit,
mit der sie uns sagen, was sie gegen
uns planen. Sie rütteln, ein schläfriges
Volk auf und, ohne daß wir sie deshalb
gerade als Feinde zu betrachten brau¬
chen, können wir sie doch als heftig
drängende Nebenbuhler hinnehmen, de-
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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
ren Ziel es ist, die erste unter den Mäch¬
ten der Welt zu sein, und zwar haupt¬
sächlich auf unsere Kosten. Deutschland,
das einst das erste unter den Völkern
Europas war, was geistige Errungen¬
schaften angeht, predigt jetzt laut All¬
deutschtum in ganz Europa und will
Herr der Nordsee sein. Wir brauchen
nur auf die Warnung zu hören, die es
uns gibt, und bewaffnet, bereit und auf
unserer Hut sein.“ Und am 7. April 1908.
also in seinem letzten Lebensjahre,
warnt er in einem Briefe an Frederick
Greenwood noch einmal vor der „deut¬
schen Gefahr“. „Wer die Gesinnung der
Deutschen kennt, ist der Meinung, daß
sie die Absicht haben, sich mit England
zu messen, sobald ihre Flotte groß ge¬
nug ist, um eine Landung zu schützen
(die für durchaus möglich gehalten
wird), und solange das gewaltige Heer
noch nicht durch einen langen Frieden
verderbt ist. Nicht umsonst forderten die
Deutschen im Haag das Recht, die See
mit Minen zu belegen. Wenn sie Minen
anwendet, kann auch eine kleinere Flotte
einem Riesen zeitweise mit Erfolg ent¬
gegentreten.“ So sehen wir am Ende
auch diesen „guten Europäer“ und Kos¬
mopoliten, der so merkwürdig frei war
von den konventionellen Bindungen sei¬
ner Landsleute, namentlich von ihrer
Selbstüberhebung, und der Deutschland
kannte und hochschätzte, in die Geg¬
nerschaft zu unserem Lande hineinge¬
trieben. Er sieht den kommenden Kampf
voraus. Aber auch seine Gegnerschaft
gegen Deutschland, die etwas ihm Auf¬
gezwungenes war, bleibt frei von der
Bitterkeit des Hasses und der nationalen
Feindschaft, die den Gegner verun¬
glimpft und moralisch herabsetzt, um
sich selbst zu begründen und zu ent¬
schuldigen, jenem Cant der moralischen
Phrase, in dem die Engländer solche un¬
übertroffenen Meister sind. Hätte er die
Katastrophe der letzten Jahre erlebt, er
würde schwerlich in den Chor derer ein¬
gestimmt haben, die in dem Volke des
von ihm so hoch verehrten Goethe Hun¬
nen und Barbaren sehen. 1 ) Und wenn
dereinst — wir müssen es hoffen—aus
dem Schlammeere von Haß und Gemein¬
heit der rettende Gedanke an die Kul¬
turgemeinschaft der modernen Völker
wieder hervortaucht, so wird Meredith
zu den wenigen Männern gehören, an
denen er zu neuer Kraft sich emporran¬
ken kann.
1) Der frühere Lektor des Englischen an
der Universität Berlin, Prof. F. S. Delmer.
berichtet in seinem Leitfaden der englischen
Literaturgeschichte (English Literatvre from
Beowulf to Bernhard Shaw, Berlin, Weid¬
mann), was Meredith zu ihm bei einem Be¬
such noch im Jahre 1907 über Deutschland
geäußert hat: „Teil them over there, if they
care to hear it, how I admire Germany’s
march sunwards. I hope our two countries
will always be found striding shoulder to
shoulder towards the ideals of culture and
civilization.“ C.
Das französische Universitätswesen.
Von Victor
l.
Die Franzosen besitzen ein Spott¬
lied auf den Bureaukratismus. 1 ) Ein
1) Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zu¬
grunde, den der Verfasser vor dem Aktions¬
ausschuß zur Neugestaltung der Universität
München gehalten hat. Die Red.
Klemperer.
Mann findet einen Selbstmörder im
Walde, und der Hängende gibt noch
Lebenszeichen. Er will ihn retten und
läuft zur Polizei. Bis nun die Rettungs¬
aktion durch alle Instanzen gegangen
und die Kommission mit dem Staats¬
anwalt an der Spitze an der Unglücks-
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49
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
50
stelle angekommen ist, hat der Ge¬
hängte natürlich ausgelitten. Le ca-
davre ötait d6ja bleu, berichtet das
Lied. — Wir haben manchen Anlaß,
das französische Universitätswesen un¬
ter den Staatseinrichtungen mitzube¬
greifen, denen diese Verspottung gilt.
In ihrem eigentlichen Kern nämlich,
in ihrem Verwaltungsapparat, und so¬
weit sie auf Staatsexamina vorberei¬
tet, ist die französische Universität arg
bureaukratisch und verknöchert. Es le¬
gen sich aber täuschend und verhül¬
lend zwei geschmeidige Kreise um die¬
sen knöcherigen Kern: das sind die
Einrichtungen einmal für solche Stu¬
dierende, die kein Amt und kein Pri¬
vileg [wie die Ausübung der ärztlichen
Praxis] in Frankreich anstreben, so¬
dann für Bildungsbeflissene, die über¬
haupt kein Examen ablegen, die nur
lernen — oder sich unterhalten wollen.
Ich möchte hier von diesem kom¬
plexen Institut nur das skizzieren, was
uns nachahmenswert erscheinen könnte,
zugleich aber auch das, was uns viel¬
leicht die eigenen Einrichtungen wieder
zufriedeneren Blickes betrachten läßt.
Ich werde deshalb mein Thema zwei-
bis dreifach einengen. Zeitlich be¬
schränke ich mich auf die Gegenwart.
Das alte französische Universitätswe¬
sen wurde von der Französischen Re¬
volution beseitigt; Napoleon schuf eine
große militärisch-absolutistische Or¬
ganisation des ganzen Hoch- und Mit¬
telschulwesens, eine Zusammenfassung,
die er Universitö de France nannte.
Auflösungen, Änderungen, Verknüp¬
fungen folgten mit jeder neuen Regie¬
rung, der jetzige Zustand gründet sich
auf Gesetze, die in Abständen seit der
Mitte der siebziger Jahre bis in den
Anfang dieses Jahrhunderts votiert
wurden, Napoleonisches aber schim¬
mert noch immer sehr stark durch. So¬
dann werde ich mich räumlich auf Paris
beschränken. Ich darf das aus dem
doppelten Grunde, weil ja die staat¬
liche Ordnung der 15 französischen
Universitäten (die nicht durchweg im
Besitz sämtlicher Fakultäten sind) über¬
all die gleiche ist, und weil Paris in
ganz anderem Maße die Provinzuni¬
versitäten überragt, als unsere größten
deutschen Universitäten den kleineren
vorangehen. Man nennt unter den fran¬
zösischen Provinzuniversitäten Lyon,
Bordeaux und Toulouse an erster
Stelle: ich habe 1913 von Paris kom¬
mend in Bordeaux gearbeitet und war
förmlich betroffen über den kleinen,
fast jämmerlichen Eindruck, den mir
die dortigen Anstalten im Vergleich
zu Paris machten. Wie muß es da erst
in den unvollständigen Provinzuniversi¬
täten aussehen, deren kleinste, Be-
sangon, nur zwei Fakultäten besitzt,
die der Lettres und der Sciences, was
im wesentlichen der Sektion I und II
unserer philosophischen Fakultät ent¬
spricht. Endlich noch diese Einschrän¬
kung: Die französische Universität ist
kein so in sich abgeschlossenes Gan¬
zes wie eine deutsche Universität. Sie
erfährt teils Unterstützung, teils Kon¬
kurrenz von einer Reihe bald freier,
bald staatlicher Hochschulinstitute, die
nicht alle dem gleichen Ministerium des
Unterrichts unterstellt sind, die von den
Studierenden der Universitäten mitbe¬
sucht werden können, die ihre eigenen
Schüler Examina ablegen lassen oder
zu Universitätsprüfungen vorbereiten
dürfen, und die vielfach auch jene
eigentümliche Dreiteilung aufweisen in
Studiengänge für Leute, die staatlichen
Berechtigungen zustreben, die nur ein
Diplom erlangen wollen, und die gar
nichts wollen als hören oder sich ver¬
gnügen. Ich werde einige Pariser In¬
stitute dieser Art erwähnen und etwas
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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
51
länger nur bei dem schönen College
de France verweilen, das gewiß in vie¬
len Dingen vorbildlich, gewiß aber auch
nicht in allen übertragbar erscheinen
wird.
2 .
Ich beginne mit der Verwaltung. Die
französische Universität hat keinen Rek¬
tor für sich wie die deutsche, worin
allein schon ihre größere Unselbstän¬
digkeit oder staatliche Gebundenheit
sich ausprägt. Vielmehr führt den Vor¬
sitz des Universitätsrates der Rektor
der zuständigen Akademie. Um hier
einer Wortverwechslung vorzubeugen,
so hat dies nichts mit dem Prunkinsti¬
tut der Richelieuschen Acad6mie
Fran^aise zu schaffen. Napoleon I. zer¬
legte das ganze Land in 27 Bezirke für
den gesamten Unterricht, die er Akade¬
mien nannte. Den Namen hat die dritte
Republik wieder aufgenommen und
hat nach dem Frankfurter Frieden 17
Akademien gehabt. Der Rektor sol¬
cher Akademie steht dem Universitäts¬
und Mittelschulbetrieb, auch den Leh¬
rerbildungsseminaren, ganz vor, er kon¬
trolliert auch das Volksschulwesen.
Er muß Doktor sein, was in Frank¬
reich mehr besagt als bei uns, ist im
übrigen aber vor allem Staatsbeamter.
Die neueste offizielle Veröffentlichung
über französisches Universitätswesen:
La vie universitaire ä Paris, 1918, als
eine Art Propaganda- und Aufmunte¬
rungsschrift von verschiedenen Pariser
Professoren herausgegeben, betont sehr
stark die staatliche Stellung des Rek¬
tors: „Le Recteur reprösente l’Etat au-
pres de l’Universit6; il a pour mission
de veiller ä l’application des lois et
des r6glements g6n6raux. Voilä pour-
quoi il est nommfe par le gouverne-
ment et pröside de droit le Conseil
de I’Universitd“ (S. 23). *) Man be-
1) ln Pairs heißt er Vice-Recteur, da hier
achte die Ernennung durch die Regie¬
rung!
Ebenso verschieden wie die Stellung
des französischen Rektors von der des
deutschen ist die Art des Universitäts¬
rates von der des deutschen Universi¬
tätssenates. Dem Universitätsrat gehö¬
ren an die Dekane und zwei Abge¬
ordnete jeder Fakultät, erwählt durch
ihre ordentlichen Professoren auf drei
Jahre, außerdem der Direktor der phar¬
mazeutischen Hochschule. Sind sonst
in dem Bezirk der Akademie Hoch¬
schulen vorhanden, so werden diese im
Universitätsrate durch ihren Direktor
und einen gewählten Deputierten ver¬
treten und nehmen an Unterrichts- und
Disziplinarberatungen (nicht an finan¬
ziellen) teil. Der Rektor bereitet unter
der Autorität des Ministers die Ge¬
schäfte vor und sorgt für die Ausfüh¬
rung der Ratsbeschlüsse; er vertritt die
Universität vor Gericht und in allen
bürgerlichen Rechtsgeschäften. Der Uni¬
versitätsrat entscheidet über die Ver¬
mögensverwaltung der Universität, er
stellt den Lehrplan der Vorlesungen
und Übungen auf, die nach Schuljah¬
ren eingeteilt zu halten sind, er ver¬
fügt über Gebührenerlaß, über Einrich¬
tungen im Interesse der Studierenden,
über die Ferienordnung. Bei einer Reihe
finanziell schwerwiegender Fragen, so
besonders auch wo es sich um die Er¬
richtung, Umgestaltung oder Aufhe¬
bung staatlich besoldeter Professuren
handelt — es gibt auch Lehrstühle, die
aus privaten Stiftungen erhalten wer¬
den —, bedarf der Beschluß des Uni¬
versitätsrates der ministeriellen Zustim¬
mung, oder es tritt an Stelle des Be¬
schlusses nur ein vorzulegendes Gut-
der Titel des Rektors dem Unterrichtsmi¬
nister Vorbehalten ist. Das ist aber nur eine
alte Formalität. En fait le ministre n'exerce
jamais la fonction rectorale (S. 25 Anm.).
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53
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
54
achten. Jedes Mitglied des Rates darf
schriftlich Fragen und Wünsche an den
Rektor richten, die in der nächsten Sit¬
zung zu beantworten sind. Einen stell¬
vertretenden Rektor wählt der Universi¬
tätsrat aus seinen eigenen Mitgliedern.
Der Universitätsrat ist endlich auch
Disziplinarbehörde sowohl für Lehrer
wie für Studenten. Gegen Studenten
kann er bis zu zweijährigem Ausschluß
vom Studium oder zweijähriger Zu¬
rückstellung vom Examen beschließen,
gegen Professoren Versetzung, Verbot
der Lehrtätigkeit auf bestimmte Zeit
mit oder ohne Gehaltsperre, Absetzung.
Die Instanz über ihm (außerhalb der
Universität) ist der Oberunterrichtsrat
beim Ministerium.
Inner- und unterhalb dieser finan¬
ziellen und juristischen Zusammenfas¬
sung haben die Fakultäten ihre Selb¬
ständigkeit. Bis 1896 waren sie völlig
selbständig und gegeneinander abge¬
schlossen, und auch heute noch sind sie
in Verwaltungsdingen selbständiger als
die deutschen Fakultäten. Die staat¬
liche französische Universität besitzt in
der Gegenwart noch vier Fakultäten,
die wie gesagt nicht überall vollzählig
sind, und denen andererseits Ergän¬
zungsinstitute sich angliedern. Es sind
dies: La facultö de Droit, de Mödecine,
des Sciences, des Lettres. Eine Fakultät
der katholischen Theologie hat Frank¬
reich seit 1885 nicht mehr. Bischöfliche
Seminare und freie katholische Hoch¬
schulen, die nicht nur das theologische
Wissen übermitteln, haben die Prie¬
sterausbildung übernommen. Fakultä¬
ten der protestantischen Theologie gab
es noch bis Ende 1905 (Gesetz der
Trennung von Staat und Kirche!) in
Montauban für Calvinisten, in Paris für
Calvinisten und Lutheraner. Die Pari¬
ser protestantische Fakultät besteht
jetzt als Etablissement libre; innerhalb
der staatlichen Universität hat man die
religionswissenschaftlichen Fächer der
Facultö des Lettres ausgebaut. An der
Spitze der Fakultät steht der Doyen,
von den Professoren gewählt, vom Mi¬
nister auf drei Jahre bestätigt. Eigent¬
liche Verwaltungsbehörde ist der Fa¬
kultätsrat, dem nur die Professoren an¬
gehören. Er wählt zwei Kandidaten zum
Dekanat, zwei andere wählt der Uni¬
versitätsrat, und unter diesen vier Kan¬
didaten trifft dann der Minister die
Auswahl. Mit Lehr- und Unterrichts¬
fragen (nicht mit denen der Verwal¬
tung) befaßt sich die Fakultätsver¬
sammlung, der auch die Nichtprofes¬
soren, aber nur mit beratender Stimme,
angehören.
Unseren ordentlichen und außeror¬
dentlichen Professoren entsprechen die
Professeurs titulaires und adjoints. Den
Professeur titulaire ernennt der Präsi¬
dent der Republik; vorgeschlagen wer¬
den zwei Kandidaten von der Fakul¬
tät, in der der Posten vakant ist, und
zwei vom Oberunterrichtsrat beim Mi¬
nisterium. Neugegründete Professuren
werden auf Bericht des Ministers be¬
setzt. Pensionierung erfolgt mit 70 Jah¬
ren (für Mitglieder des Instituts mit 75),
vorher nur auf eigenen Antrag oder im
Falle der Dienstunfähigkeit. Der Pen¬
sionierte kann auf das Gutachten des
Oberunterrichtsrates hin außer der
Reihe im Amt bleiben, ganz besoldet,
wenn er an den Prüfungen teilnimmt,
mit 3 / 4 'Gehalt, wenn er nur noch do¬
ziert. Gleichzeitig kann sein Lehrstuhl
als vakant erklärt werden. Zum Pro¬
fesseur adjoint wird ein maitre de Con¬
ferences oder chargö de cours auszeich¬
nungshalber durch Dekret ernannt. Er
hat geringeres Gehalt als der Titulaire
und darf sich nicht an den Vorschlä¬
gen für die Besetzung vakanter Stel¬
len beteiligen; im übrigen hat er gleiche
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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
56
Rechte wie der Ordinarius. Die Zahl
der adjoints ist beschränkt, sie darf
etwa für die Fakultäten der Lettres und
der Sciences nicht mehr als ein Drittel
der Titulaires betragen. Am wesentlich¬
sten unterscheidet sich der französische
Lehrkörper vom deutschen durch die
Maitres de Conferences und Charge»
de Cours, die ihrer Stellung nach un¬
seren Privatdozenten entsprechen.. Aber
während nun unsere Privatdozenten
unbesoldet sind und ihre venia legendi
auf unbegrenzte Dauer empfangen, ist
der französische Konferenzleiter oder
beauftragte Dozent besoldet und auf
begrenzte Zeit angestellt. Bei den Ju¬
risten und Medizinern und in den phar¬
mazeutischen Hochschulen sind diese
Dozenten Agfegös. Agr6g6 ist ein Ti¬
tel, der durch Prüfungskonkurs vor
einer Kommission erworben wird (nicht
zu verwechseln mit dem Agr6g6exa-
men und -titel der Kandidaten des
höheren Lehramts). Diese AgfegGs wer¬
den bei den Medizinern auf 10, bei den
Juristen und Pharmazeuten auf 9 Jahre
angestellt und dann ohne Gehalt ent¬
lassen. Sie können in ihren früheren
Beruf zurücktauchen, sie können auch
an der Universität reaktiviert werden.
Vielfach gilt der Agr6g6posten als
Durchgang zur Professur. In den philo¬
sophischen Fakultäten besteht der Uni-
versitätsagfeg6 nicht mehr. Die Kurs¬
leiter und Dozenten sind aber z. T.
Agfeg6s des höheren Lehramts. Sie hal¬
ten ihre Universitätsvorlesungen gegen
Besoldung; der Rektor ernennt sie auf
ein Jahr, kann aber ihren Lehrauftrag
von Jahr zu Jahr erneuern. Vor- und
Nachteile der deutschen und der fran¬
zösischen Einrichtung lassen sich viel¬
leicht am knappsten so fassen: Der
deutsche Privatdozent, ganz auf seine
Wissenschaft und sein Fortkommen
gestellt, wird das Äußerste zu leisten
suchen und der Wissenschaft wahr¬
scheinlich mehr nützen als der minder
gepeitschte und besser gesättigte und
gesicherte französische Dozent. Aber
wenn sich die Wissenschaft bei der
deutschen Dozentur besser steht, so ist
der Dozent gewiß bei der französischen
Dozentur in minder peinvoller Lage. —
Es gibt also im französischen Lehrkör¬
per keinen unbesoldeten Unterrichten¬
den. Es gibt dort aber auch keinerlei
Nebeneinkommen für Lehrtätigkeit und
Examina. Kolleggelder im deutschen
Sinne fehlen; ein früher bezogener An¬
teil an Prüfungs- und Inskriptionsgebüh¬
ren, das „öventuel“, wurde 1876 abge¬
schafft und durch Gehaltserhöhung er¬
setzt.
Endlich hat die französische Universi¬
tät noch die sehr beachtenswerte Ein¬
richtung der freien Kurse. Wer sich,
ohne in der Universitätslaufbahn zu
stehen, auf irgendeinem wissenschaft¬
lichen Gebiet ausgezeichnet hat, kann
durch den Universitätsrat mit der Ab¬
haltung von Vorlesungen auf seinem
Gebiet beauftragt werden. Ein solcher
Lehrauftrag läuft auf ein Jahr, Ver¬
längerung ist vorgesehen. —
3.
Für die wichtigsten Angaben über
die Studenten, ihren Studiengang, ihre
Examina werde ich mich nun ganz an
Paris halten. Es hatte im Januar 1914
17308 Studenten, darunter 2200 Frauen,
wovon fast genau die Hälfte Französin¬
nen waren. 2 ) In jener Propaganda¬
schrift von 1918: „La vie universitaire
ä Paris“, heißt es mit Nachdruck: „Le
principe de la liberfe acad6mique n’est
pas moins eher aux Universitas fran-
gaises qu’aux Universitas allemandes.“
2) Was die weibliche Dozentur anlangt,
so wird M rae Curie noch ganz und gar als
Ausnahme hingestellt.
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58
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
57
Das zeigt, was der französische Stu¬
dent anstrebt, aber nicht, was er be¬
sitzt. Man kennt die unsere Studenten
geradezu komisch anmutende Bestim¬
mung, wonach der Dekan mindestens
einmal im Jahr an den Vater oder Vor¬
mund jedes Studierenden ein bulleti-n
scolaire über Fleiß und Studienergeb¬
nisse zu senden hat. Aber ganz abge¬
sehen von dieser pennalmäßigen Be¬
stimmung, ist der französische Student
(soweit er der Staatsprüfung zustrebt)
auf Schritt und Tritt gebunden. Ihm
sind von Jahr zu Jahr bestimmte Vor¬
lesungen vorgeschrieben (so haben
denn auch die Professoren den Berufs¬
studenten gegenüber keine freie The¬
menwahl in unserem Sinn), er muß
Zwischenprüfungen ablegen, er hat sich
in Abschlußprüfungen mit Formelwe¬
sen und Bureaukratismus um kein Haar
weniger herumzuschlagen als der deut¬
sche Student, der während des Studien¬
ganges selber ungleich freier ist. Der
Beamtenstudent muß das Bakkalaureat
besitzen, das unserem Abiturienten¬
examen entspricht. Die Mittelschulen
(Iyc6es: staatliche, Colleges: munizipale)
enthalten seit 1902 auf gemeinsamer
Basis Gabelungen, die teils zum huma¬
nistischen, teils zum neusprachlichen,
teils zum naturwissenschaftlichen Stu¬
dium besonders vorbereiten. Sie legen
also den Betrieb unserer Mittelschulen
enger zusammen. Das Bakkalaureat je¬
der Abteilung gibt das gleiche Recht
zum Universitätsstudium. Auch mit
einigen anderen Vorbildungen, z.B. für
Lehrerinnen, ist das Universitätsstu¬
dium erlaubt (aber nicht in der Medi¬
zin und Pharmazeutik). Wer ein Staats¬
examen ablegen will, das durchweg ein
Universitätsexamen ist, hat sich nicht
nur zu immatrikulieren, sondern auch
zu inskribieren. Die Inskription, unse¬
rem Belegen der Vorlesungen zu ver¬
gleichen, aber doch wesentlich anders,
ist während des Schuljahres, November
bis Ende Juni, viermal mit je 32.50 Frcs.
zu leisten, und für jedes Examen ist
eine genaue Anzahl solcher Inskrip¬
tionen vorgeschrieben. Einen Wechsel
der Universität darf der Student nur
auf Antrag und mit Erlaubnis vorneh¬
men, üblich ist solcher Wechsel nicht.
Der Besuch der Vorlesungen und
Übungen wird kontrolliert, bei man¬
gelndem Fleiß kann der Fakultätsrat
eine neue Inskription verweigern. Je¬
der Student ist von Anfang an Kan¬
didat bestimmter Examina und darf
vom vorgeschriebenen Examenspfad
nicht abweichen. (Daß Nebenkollegien
erlaubt sind, daß es ein Stipendienwe¬
sen, „bourses“, und Gebührenerlaß
gibt, versteht sich.)
Ich skizziere einige Hauptstudien¬
gänge schematisch. Ein Jurist erwirbt
nach dem ersten Studienjahr (immer
mit vorgeschriebenen Kursen) durch
eine erste Prüfung einen Befähigungs¬
nachweis. Nach dem zweiten Jahr legt
er das juristische Bakkalaureatsexamen
ab. Nach dem dritten Jahr die Licence-
prüfung. Die Licence entspricht im all¬
gemeinen unserem Doktorexamen, ist
aber Staatsprüfung. Will der Studie¬
rende zur rein wissenschaftlichen Lauf¬
bahn, zur Professur, so hat er noch
zwei weitere Jahre zu studieren und
dann zu promovieren. Man wird in
Frankreich sehr viel seltener Doktor
als in Deutschland, und die Doktor¬
dissertationen sind weit umfang- und
meist auch inhaltreicher als bei uns,
sind eher unseren Habilitationsschriften
zu vergleichen. Der Doktorand hat au¬
ßer der schriftlichen Arbeit eine These
vorzulegen, hat sie zu verteidigen und
ein Examen zu bestehen. Die juristische
Fakultät verleiht zwei Doktordiplome,
eines für die Rechtswissenschaft und
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59
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
60
eines für die politischen und ökono¬
mischen Wissenschaften.
Die Mediziner studieren ein vorberei¬
tendes Jahr an der Facultö des Scien¬
ces und erlangen hier durch Examen
ein Certificat d’ötudes physiques, chi-
miques et naturelles, dann sind vier Jahre
— es werden aber mehr — und vier
Examina an der medizinischen Fakul¬
tät vorgeschrieben. Das Doktorexamen
mit Dissertation und zu verteidigender
These ist das eigentliche Staatsexamen.
Die FacultG des Sciences übernimmt
einmal jene Vorbereitung der Medizi¬
ner. Sie bereitet außerdem zur Lioenoe
es Sciences vor, die die Lehrbefähigung
für naturwissenschaftlichen Unterricht
gibt. Hier sind drei Studienjahre und
drei Zwischenprüfungen vorgeschrieben.
Der Kandidat darf sich aus (in Paris)
18 verschiedenen Fächern drei Spezial¬
fächer zusammenstellen. Er wird münd¬
lich, schriftlich und praktisch geprüft.
Den Docte.ur es Sciences kann man
ebenfalls in verschiedenen Gruppierun¬
gen erwerben; er bedarf längeren Stu¬
diums und wird, wie bei den Juristen
und Philosophen, nur von denen ange¬
strebt, die zur eigentlichen Gelehrten¬
laufbahn wollen.
Die Facultö des Lettres endlich führt
den Studenten durch vorgezeichnete
Kurse zur Licence es Lettres. Es wer¬
den nur vier Inskriptionen gefordert,
aber das Studium dauert bedeutend
länger. Vorgesehen sind die Examens¬
gruppen 1. Philosophie, 2. Geschichte
und Geographie, 3. klassische Sprachen,
4. lebende Sprachen. Wie lange der
Kandidat weiterstudieren muß, um
ein Doktorexamen abzulegen, ist nicht
vorgeschrieben, er bedarf auch keiner
weiteren Inskriptionen. Ebenso gibt es
hier kein mündliches Doktorexamen.
Zwei gedruckte Abhandlungen, eine
französische und eine meist lateinische
sind zu liefern und danach vor der
Fakultät zu verteidigen. Einen höheren
Grad der Lehrbefähigung erwirbt man
durch den erwähnten staatlichen Kon¬
kurs der Agr6gation, woran sich meist
mehr Kandidaten beteiligen, als Plätze
zu vergeben sind. — —
Man sieht: Vorschriften bis ins Ein¬
zelne, Examen überall, festes Gängel¬
band bis ans Ende der Studien und
vor allem Zertifikate und Diplome in
Mengen. Übrigens werden die Schlu߬
diplome durchweg vom Minister aus¬
gestellt. In den Anstalten, die der Uni¬
versität angegliedert oder mehr oder
minder fest verknüpft sind, herrschen
ganz ähnliche, allenfalls noch engere
Vorschriften. Ich nenne die ficole nor¬
male supörieure, eine Schule für höhere
Lehrer beider Sektionen, früher selb¬
ständig, jetzt unmittelbar zur Universi¬
tät gezogen, die pharmazeutische Hoch¬
schule, die Ecole pratique des Hautes
fitudes mit ihren historischen, philolo¬
gischen, religionswissenschaftlichen Ab¬
teilungen, die ficole nationale des lan-
gues orientales vivantes, die ficole des
Chartes (für Historiker), die ficole du
Louvre für Kunsthistoriker und Mu¬
seumsbeamte.
4.
Nun wohnt diesem ganzen bureau-
kratischen Bau, den ich hier nur flüch¬
tig und beispielsweise skizziert habe,
an sich noch keine entscheidende Be¬
weiskraft für die Verknöcherung des
französischen Universitätswesens inne.
Vielmehr kommt alles darauf an, wel¬
cher Geist in dem umständlichen Hause
herrscht. Und wiederum haben wir nun
sehr bezeichnende und sehr gut fun¬
dierte Äußerungen zweier Franzosen.
Unter dem Pseudonym Agathon lie¬
ßen Henri Massis und Alfred de Tarde
1910 gemeinsam eine Reihe von Stu¬
dien erscheinen, die großes Aufsehen
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Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
62
erregten und unter dem Titel
„L’Esprit de la Nouvelle Sor¬
bonne“ ein Jahr später als Buch her¬
auskamen. 3 ) Das Buch befaßt sich nur
mit den literarisch-philosophischen und
pädagogisch - soziologischen Fächern,
Naturwissenschaften und Recht nur
streifend; aber gerade aus jenen Diszi¬
plinen ersehen wir ja am ehesten den
allgemeinen Geist der französischen
Hochschule. Agathon erhebt im wesent¬
lichen drei Vorwürfe gegen die Sor¬
bonne, die eng miteinander Zusammen¬
hängen, die in der gleichen Zeitströ¬
mung begründet sind, und die auch uns
im höchsten Grade angehen. Einmal:
man hatte in Frankreich wie bei uns
die realistische Schulvorbildung für
alle Universitätsdisziplinen zugelassen,
man nannte das, wie bei uns, demo¬
kratischer und praktischer. Agathon
predigt die immer und immer wieder
von der Zeitströmung überrauschte
Selbstverständlichkeit, daß man sich so
weder demokratisch noch praktisch ver¬
halte; daß Wissenschaft, die sich zum
Volke herablasse, das Volk nicht
ehre und nicht fördere, und daß nichts
unpraktischer sei im Wissenschaftlichen
als mangelhafte Vorbildungen und
Niveausenkungen. Sodann wendet er
sich gegen das Vorherrschen des na¬
turwissenschaftlichen und historischen
Prinzips in allem Philosophischen. Daß
es in der Psychologie nur noch experi¬
mentelle Psychologie gebe, in der Philo¬
sophie an der Sorbonne nur noch Ge¬
schichte der Philosophie, auf dem Ge¬
biet der Pädagogik und Moral nur noch
soziologische Fakta — und daß alles
Individuelle, daß alles eigentlich Gei¬
stige ausgeschaltet sei als unsachlich,
undemokratisch, unsozial. Und endlich
bekämpft Agathon auf literarisch-philo-
3) Auch sonst fehlte es der Sorbonne
nicht an Angreifern der gleichen Sinnesart.
logischem Gebiet das, was er die deut¬
sche Methode nennt, was an den an¬
deren Verirrungen mitschuldig, und
was ja auch nur eine andere Erschei¬
nungsweise des gleichen Geisteszustan¬
des ist. Er bekämpft auch hier ein zu
naturwissenschaftliches, zu rein histo¬
risches Vorgehen. Das Kunstwerk als
solches werde nicht mehr aufgenom¬
men, man analysiere es zu Tode, suche
nach Einflüssen, nach Quellen, nach
Ideenverbindungen von Autor zu Au¬
tor. Man spezialisiere sich mit Pedan¬
terie, über winzige Einzel fragen wür¬
den lange Vorlesungen gehalten, lange
Arbeiten geschrieben, der Student
werde in solchen Seminarien, die sich
ihrer selber spottend bisweilen „Labo¬
ratorien" betitelten, von Anfang an um
jede Allseitigkeit, um jede Aufnahme¬
fähigkeit eines ganzen Kunstwerkes ge¬
bracht, er werde gewaltsam zum ge¬
lehrten Facharbeiter herabgedrückt, der
seine ganze Zeit einem Einzelmecha¬
nismus der Sprache oder eines literari¬
schen Werkes widmen müsse, und als
unwissenschaftlich getadelt werde und
durchs Examen falle, wenn er sein
Augenmerk auf ein Ganzes richte.
Worunter denn der französische Geist
und die französische Form leide. Die
Sorbonne überschwemme Frankreich
immer mehr mit Lehrern, die wohl eine
pedantische Einzeluntersuchung anstel¬
len, aber keinen klaren und schönen
Aufsatz mehr schreiben, keiner Dich¬
tung als Dichtung mehr gerecht wer¬
den könnten. Und daran sei Deutsch¬
land schuld, der Sieger von 1870. Es
habe eben nicht nur mit den Waffen
gesiegt, sondern den Unterlegenen auch
seine geistigen Methoden als ein frem¬
des Joch aufgezwungen. Übrigens ist
Agathon unparteiisch genug zu der Er¬
klärung, daß man an der Sorbonne die
deutschen Methoden sklavisch nach-
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63
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
64
ahme, daß man sie plumper, lebloser
befolge als in Deutschland selber, daß
man sich bei uns doch nicht auf rein
naturwissenschaftliches Analysieren in
den Geisteswissenschaften beschränke,
auf bloße Pedanterie, auf die ihm ganz
besonders verhaßte Zettelsammlerei,
die zur Veröffentlichung geist- und
formloser Materialkompendien führe.
Man habe sich in Deutschland trotz
der fatalen Methoden zu Synthesen
aufgerafft, man (habe bei uns auch
Hochachtung vor der Form. Dagegen
laute der Grundsatz der Sorbonne:
„Nous n’avons pas besoin de talents ici
ni d’esprits ingGnieux: nous n’avons
besoin que de travailleurs... Le travail
de l’esprit s’achemine de plus en plus
vers l’automatisme du travail manuel.
Encore le talent est-il moins pris6, en
Sorbonne, que l'habiletö d’un ouvrier,
ä rusine." (S. 77.)
Diese Neigung nun zu verzopfter Pe¬
danterie und geistaustreibendem Spe¬
zialwissen ist dem modernen Sorbonne¬
betrieb offenbar eigentümlich; wir fin¬
den sie keineswegs nur durch den
feindseligen Kritiker Agathon unter¬
strichen, wir finden sie auch durch die
Themen der Vorlesungen und der ge¬
lieferten Arbeiten und die Examens¬
aufgaben bestätigt, und diese Neigung
ergänzt freilich böse das Bild des knö¬
chernen Bureaukratismus, das sich aus
dem Aufbau des Universitätswesens er¬
gab.
5.
Aber in einem Punkt hat Agathon
doch wohl nicht ganz recht. Es ist
sicherlich nicht bloß der naturwissen¬
schaftliche, mechanistische, sozialisti¬
sche Geist des neueren Frankreich, der
Einfluß Deutschlands und seine über¬
trieben nachgeahmte Methode, was
diese Verknöcherung hervorruft, son¬
dern die Verknöcherung des Universi¬
tätskernes scheint mir eine menschlich
mehr als begreifliche Reaktion gegen
andere allzusehr ins Oberflächliche, ja
oft ins Verlogene geratende Teile des
Universitätsbetriebes. Erinnern wir uns
des zu Anfang dieser Ausführungen
Bemerkten: Um den Kern der Universi¬
tät legen sich zwei geschmeidige
Kreise. Man kann alle französischen
Vorlesungen billiger und bequemer ha¬
ben, sobald man auf die Staatsprüfun¬
gen verzichtet. Dann läßt man sich nur
immatrikulieren, wozu an Vorbildung
keine Ansprüche gestellt werden. Ja,
man kann (nicht gerade die Übungen
und auch nicht alle, aber) sehr viele
Vorlesungen ganz umsonst haben, in¬
dem ein Kolleg, bei dem von Dekanats
wegen nichts anderes bemerkt wird, je¬
dem von der Straße Hereinkonimenden
zugänglich ist. Nun bedenke man, wie¬
viel bei einem redefreudigen und doch
ganz anders noah als wir auf die
Öffentlichkeit eingestellten und reagie¬
renden Volk solche Publizität, solch ein
fluktuierendes und zu einem Teil mehr
unterhaltungs- als belehrungsbedürfti¬
ges Publikum wirken muß! Ich will ein
Beispiel aus eigener Erfahrung geben.
In der Geschichte des französischen
Theaters spielt die Hernanischlacht von
1830 eine große Rolle. Damals siegte
die neue romantische Richtung über
den Klassizismus. Nun erzählte Th6o-
phile Gautier, Viktor Hugos begeister¬
ter Anhänger, wie er an jenem Tage,
um das Philisterpublikum zu ärgern,
die malerischste, auffallendste, roman¬
tischste Weste getragen habe. Über
diese rote Weste, ihren Zuschnitt, ihren
Glanz, ihre Knöpfe, habe ich einen Or¬
dinarius der Sorbonne im Jahre 1903
geschlagene 30 Minuten reden hören.
Das Wesen des umkämpften Stüokes,
das eigentlich Literarische und Wissen¬
schaftliche an der ganzen Hernanian-
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65
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
66
gelegenheit, dies alles mußte sich mit
dem Rest der Stunde begnügen. Ich
will nicht übertreibend verallgemei¬
nern; aber ich habe doch bei noch man¬
chem Anlaß an die rote Weste denken
müssen, sie ist mir ein Symbol geblie¬
ben, nicht so sehr für die Romantik von
1830 als für die allgemein zugäng¬
lichen Vorlesungen der Sorbonne. —
Wir beschäftigen uns in Deutschland
heute lebhaft mit der Frage, wie man
dem Arbeiter Universitätsbelehrung un¬
mittelbar zugänglich machen könne,
und die Bestimmung, daß jeder von der
Straße aus in den Hörsaal treten dürfe,
mag manchem lockend erscheinen. Was
nun das Publikum dieser Vorlesungen
anlangt, so habe ich Arbeiter ganz ge¬
wiß nicht unter ihnen gesehen, und für
sie wären solche witzelnden Spiele¬
reien auch wenig angebracht gewesen,
auch die junge wildgewachsene Intelli¬
genz fehlte, sozusagen unser Schwa¬
bing, wie es in München während der
Räterepublik im Auditorium maximum
den Abendunterhaltungen der kommu-
nisierten Wissenschaft (übrigens auch
unter freiwilligem Ausschluß der Ar¬
beiter!) lauschte. Sondern was den Saal
füllte, war doch zum sehr großen Teil
der Schwarm der jungen Damen, die
in Konzerten und gesellschaftlichen
Veranstaltungen zu sitzen pflegen. —
Viel belastender aber als diese völ¬
lige Öffentlichkeit erscheint mir eine
mittlere Einrichtung der Universität.
Seit 1897 hält sie außer den Staats¬
prüfungen auch akademische ab, wo
man alle Titel ebenfalls und billiger
(im geistigen Sinne vor allem) haben
kann. Gewiß, wir in Deutschland ha¬
ben auch staatliche und akademische
Prüfungen. Aber sie werden doch von
ganz verschiedenen Kommissionen nach
ganz verschiedenen Gesichtspunkten
abgehalten, es ist doch nicht so, daß
Internationale Monatsschrift
die deutsche Universität einem Teil
ihrer Studenten sagt: Ihr könnt unsere
Prüfungen bequemer bestehen, unsere
Titel bequemer haben, wenn ihr auf
staatliche Anstellungen verzichtet. Son¬
dern die deutsche Universität als solche
fordert von jedem Examinanden die
gleiche Vorbildung und die gleichen
Kenntnisse und kümmert sich als Uni¬
versität nicht um seine Staatsexamina.
Das scheint mir unverquickter und
reinlicher. Die französischen Universi¬
täten dagegen kennen durchweg neben
den „Examens“ und „Diplomes“ schlecht¬
hin noch die „Diplomes d’Universitö“.
Gewiß ist das oberste, das Dootorat
d’Universitö, überall noch an ernstliche
Bedingungen geknüpft, wenn auch
durchweg an leichtere als das Doktor¬
diplom schlechthin. Aber unterhalb des
Doktorats gibt es eine ganze Reihe
von Universitätsdiplomen, bis hinab
zur. bloßen Bescheinigung, daß man
einem Kurse beigewohnt habe, und
auch diese Bescheinigungen sind doch
schließlich gestempeltes Papier, wor¬
auf es ankommt, und in solchen nied¬
rigeren Diplomen steckt nun viel Schein
und wenig Wahrheit. So kennt die Pa¬
riser juristische Fakultät neben dem
Dootorat de l’Universitö de Paris ein
Certificat de science pönale und ein
Certificat d’fitudes administratives et
financjeres, so geben die vorhin er¬
wähnten Hochschulen allerhand Di¬
plome, so hat die medizinische Fakul¬
tät einen besonderen Universitätsdok¬
tortitel für den Fremden, und, wohl¬
gemerkt!, dieser Titel ne confere
pas le droit d’exercer la möde-
cine en France. Und dies ist nun
der springende Punkt, und das macht
diese ganze Angelegenheit so peinlich
und anrüchig und erniedrigt die fran¬
zösische Universität mit Notwendig¬
keit: Diese ganzen Dinge sind gar
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67
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
nicht, oder doch keineswegs in erster
Linie, für die Franzosen da. Vielmehr
sind sie auf den Ausländer berechnet;
ihn lockt man, ihm vermittelt man auf
bequeme Weise französische Kultur,
d. h. den Geschmack, den Schein, die
Oberfläche davon, ihm bescheinigt man
die Halbbildung (um dem Ding einen
großen Namen zu geben, in Wahrheit
ist es oft keine Viertelsbildung!) als
ganze und läßt ihn dann mit seinem
französischen Diplom aufs Ausland,
zumeist das halb- oder ganz asiatische,
los. Da wird er mit seinem Pariser
Zeugnis Geld verdienen und in ma-
jorem gloriam der französischen Kul¬
tur und der französischen Politik wir¬
ken. Ich habe die Bemühungen der
französischen Regierung um die stu¬
dierenden Ausländer und ihre leichten
und fabelhaften Erfolge oft und nicht
ohne Neid beobachtet, und heute wis¬
sen wir ja alle, was für Stimmungs¬
erfolge erzielt wurden, und wie sie po¬
litisch ausgemünzt worden sind. Den¬
noch: dieser Neid war töricht, und der
Himmel möge uns in Deutschland vor
ähnlichen Einrichtungen bewahren! Denn
es wimmelt von Ausländern an den
französischen Universitätsinstituten, und
indem man ihnen nicht etwa die ganze
und reine Wissenschaft zugänglich
macht, sondern sie nur eben obenhin
kosten läßt, und indem man für sol¬
ches Scheinwesen einen besonderen
Examens- und Diplomapparat ins Werk
gesetzt hat, hat man den eigentlichen
Wissenschaftsbetrieb erniedrigt. Noch
einmal: ich glaube, daß die Starrheit
des Universitätskernes eine Reaktion
auf diesen schleimigen Außenbetrieb ist.
6 .
Dennoch darf man natürlich nicht
verkennen, daß (abgesehen von der
schlauen politischen Kulturpropaganda)
68
sehr reine und hohe Absichten hinter
dieser Dreiteilung stehen: ernsteste
Kontrolle des für den Staatsdienst Vor¬
zubereitenden, reiche Studienmöglich¬
keit für den Gebildeten, allgemeine Be¬
lehrung für absolut jeden. Und es gibt
nun zum mindesten ein Hochschulin¬
stitut in Paris, wo man dem ersehnten
Ideal ohne viel schädliche Nebenwir¬
kungen ziemlich nahe kommt. Das ist
das College de France. Von Franz 1.
gegründet, um die Ideen der Renais¬
sance dem Mittelalter entgegenzustel¬
len, hat es die Jahrhunderte hindurch
(auch von der Revolution kaum an-
gefochten) immer mehr oder weni¬
ger seinen eigenen fortschrittlichen Cha¬
rakter bewahrt. Für neue Zweige der
Wissenschaft, damals für Griechisch
und Hebräisch, ausdrücklich gegründet,
hat es immer nach Ernest Renans
Wort — Renan war sein Administra-
teur von 1884—92 — vor allem ä la
science en voie de se faire ge¬
dient, dabei aber doch natürlich die so¬
zusagen fertige oder offizielle Wissen¬
schaft nicht vernachlässigt. So hebt
auch Agathon hervor, daß Bergson am
College de France seine Philosophie
vortragen durfte, während die Sor¬
bonne ihn mehrfach refüsierte. Mau¬
rice Croiset, der gegenwärtige Leiter
des College, führt in „La vie Universi-
taire h Paris“ die freie Sonderstellung
des Instituts auf zwei Punkte zurück.
Einmal ist für die Dozenten kein be¬
sonderer Grad oder Bildungsgang vor¬
geschrieben; jeder Gelehrte oder Er¬
finder, der sich durch irgendwelche Ar¬
beit ausgezeichnet hat, kann berufen
werden. Und zweitens: das College de
France bereitet zu gar keinem Examen
vor. So hat denn Forschung und Lehre
hier freieste Möglichkeiten. Die gegen¬
wärtige Organisation ist derart gestal¬
tet: Das Staatsbudget enthält die Be-
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PRINCETON UNIVERSff^^"
69
Victor Klemperer, Das französische Universitätswesen
70
soldungen für die 40 Lehrstühle. So¬
bald eines dieser Katheder vakant ist,
hat die Gesamtheit der Professoren dem
Minister vorzuschlagen, entweder es
neu zu besetzen, oder an seiner Stelle
einen Lehrstuhl für eine andere Diszi¬
plin einzurichten. Weiter schlägt dann
die Versammlung der Professoren zwei
Kandidaten vor, die also nicht einen
bestimmten Grad zu haben brauchen;
zwei andere Kandidaten präsentiert die
Akademie. Der Minister trifft die Aus¬
wahl, der Präsident der Republik voll¬
zieht die Ernennung. Neben den staat¬
lich vorgesehenen Lehrstühlen gibt es
(wie auch an der Sorbonne) noch einige
aus privaten Stiftungen; sie werden
ebenso besetzt. Das College de France
lehrt im wesentlichen das, was die Sek¬
tionen I und II unserer philosophischen
Fakultät umfassen. Es hat Seminarien
und Laboratorien. Prinzipiell ist jede
Vorlesung und Übung jedem kosten¬
los zugänglich. In Wahrheit besteht
diese absolute Publizität natürlich nur
für die Vorlesungen; für die Übungen,
Seminare und Laboratorien bedarf es
der besonderen Erlaubnis des Profes¬
sors, der sich sein Arbeitsgebiet frei
wählt, und der selbstverständlich nur
den vorgebildeten Studierenden zur
Übung oder gar zur Mitarbeit zuläßt.
Es versteht sich, daß hier freie und
ernste Arbeit geliefert wird, es gibt hier
auch gelegentlich ehrenvolle Erwäh¬
nungen und Preise, aber keine Examina
und keine Grade. Nur die Certificats
d’assiduit£ mit der Unterschrift des
Professors und des Administrateur
(Rektors) kann man auch im College
de France haben, für die Teilnahme an
den Übungen sowohl wie an den Vor¬
lesungen. Diese Vorlesungen, die also
ohne jede Formalität jedem zugäng¬
lich sind — ihr Programm erscheint
im Oktober, und sie dauern vom 1. De¬
zember bis zum 30. Juni —, geben dem
College de France sein eigentliches öf¬
fentliches Gepräge. Und hier steht es
nun nach meinen eigenen Erfahrungen
und nach dem, was ich sonst darüber
an Verbürgtem weiß, auf sehr hohem
Niveau. Von verflachenden Vorträgen,
von Popularisierung im üblen Sinn ist
wohl durchweg keine Rede. Ich habe
z.B. am College de France Joseph Be-
dier über französische Volksdichtung
reden hören. Das war wirkliche Wis¬
senschaft, wirklich neues Forschungs¬
ergebnis, keineswegs allzu einfach und
voraussetzungslos verständlich, aber in
der anziehendsten, gepflegtesten, in ge¬
radezu künstlerischer Form vorgetra¬
gen. Natürlich richten sich nun solche
Vorträge nicht an ein Publikum, wie es
uns Deutschen bei dem Namen Volks¬
hochschule vorschwebt. Sie sind nicht
für Akademiker allein berechnet, das
gewiß nicht, aber doch für eine sehr
gebildete Gesellschaft, für das gleiche
Publikum, das in die besten literari¬
schen Theater geht, das in den besten
Salons zu finden ist, sie sind bei allem
Ernst doch ein feinstes gesellschaft¬
liches Ereignis, sie haben ihren typisch
französischen unübertragbaren Ein¬
schlag, sind 18. Jahrhundert besten Stils
vor 1789, sind Rokoko. Ich weiß eine
Anekdote, die die Sache ein wenig ins
Simplizissimuslicht stellt, aber doch
mehr scharf als gehässig beleuchtet.
Wenn Bergson sprach, so war das eine
solche gesellschaftliche Begebenheit,
daß die Damen der obersten Schicht
lange vor Beginn Plätze durch ihre
Lakaien belegen ließen, um dann im
letzten Augenblick vor Beginn der Kon¬
ferenz selber zu erscheinen. Eine dieser
Damen stürzt nach dem Vortrag auf
Bergson zu, ergreift seine Hände und
ruft: „O Meister, Sie haben mir eine
solche Sympathie für die Philosophie
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72
Victor Klemperer, Das französische Üniversitätswesen
eingeflößt, mais un tel goüt pour la
Philosophie, wie ich das vordem nie
für möglich gehalten hätte!“ Worauf
Bergson ihr die Hand schüttelt und er¬
widert: O pardon, Madame, pardon!“
— So wird man in diesem freiesten
französischen Hochschulinstitute, dem
andere mehr oder minder in ihrer Art
nacheifern — die ficole du Louvre bie¬
tet allgemeine Belehrung in der Kunst¬
geschichte, die ficole pratique des hau-
tes ötudes nimmt auch den kostenlos
in ihre historisch-philologischen und
religionswissenschaftlichen Seminare
auf, der kein Abiturientenzeugnis be¬
sitzt — so wird man hier Anregung
finden, aber kaum sehr vieles, was
sich unmittelbar auf Deutschland über¬
tragen ließe.
Und eines wird man überall im fran¬
zösischen Hochschulwesen vermissen,
wenn es sich auch noch so frei an je¬
dermann wendet: der Jedermann ist
doch immer nur der Vorgebildete, und
das Proletariat, der Arbeiter schlecht¬
hin, fehlt dabei, an ihn hat man ganz
offenbar nicht gedacht. Im Jahre 1913
bin ich in Paris einer Einrichtung be¬
gegnet, die noch im Keime steckte,
und für die man viel Reklame machte.
Sie nannte sich Universit6 populaire,
wandte sich betont an das eigentlich
proletarische Volk, an den Arbeiter,
war betont sozialistisch. Das Lokal,
eine große aber sehr erbärmliche und
kahle Spelunke, lag weit draußen im
Faubourg St. Antoine, das etwa dem
Münchener Giesing oder dem Berliner
Wedding entspricht. Das Publikum be¬
stand aus wirklichen Arbeitern und
ihren Angehörigen. Die Leute waren
rührend dankbar für alles Gebotene und
von musterhafter Aufmerksamkeit.
Aber was wurde ihnen geboten! Frei¬
lich, an Namen fehlte es den Vortra¬
genden nicht: Professoren, Schauspie¬
ler, Deputierte behandelten dort die
verschiedensten Dinge. Aber im gün¬
stigsten Fall gab es sehr oberfläch¬
liche Belehrungen und Belustigungen:
so wurden Bilder aus Alt-Paris vorge¬
führt oder Weihnachtslieder und
-bräuche. Für den ungünstigeren Fall
möchte ich ein Beispiel anführen, das
sich mir so fest eingeprägt hat wie
Gautiers rote Weste. Ein Redner sprach
über Polen. Er sagte, es gehe den Po¬
len in Rußland ganz gut, in Öster¬
reich schlecht, aber immerhin noch er¬
träglich, dagegen in Preußen! Hier
zwinge man die unschuldigen Kiemen,
ihr Vaterunser in der Schule deutsch
statt polnisch zu beten, und wenn sie
stockten, werfe man ihre Eltern ins Ge¬
fängnis, und manches schwangere Po¬
lenweib habe in Posenschen Kerkern
unter den Fußtritten preußischer Kü¬
rassierstiefel abortiert. Das wurde in
einer „Volksuniversität“ vor sozialisti¬
schen Arbeitern doziert, und die betro¬
genen Leute lauschten gläubig und em¬
pört. Wie oft habe ich hieran denken
müssen, wenn von deutscher Kriegs¬
schuld und französischer Unschuld die
Rede war!
Aber ich bin mit dieser Universite
populaire über mein Thema hinausge¬
raten oder habe es doch nur negativ
ergänzt. Wir selber würden uns hüten,
eine so traurige Einrichtung mit dem
Ehrentitel Volkshochschule zu belegen.
Daß das in Paris möglich war, ist wohl
ein indirekter Beweis dafür, daß eine
wirkliche Volksuniversität (von Fach-
und Fortbildungsschulen natürlich ab¬
gesehen) dort nicht besteht. In der Sor¬
bonne selber jedenfalls mit all ihren
Nebeninstituten haben wir sie nicht zu
suchen.
Die französische Universität hat drei
Funktionen: sie erzieht, recht bureau-
kratisch, den Staatsbeamten; sie ver-
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75
Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
76
der Aram von der anderen Seite her von
Zeit zu Zeit angriff und schließlich über¬
wältigte, Luft bekommen hätte. Darum
begegnen uns in diesen aramäischen
Feldzügen eine Reihe von überraschen¬
den Wendungen; eine solche wird uns
im folgenden erzählt — Eine schwierige
Frage besonderer Art enthält der Name
des aramäischen Königs, hebräisch Ben-
hadad, in der griechischen Übersetzung
„Sohn Ader", keilinschriftlich Adad-idri
oder Bir-idri 1 2 ). Es muß mehrere Kö¬
nige dieses Namens gegeben haben; hier
ist Benhadad II. gemeint. Für die Beur¬
teilung der Art des folgenden Berichtes
ist von Bedeutung, daß darin der Name
des aramäischen Herrschers genannt,
der des israelitischen dagegen ver¬
schwiegen wird. Der fremde König, der
so viel Zerstörung und Elend über die
Israeliten gebracht hat, hat sich dem
Gedächtnis der Menschen, die sich von
ihm voller Grausen erzählten, unaus¬
löschlich eingeprägt, während sie den
unbedeutenderen einheimischen verges¬
sen haben. Der Zusammenordner der
Königsbücher hat die Geschichte unter
Joram, Ahabs Sohn, gestellt und scheint
damit, wie das Folgende zeigen wird,
das Richtige getroffen zu haben. Das
Ereignis wird, unter der Voraussetzung,
daß Israel damals durch Eingreifen der
Assyrer gerettet worden ist, in Jorams
letzte Jahre fallen; am Schluß sei¬
ner Regierung kann er dann die Grenze
Israels gegen Aram wieder verteidi¬
gen 8 ); die Zeit ist also etwa 850.
Benhadad versammelte sein ganzes
Heer: den Königen von Damaskus ge¬
horchte damals ganz Aram 3 ); in dem
Ausdruck liegt zugleich, daß es eine
ungeheure, bei weitem überlegene Masse
1) Vgl. darüber zuletzt R. Kittel, Geschichte
des Volkes Israel Bd. II, 3. Aufl. S. 395 A. 3.
2) Vgl. I. Könige 8, 29.
3) Vgl. I. Könige 20, 1. 24.
| war, die so gegen Israel aufgeboten
wurde. Er zog hinauf, vom Jordan in
das mittelpalästinensische Bergland,
und belagerte (blockierte) Samarien. Bei
diesen Worten wird vorausgesetzt, daß
vorher die israelitische Grenzw'ehr
überwältigt und das Heer geschlagen
war, so daß sich die Aramäer jetzt
anschicken konnten, sich gegen die
Hauptstadt selber zu wenden, um dem
unglücklichen Volke den Todesstoß zu
versetzen. Merkwürdig also, wie kurz
dieser Bericht erzählt, daß er so wich¬
tige Dinge völlig ausläßt. Der Leser
prkennt an solchem seltsamen Ver¬
schweigen den Stil der Einführung
einer hebräischen Erzählung: der Künst¬
ler drängt dabei mit ungemeiner Kraft
auf die Hauptsache und läßt alles, nicht
durchaus Notwendige aus. Der eigent¬
liche Inhalt der Geschichte aber soll
im folgenden die Belagerung und
nur diese sein. Da entstand eine große
Hungersnot in Samarien. Dieser Hun¬
ger hat den Erklärern große Schwie¬
rigkeiten bereitet: man hat etwa ange¬
nommen, daß die Belagerung der Stadt
gerade in die Zeit einer großen Dürre
gefallen sei 4 ), oder man hat sogar die
Einheitlichkeit der Geschichte bezwei¬
felt und hier die Mischung zweier ver¬
schiedener Motive, einer Belagerung und
einer durch Mißwachs entstandenen
Hungersnot, angenommen 5 ): letzteres
war freilich eine arge Versündigung an
der Schönheit der Erzählung, die in
Wirklichkeit von straffster Geschlossen¬
heit ist. Merkwürdig, daß es noch immer
Forscher gibt, die bei aller Gelehrsam¬
keit von einer sonderbaren Unerfahren¬
heit in den Dingen dieser Welt sind,
oder die eine auffallende Unempfindlich¬
keit in ästhetischen Dingen zeigen! In
Wirklichkeit aber ist die Sache ganz ein-
4) Kautzsch, Kittel.
5) Winckler, Benzinger.
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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
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fach: infolge der Belagerung entstand in
der eingeschlossenen Stadt eine furcht¬
bare Teuerung, wie in dem belagerten
Paris 1870/71 oder in dem blockierten
Deutschland unserer traurigen Tage.
Und 'sie' bedrängten es, bis daß ein
Eselskopf 80 Sekel galt und 1 / 4 Kab
Taubenmist 5 Sekel. Auch hier ist
die Art hebräischen Erzählungsstils zu
erkennen: allgemeine Erörterungen
kann und will diese Kunst nicht geben,
aber sie handhabt ein Mittel, das dich¬
terisch wirksamer ist: sie entnimmt
einem ganzen Zusammenhänge einen
Einzelzug, aus dem alles andere deut¬
lich wird. Hier gibt sie aus der ganzen
Belagerung zwei Preisangaben, um zu
zeigen, daß die Teuerung dabei auf
einen nicht mehr überbietbaren Punkt
gestiegen war. Im Hintergründe bleibt
dabei das Folgende. Zunächst, daß Sa-
marien eine starke Festung und mit
stürmender Hand nicht leicht zu neh¬
men war: auch den Assyrern hat es
jahrelang getrotzt; ferner, daß man den
Belagerern einen unerhört leidenschaft¬
lichen Widerstand entgegengesetzt hat:
mit der Eroberung der Hauptstadt wäre
Israels Selbständigkeit verloren gewe¬
sen und hätte sich ein unermeßliches
Meer von Elend über das unglück¬
selige Volk ergossen. So hat man da¬
mals für die Freiheit das grausamste
Leiden erduldet; wir dürfen uns in dem
Samarien jener Zeit Zustände fanati¬
scher Wut und entsetzlicher Drangsal
vorstellen, wie sie Josephus aus dem
von Titus belagerten Jerusalem schil¬
dert. — Auch die mitgeteilten Preisan¬
gaben sind den Erklärern schwierig ge¬
wesen. Man hat dergleichen Bemerkun¬
gen womöglich aus Gegenstücken an¬
derer Überlieferungen zu deuten; aber
an dem Sammeln solchen Stoffes hat
es in den letzten Jahrzehnten, von dem
assyrisch-babylonischen Gebiete abge¬
sehen, im ganzen sehr gefehlt, und
mancherlei, was unsern klassisch gebil¬
deten Vorfahren noch bekannt gewe¬
sen ist, ist dem gegenwärtigen Ge¬
lehrtengeschlechte nicht mehr vertraut.
Bei Plutarch, Artaxerxes 24 lesen wir,
daß das persische Heer einmal im
Kriege gegen die Kadusier in solche
Not geriet, daß man die Lasttiere
schlachten mußte, „und es kam so
weit, daß man einen Eselskopf kaum
für 60 Drachmen kaufen konnte". Da¬
nach ist auch der biblische Zug zu
verstehen: bei der äußersten Hungers¬
not sind das Schlachtvieh, Schafe und
Rinder, längst aufgezehrt; auch von
den Pferden ist, wie im folgenden er¬
zählt wird, der größte Teil dahin; da
wirft sich der Hunger selbst auf die
Esel, deren Fleisch sonst in Israel nicht
genossen wird, bis schließlich selbst ein
sonst so gut wie wertloser Eselskopf 80
Silbersekel, d. h. etwa 200 Mark, kostet.
Um einen Maßstab zu geben, sei hin?u-
gefügt, daß ein Sklave in Friedenszeiten
30 Sekel wert ist. 6 ) Daß sich gerade der
Preis des Eselskopfes auf so verschie¬
denen Gebieten gleichermaßen findet, ist
so zu erklären, daß dergleichen im alten
Morgenlande zur Bezeichnung schlimm¬
ster Teuerung üblich war, uns aber
durch den Zufall nur an zwei Stellen
überliefert ist Ähnliche Hungerpreise
sind folgende: bei der Belagerung Je¬
rusalems durch Titus galt ein Maß Wei¬
zen ein Talent 7 ); in dem von Hannibal
belagerten Casilinum in Campanien soll
eine Maus zu 200 Denaren verkauft
worden sein 8 ). Und weiter heißt es:
Vi Kab (d. h. 1 / g 1.) Taubenmist galt
5 Sekel, d. h. 12 Mk. Wozu mag man
Taubenmist verwandt haben? Zum
6) II. Mose 21, 32.
7) Josephus, Jüdischer Krieg V 13, 7.
8) Plinius, Hist. nat. VII57, Valerius Max.
VII 6.
k.
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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
Düngen, wozu er im gegenwärtigen
Ägypten 9 ) und auch sonst im Orient,
bei Franzosen, Italienern und unter uns
dient, wie er dazu auch bei den Grie¬
chen und Römern verwandt worden
ist? 10 ) Aber wird man in der Stunde
dringendster Gefahr an das Bestellen
der Gärten der Stadt gedacht haben? So
wird doch Josephus 11 ) recht haben,
wenn er behauptet, man habe ihn an
Stelle des Salzes verwandt 12 ); das Aus¬
gehen des Salzes war gewiß ein höchst
empfindlicher Übelstand, und Tauben¬
mist enthält wirklich neben organischen
Nährbestandteilen auch unorganische
Salze 13 ); man wird ihn unter das Brot
gebacken haben. Seltsam zusammenge¬
setztes „Kriegsbrot“ aus der Belagerung
Jerusalems durch Nebukadnezar erwähnt
auch Hesekiel H ). Daß solche Kost ekel¬
haft genug ist, ist kein Gegengrund; bei
der Belagerung Jerusalems durch Titus
hat man selbst die Kloaken und alten
Rindermist nach Eßbarem durchstö¬
bert 15 ), und die fürchterlichste Not greift
gar, wie ein assyrischer Gesandter ein¬
mal behauptet 16 ), nach dem eigenen
Kote und dem eigenen Urin. Jedenfalls
sollen die Angaben unserer Stelle den
wahnsinnigsten Hunger veranschau¬
lichen. Gleich hier lernen wir also die
Stimmung kennen, die das Zunächstfol¬
gende beherrscht: eine siedende Leiden¬
schaft. Nun sind diese Preisangaben von
so schwindelnder Höhe, daß sie gewiß
9) Thomsen, Kompendium der palästini¬
schen Altertumskunde S. 43.
10) Vgl. Olck, Art. Düngung bei Pauly-
Wissowa.
11) Josephus, Altertümer IX 4.
12) Hierauf macht mich Dietrich Herzog,
Sohn des Professors Herzog in Gießen, auf¬
merksam.
13) Dies nach gütiger Mitteilung des Pro¬
fessors Bürker in Gießen.
14) Hesekiel 4, 9.
15) Josephus, Jüdischer Krieg V 13, 7.
16) II. Könige 18, 27.
auf starken Übertreibungen beruhen.
Derartige, alles Maß übersteigende Be¬
merkungen finden sich in der alttesta-
mentlichen Erzählung verhältnismäßig
selten, die sich im allgemeinen streng an
die Wirklichkeit hält, und werden dem
Verfasser aus der mündlichen Überliefe¬
rung zugekommen sein.
Nun der erste Auftritt: der Kö¬
nig geht gerade auf der Mauer entlang;
genauer ist an den hinter der Brüstungs¬
mauer liegenden „Wallgang“ gedacht,
auf dem sich die Besatzung zum Schutze
der Mauer versammelt; von da begibt
sie sich dann im Falle der Gefahr auf
die „Auftritte“ (Banketts), von wo die
Schützen und Schleuderer das Vorfeld
übersehen und beschießen können 1T ).
Hier, bei der Truppe, ist der Platz des
Kriegsherrn, der die Verteidigung über¬
wacht; und von hier, aus der Höhe her¬
ab, übersieht er zugleich das Innere der
Stadt und wird von den umliegenden
Häusern und Höfen aus gesehen. Da
schrie ihn ein Weib an und sprach: Um
Hilfe, Herr Königl „Anschreien“ ist der
Ausdruck für den Hilferuf des Unter¬
drückten, Bedrängten an die höhere Ge¬
walt. „Um Hilfe“ (hilf doch) ist der
gewöhnliche Ruf an den König 18 ), dem
Bibelleser in der Form „Hosianna“ aus
der Erzählung vom Einzug Jesu in Je¬
rusalem bekannt 19 ): der Herrscher ist
nach israelitischer Staatsauffassung der
gewiesene „Helfer“ für sein Volk im
Kriege und vor Gericht. Aber der König
erwidert: Wenn dir nicht- 0 ) Jahve hilft,
womit soll ich dir helfen? Von der Tenne
oder der Kelter? Der König lehnt es ab,
der Helfer zu sein! Er kann in dieser
Not sein heiliges Amt nicht mehr ver¬
walten! Wie kann er anderen helfen, da
doch Tenne und Kelter leer sind! So
17) A. Billerbeck, Festungsbau im alten
Orient S. 8. 18) II. Sam. 14, 4.
19) Matthäus 21, 9. 20) ’im lo’.
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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
Art des hebräischen Stils nicht aus¬
drücklich an; aber er spricht es
mittelbar aus* indem er die Empfindun¬
gen des Herrschers schildert. Sobald
der König die Rede der Frau vernahm,
zerriß er seine Kleider. Der urtümliche
Stil pflegt das innere Leben durch die
Worte und Taten der Handelnden deut¬
lich zu machen. Das Zerreißen der (lose
gewebten) Kleider ist der übliche Aus¬
druck plötzlich aufflammender Leiden¬
schaft, hier des Entsetzens und Grauens.
So weit ist es in Israel gekommen!
Furchtbareres kann unmöglich ge¬
schehen! Und geistreich benutzt die
Erzählung diesen Zug, um daran noch
etwas anderes darzustellen; die hebräi¬
schen Erzähler sind als weise Künst¬
ler mit ihren Mitteln sehr sparsam und
bieter die ganze Beweglichkeit ihrer
Phantasie auf, um zwei verschiedene
Zwecke mit demselben Zuge zu errei¬
chen. Als der König sein Gewand zer¬
riß, sah das Volk, daß er darunter den
Sack auf bloßem Leibe trug. Der Sack,
ein grobes* härenes Zeug, ist das Kleid
des Büßers, der schwere Not abzuwen¬
den sucht. Auch der Herrscher, der in
Friedenszeiten in Herrlichkeit und Freu¬
den lebt, trägt auf seiner sonst so ver¬
zärtelten Haut in der Stille den Sack!
So schlimm ist die Drangsal, so bitter
wird sie auch von ihm empfunden!
Alles Volk schaut es — er 'stand’* 2 ) ja
gerade auf der Mauer —, und sieht es
mit Erschütterung.
Nun aber braust der König auf: So
tue mir Gott jetzt und fürderhin, wenn
das Haupt Elisas, des Sohnes Saphats,
heute auf ihm (d. h. auf seinen Schul¬
tern) bleiben wird! Die Worte sind ein
Schwur. Ein Schwur ist eine bedingte
Selbstverfluchung. Der Hauptsatz sollte
eigentlich das Furchtbare aussprechen,
32) Griechische Übersetzung nach Lucian,
Klostermann.
84
was man von der Gottheit auf sich sel¬
ber herabwünscht. Aber solche Worte
würden so entsetzlich sein, daß man sich
scheut, sie in den Mund zu nehmen, son¬
dern sich lieber dafür mit mehr oder we¬
niger entfernten Andeutungen begnügt:
man soll den Teufel nicht an die Wand
malen. Man schwört in starker Leiden¬
schaft. Hier ist der König über das,
was er soeben gehört hat, so erbittert,
daß er — Elisa den Tod droht. Warum
gerade dieser deshalb sterben soll, ver¬
rät uns die Geschichte nicht. Hebräische
Erzählung ist oft sehr knapp und wort¬
karg und setzt vieles als selbstver¬
ständlich voraus. Daß der Herrscher
in seiner Wut nach einem Schuldigen
sucht, bedarf keiner Erklärung; haben
doch auch wir in dieser Zeit gesehen,
wie ein Volk in seinem Unglück nach
den dafür Verantwortlichen fragt und
sie zu bestrafen wünscht. Aber warum
soll gerade Elisa büßen? Hier wird
vorausgesetzt, der Hörer wisse» wer Elisa
war, und inwiefern ihm der König die
Schuld an diesen entsetzlichen Zustän¬
den der Belagerung zuschreiben konnte.
Eine Lücke im Text ist gewiß nicht
vorhanden 33 ), wohl aber eine Lücke in
der Erzählung, die der gegenwärtige
Erklärer zunächst genau erkennen und
dann mit Benutzung anderer Angaben
aufs vorsichtigste zu schließen ver¬
suchen soll. Begreiflich, daß frühere
Forscher, die mit den Stilgesetzen he¬
bräischer Erzählungsweise nicht ver¬
traut waren, hier unsicher hin und her
geraten, zuweilen freilich auch das Rich¬
tige getroffen haben. Im folgenden sagt
der König zu Elisa: Was soll ich noch
auf Jahve warten? Elisa hat also die
göttliche Hilfe in Aussicht gestellt und
geraten, darauf zu harren. Wir dürfen
uns also ein Ringen zweier Parteien in
Samarien vorstellen, von denen die eine
33) Gegen Klostermann.
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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
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für die rechtzeitige Ergebung war, wäh¬
rend die andere, von Elisa geführte, den
Widerstand anriet. Dieser Rat Elisas, so
ist der König überzeugt, ist an allem Un¬
heil schuld! Noch heute muß er dafür
sterben! Damit hat sich die Geschichte
zu gewaltiger Spannung erhoben: die
Stadt in schaudervoller Bedrängnis: alle
Hoffnung verloren; der König, voller
Verzweiflung, schäumt vor Wut; noch
an diesem Tage muß Elisas Haupt
fallen!
Damit hat der Erzähler einen Über¬
gang zum zweiten Auftritt gefun¬
den und zeigt jetzt Elisa und den
König zusammen.
Elisa sitzt gerade in seinem Hause:
sonst wird er im Lande umherwan¬
dernd, gelegentlich aber auch in Sa-
marien wohnend gedacht 34 ). Die Älte¬
sten — das ist die aus den Vornehm¬
sten bestehende Ortsbehörde der Haupt¬
stadt 35 ) — vor ihm, um sich Rat und
Zuspruch zu holen 36 ). Der Erzähler setzt
also voraus, daß der Prophet unter
den angesehensten Bürgern Anhänger
hat, wie sich ja auch der König bis¬
her von ihm hat leiten lassen: eine
allgemeine Lage, die wir für geschicht¬
lich halten dürfen. Nun sandte der
König einen Mann vor sich her zu
Elisa, zur Anmeldung; er will mit dem
Propheten, ehe er sterben muß, noch
ein Wort reden. ' Aber’ 37 ) bevor der
Bote zu ihm kam, sprach er (Elisa) zu
den Ältesten: Habt ihr’s gesehen, daß
dieser Mörderssohn S8 ) gesandt hat, mir
34) n. Könige 5, 9; 13, 17.
35) Vgl. I. Könige 20,7; 21,8.11; II. 10,1.
36) Eine ähnliche Situation Hesekiel 20,1;
8,1; 14,1.
37) Vgl. die griechische Übersetzung nach
Lucian.
38) Nicht „Mordbube“ zu übersetzen. Das
im Morgenlande übliche sinnlose Beschimp¬
fen des Vaters ist im Alten Testamente nicht
bezeugt.
den Kopf abzuschlagen? Achtet auf;
sobald der Bote kommt, so söhließt die
Türe und drängt ihn mit der Türe zu¬
rück! Doch schon höre ich die Schritte
seines Herrn hinter ihm her! Die Worte
sind bisher von den Erklärern nicht
verstanden und sogar kritisch verdäch¬
tigt worden 39 ). Man muß sich, um sie
zu verstehen, die Erfahrungen und die
Ausdrucksweise eines Propheten vor
Augen stellen. Während der Gottes¬
mann mit den Ältesten im Hause zu¬
sammensitzt, ist sein Geist draußen bei
dem Könige gewesen 40 ) und hat ihn
belauscht, wie er den Boten entsendet.
Und plötzlich schreit er auf: Habt ihr’s
gesehen, was ich sehe, wie er den Hen¬
ker sendet? Also jähe Worte wilder
Erregung, in der er für einen Augen¬
blick den Boten für den Henker hält!
Er nennt den König mit stärkster Ach¬
tungsverletzung einen Mörderssohn,
der, wenn er jetzt selber mordet, nur
das Handwerk seines Vaters fortsetzt.
Gemeint ist wohl Joram, dessen Vater
Ahab von Elia, Elisas Meister, des
Mordes anNabothbeschuldigt wurde 41 ).
Und Elisa bittet die Ältesten im voraus,
ihm zu Hilfe zu kommen: wenn der
Henker erscheint, sollen sie ihn mit der
Tür zurückhalten. Doch während er
noch redet, kommt eine weitere Er¬
leuchtung über ihn: sich selbst unter¬
brechend und verbessernd schreit er
aufs neue auf: Doch schon höre ich die
Schritte seines Herrn hinter ihm her.
Jetzt also merkt er, daß der Herrscher
selber hjnter ihm herkommt. Und er
hat recht gesehen; der Erzähler fährt
fort: da er noch mit ihnen redete, kam
'der König ’ 12 ) schon zu ihm hinab.
39) Von Wellhausen u. a.
40) Ähnliche Fälle I. Könige 14,6; II. 5,26;
Apostelgeschichte 5, 9. 41) I. Könige 21.
42) hammelech nach vielen Neueren
Textänderungen in ‘Häkchen’.
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Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
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Auch hier kann man die eigentümliche
Knappheit des hebräischen Erzählungs¬
stils beobachten: daß der König sich
inzwischen selber aufgemacht hat, um
seinem Boten zu folgen, wird nicht
eigentlich berichtet, sondern in Elisas
Rede nur vorausgesetzt. Durch eine
solche Erzählungsart werden wir mit
unerhörter Lebendigkeit in die Dinge
selber hineingerissen und gezwungen,
den Vorgang im Geiste des Elisa mit¬
zuerleben. In diesem kleinen Zwischen¬
spiel erhält der Hörer eine Probe, wie
der unheimliche Mann die Ereignisse
in der Ferne sieht und hört, und wird
so vorbereitet, das große Wort, das er
im folgenden sprechen wird, zu ver¬
nehmen. Für uns Nachgeborene aber
ist dieser Auftritt ein wichtiger Beitrag
dazu, wie man sich in Israel den Pro¬
pheten mit höheren Kräften begabt vor¬
gestellt hat.
Jetzt tritt der König selber vor Elisa
hin. Von dessen Bitte, die Türe zu ver¬
rammeln, ist jetzt keine Rede mehr;
wir selber ergänzen: dem Henker
würde sie verschlossen geblieben sein,
dem Herrscher wird sie geöffnet. Und
nun fährt er den Propheten voller Zorn
an: Das ist nun das Unheil von Jahve!
Was soll iah fürder auf Jahve harrenI
So weit, daß Frauen um den Leib ihrer
Kinder rechten, ist es mit uns gekom¬
men! Dies Unglück hat uns Jahve ge¬
sandt! Wie können wir weiter auf seine
Hilfe hoffen! Bei seiner wütenden Hast
überstürzen sich die Worte, die das
furchtbare Geschehen nur andeuten.
Aber Elisa erwidert: Höret Jahves
Wort! So hat Jahve gesprochen. Mit
solcher Einführung pflegen Propheten
ihre Orakel zu beginnen; hier wird die
Formel besonders ausführlich, also in
feierlichem Tone verkündet. Eine Aus¬
einandersetzung mit dem Könige lehnt
der Prophet ab; dessen Verzweiflung
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stellt er gewaltig die eigene Sicherheit
gegenüber; hoheitsvoll hält er ihm das
Gotteswort entgegen, das er soeben
empfangen hat: Morgen um diese Zeit
sollen '100 Maß' Grieß einen Sekel gel¬
ten und '200 Maß' Gerstenmehl einen
Sekel im Tore von Samarien. Das Tor
ist die übliche Verkaufsstelle, der
Markt. Daß das Orakel den Markt¬
preis kundgibt, hat in einer Stelle der
Offenbarung Johannes 43 ) ein Gegen¬
stück und ist verständlich genug: aus
solchem Preise ergibt sich die ganze
übrige Lage der Stadt. Wer uns doch
heutzutage den Normalpreis des Wei¬
zens etwa in einem halben Jahre an¬
geben könnte! Nach dem Zusammen¬
hänge der Geschichte muß der so ge-
weissagte Preis zu demjenigen, von dem
der Anfang erzählt, den äußersten Ge¬
gensatz bilden: bisher schaurigste Teue¬
rung, nun plötzlich herrlichster Über¬
fluß, unglaubliche Billigkeit! Und das
morgen! Der Prophet verheißt also
den wunderbarsten Umschwung von
heute bis morgen! Der Text ent¬
spricht dem, was wir so dem Zusam¬
menhänge mit Sicherheit entnehmen,
nicht; er lautet: ein Sea (121) Grieß soll
einen Sekel (2,50 M.) gelten und 2 Sea
Gerste einen Sekel; aber das wäre nach
israelitischen Begriffen kein Schleuder¬
preis: Klostermann hat durch eine gute
Textverbesserung geholfen 44 ).
Aber wer kann an einen so wunder¬
baren Wechsel glauben? Der Erzähler
hat ein Mittel gefunden, um die völlige
Unwahrscheinlichkeit einer so großen
Wandelung auszusprechen; er legt den
Zweifel daran einem Herrn aus dem
Gefolge des Königs in den Mund. Der
Ritter (d. h. der dritte Mann, der neben
dem Wagenlenker auf des Königs Wa-
43) Offenbarung Johannes 6, 6.
44) me’ä und mä’thaim.
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Nachrichten und Mitteilungen
gen steht), auf dessen Arm sich 'der
König’ zu stützen pflegte 45 ), d. h. den
er mit seiner besonderen Gnade be¬
ehrte und der ihn überallhin begleiten
mußte, antwortet dem Gottesmann:
Und selbst wenn Jahve Fenster am
Himmel machte — was er doch nicht
tun wird —, wie möchte solches ge¬
schehen? Gemeint ist natürlich nicht,
daß Gott Regen vom Himmel hernie¬
dersenden könnte, denn das würde den
Kaufpreis nicht von heute auf morgen
ändern: sondern es handelt sich um
einen höhnischen Spott: so viel Getreide
habe nicht einmal Jahve im Himmel, um
es auf die Erde hinabzuschütten. Elisa
aber erwidert schlagfertig mit einer
neuen Weissagung: Du selbst wirst es
nur mit Augen sehen dürfen* 6 ), aber
nicht davon essen! Er selber wird Zeuge
des Wunders sein müssen, denn Gott
nimmt sein Wort nicht zurück. Aber
er bestraft den Ungläubigen dadurch,
daß er ihm nur erlaubt, es anzusehen,
und ihm keinen Anteil an seinem Gna¬
dengut verstauet. Auf welche Weise
Gott ihm das Essen versagen wird,
45) II. Könige 5, 18.
46) Zum Ausdruck V. Mose 3, 27, vgl
Ehrlich.
QO
spricht der Prophet nicht aus: Dunkel¬
heit gehört zum Stil der Orakelrede.
Das wird er, ist erst die Zeit gekom¬
men, schon selber sehen I — Damit
bricht der Auftritt plötzlich ab. Ein der¬
artiges gewaltsames Herumfahren ent¬
spricht der Kraft der Erzählungskunst.
Auf das soeben verkündete Gotteswort
kommt alles an; jede Hinzufügung
würde es abschwächen. Wir aber dür¬
fen ergänzen, daß der König sich noch
einmal umstimmen läßt und dem Got¬
tesmanne einen Tag Aufschub bewil¬
ligt
Damit ist nun die Höhe der Erzäh¬
lung erreicht. Eine Weissagung ist aus¬
gesprochen: bis morgen soll der jähe
Umschwung geschehen! Daß er kom¬
men wird, muß jeder Fromme glau¬
ben. Der Prophet, der den König in
der Ferne seinen Boten aussenden sah
und der ihn im voraus kommen hörte,
der kann auch sagen, was am andern
Tage sein wird. Freilich, hat er sich ge¬
irrt, so ist die Stadt verloren, und er
selber muß sterben. Aber wie soll eine
solche Wendung vor sich gehen? Un¬
sere Spannung ist jetzt aufs höchste
gestiegen. Alles steht nun auf des Mes¬
sers Schneide. (Schluß folgt.)
Nachrichten und Mitteilungen.
Joseph Mausbach, Professor a. d. Uni- i
versität Münster i. W. Naturrecht und Völker- 1
recht Das Völkerrecht. Beiträge zum Wieder¬
aufbau der Rechts- und Friedensordnung der
Völker, herausgegeben von Dr. G. J. Ebers,
Professor der Rechte a. d. Universität Mün¬
ster i. W. Heft 1 u. 2.
Seit Bergbohm mit dem Fanatismus eines
Inquisitors auch die letzte Spur naturrecht¬
lichen Irrglaubens hinweggefegt, herrscht in
der Rechtswissenschaft schrankenlos der Po¬
sitivismus. Aber der Positivismus vermag
das Naturrecht nicht zu ersetzen; er ist un¬
fruchtbar; sein Prinzip fesselt ihn an den
Wortlaut des Gesetzes, dessen totem Buch¬
staben er alles Lebendige unterwirft. Un¬
gerechtigkeiten, zu denen das Gesetz führt,
vermag er nicht zu beseitigen, Lücken, die es
hat, nicht auszufüllen. So bleibt derWunsch,
sich von der Herrschaft des Unzulänglichen
zu befreien. Aber die Begründer des Posi¬
tivismus haben ihn mit solchem Scharfsinn
begründet, seine Verteidiger ihn mit solcher
Wachsamkeit verteidigt, daß sich trotz aller
Versuche kein Weg zeigen will, ihn theore¬
tisch zu überwinden.
Zu den unerträglichsten Konsequenzen
des Positivismus gehört die Leugnung des
Rechtscharakters des Völkerrechts. Seine
Normen verbinden uns nicht, da es an dem
organisierten Zwang mangelt, der ihre Er¬
füllung garantiert. Es ist ohne rechtlichen
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Nachrichten und Mitteilungen
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Inhalt, da der Gesetzgeber fehlt, die leere
Norm mit positivem Gesetzesinhalt zu füllen.
Im Weltkrieg haben unsere Feinde diese
Theorie sogar agitatorisch verwertet. „Wenn
sogar die deutsche Wissenschaft das Völker¬
recht leugnet, so kann es nicht wunder¬
nehmen, wenn auch die deutschen Soldaten
es mißachten.“
An diesem schwächsten Punkte des Posi¬
tivismus setzt der Verfasser ein; das Natur¬
recht soll wieder erwachen. Freilich nicht
das Naturrecht der Aufklärung, des allein¬
seligmachenden Verstandes, des Atheismus,
sondern das altehrwürdige Naturrecht der
katholischen Doktrin, das christliche Jus na-
turae. Neu ist also lediglich die Hinwendung
dieses geistlichen Naturrechts auf das Völ¬
kerrecht. Da dies der Grundgedanke der
ganzen Sammlung ist, so ist dies Heft als
grundlegend mit Recht an die Spitze ge¬
stellt.
„Wir fassen*, sagt Mausbach (S. 67), »das
rechtliche Naturgesetz formell genau so wie
das allgemein sittliche Naturgesetz als einen
Inbegriff derjenigen Normen, die sich für
die Vernunft aus dem geistig erfaßten We¬
sen des Menschen und der ihn umgebenden
Welt mit Notwendigkeit ergeben,.mit
dem Unterschied, daß wir es jetzt nur mit
dem Rechtsgebiet, nicht mit dem der Sitt¬
lichkeit im weitesten Sinne zu tun haben“.
Zu dieser Definition ergänze ich aus einer
andern Stelle (S. 89): »Innerhalb der Sitt¬
lichkeit unterscheiden wir die Tugenden der
Frömmigkeit, Demut, Keuschheit usw. scharf
von der Tugend der Gerechtigkeit.
Diese ... ist nichts anderes als Rechtsge¬
sinnung“. Der „natürlichen Rechtsgesin¬
nung“ entspricht als „Beziehungspunkt und
Willensinhalt“ ein natürliches Recht (S. 90).
So verstanden bedarf das Recht zu seiner
Geltung nicht des organisierten Zwanges;
dessen Fehlen steht daher der Rechtsnatur
des Völkerrechts nicht im Wege.
So verstanden hat das Völkerrecht, wie
alles Recht, auch ohne Gesetzgeber, seinen
natürlichen Inhalt, der sich aus den all¬
gemeinsten Rechtsgrundsätzen ableiten läßt.
Dahin gehören das Recht der Selbstbe¬
hauptung der Staaten (S. 181), der Notwehr
und des Notstandes (S. 120), das Recht
nationaler Selbstbestimmung in den Gren¬
zen der Vernunft (S. 119) und vieles andere
mehr.
Letzten Endes aber — und dies ist dem
Verfasser das Wichtigste, wenn es hier auch
am Schlüsse steht — ist das Völkerrecht
nicht ein starres Schema von Begriffen jen¬
seits von Gut und Böse, sondern, wie alles
Recht, ist es beherrscht von den Prinzipien
der Sittlichkeit. Das Völkerrecht ist richtig
verstanden ein christliches Völkerrecht oder
sollte es doch sein, denn „das ersehnte
.Überrecht* über den trennenden Rechten,
Interessen und Kulturen der Völker, so
innig es mit der wahren Natur des Men¬
schen und der Dinge verwachsen ist, es
hat doch seinen letzten Ursprung und
Lebensgrund nur im lebendigen Gott der
.Oberwelt* “ (S. 136).
Sind die Voraussetzungen des Verfassers
— seine Auffassung vom Wesen des Rechts
— richtig, so ist gegen deren Anwendung
auf das Völkerrecht natürlich kein Bedenken
zu erheben. Gerade diese Voraussetzungen
aber sind nicht neu, sondern das Jus naturae
der katholischen Kirche existiert in dieser
Form mindestens schon seit den Scholasti¬
kern. Die weltliche Rechtswissenschaft hat
dies Jus naturae, wie eben alles Naturrecht,
in Acht und Bann getan, aber praktisch
Brauchbareres hat sie nicht an seine Stelle
setzen können. Darum ist das letzte Wort
wohl noch nicht gesprochen.
Es wäre vermessen, im Rahmen eines
kurzen Referats über solch tausendjähriges
Problem urteilen zu wollen. Es muß die
Feststellung genügen, daß es sich um eine
sorgfältige, musterhaft klare Darstellung der
überkommenen Lehre handelt, die sich mit
allen dagegen erhobenen Einwänden ein¬
gehend und mit scharfer Dialektik aus¬
einandersetzt. Auch wer nicht überzeugt
wurde, wird das hohe Ziel nicht verkennen,
das der Verfasser, wie die Beitragsreihe,
die er eröffnet, sich gesteckt hat: „Heraus
aus der Fron eines öden, sittlich blinden
Posivitismusl Hin zu einem wahren, rich¬
tigen, sittlichen Recht!“ Nicht nur die Se¬
genswünsche des Papstes, dessen sich das
Unternehmen rühmt, sondern auch der Bei¬
fall der ganzen gesitteten Menschheit ist
ihm dabei sicher. In magnis et voluisse
sat est. .s.
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03
Zeitschriftenschau
94
Zeitschriftenschau.
Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft.
Die „Zeitschrift für Ästhetik und allgem.
Kunstwissenschaft“') ist das wichtigste und
in mancher Hinsicht das einzige wissen¬
schaftliche Organ ihres Gebiets. Zwar er¬
scheinen auch in philosophischen, psycho¬
logischen und historischen Blättern gelegent¬
lich Abhandlungen kunsttheoretischen In¬
halts, doch muß man diese oft weither
zusammensuchen. Die obengenannte, von
Dessoir trefflich geleitete Zeitschrift bringt
in ihren letzten Nummern eine Arbeit
Schmarsows, die ein weitgestecktes Ziel
verfolgt: zwei verschiedene Wissenschaften
zur Verständigung über ihre geistigen Werk¬
zeuge zu führen. Die Abhandlung heißt:
Kunstwissenschaft und Kulturphilo¬
sophie mit gemeinsamen Grundbe¬
griffen. Sie beginnt mit einer ziemlich
eingehenden Auseinandersetzung mit Wölff-
lins „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“,
vor allem mit dessen Begriffspaar „Linear“
und „Malerisch“, das Schm, anders faßt als
Wölfflin. Als vornehmsten Grundbegriff, der
sich als der Kunst- und der Kulturwissen¬
schaft gemeinsam herausstellt, hebt Schm,
den des „Individuums“ hervor. Als Auf¬
gabe der Plastik wird unter diesem Ge¬
sichtspunkt hingestellt, das menschliche In¬
dividuum aus dem Strom des Werdens her¬
auszuheben und in voller Selbständigkeit
und Geschlossenheit zu verewigen. Dem¬
gegenüber faßt die Mimik (ein Begriff, den
Schmarsow bedeutend weiter nimmt, als es
gewöhnlich geschieht) den Menschen nicht
in seiner Isolation, sondern in Gemeinschaft.
Die Körperbewegungen und das Gebaren
werden als Ausdruckswerte begriffen. Die
leitende Idee der Malerei dagegen ist die
Darstellung des sichtbaren Zusammenhangs
1) Heft XIII. E. Cassirer: Goethes Pan¬
dora. Paul Klopfer: Das räumliche Sehen.
P. F. Schmidt: Klassizismus. A. Schmar¬
sow: Kunstwissenschaft u. Kulturphiloso¬
phie mit gemeinsamen Grundbegriffen I.
Heft XIV. A. Schmarsow: Kunstwissen¬
schaft u. Kulturphilosophie mit gemeinsamen
Grundbegriffen II. Bernhard Schweitzer:
Die Begriffe des Plastischen und Malerischen
als Grundformen der Anschauung. L. Frie¬
de m a n n: Die romantische Ironie. 0. B r a u n :
Studien zum Expressionismus.
zwischen Personen und ihrem Schauplatz.
Was sie zu bieten hat, ist das „Bild“, die
höhere Einheit zwischen Körpern und Raum.
Die Poesie bietet als spezifischen Wert
| den motivierten Zusammenhang, den wir
als Täter unsres Willens überall erwarten
und suchen. Die Musik endlich sucht als
Wert zu erfassen das Gefühl, das als „Ge¬
mütsbewegung“ in uns zittert und wogt.
Auf diesen Aufstellungen fußend, faßt Schm,
in einem Schlußkapitel je zwei Künste zu¬
sammen, von denen die eine der räum¬
lichen, die andre der zeitlichen Hemisphäre
angehört: Mimik und Plastik, Poesie und
Architektur, Musik und Malerei. Durch diese
Zusammenfassung hofft Schm, zu einer lehr¬
reichen und fruchtbaren Reihe von höheren
Idealtypen zu gelangen, die die letzten
Grundbegriffe sind, die die Kunstwissen¬
schaft jetzt zu bieten hat.
Noch eine zweite Abhandlung des glei¬
chen Hefts behandelt dasselbe Thema. In
seinem Aufsatz über „die Begriffe des
Plastischen und Malerischen als
Grundformen der Anschauung“ geht
Bernhard Schweitzer von folgender
Grundthese aus: „Das Bestreben der voll-
körperlichen Bildwerdunggeht auf allseitige
Begrenzung im unbegrenzten dreidimen¬
sionalen Raum, die malerische Wiedergabe
will Darstellung einer unbegrenzten Viel¬
heit in der begrenzten, zweidimensionalen
Fläche.“ Diese Gedanken werden in Unter¬
suchungen über antike Kunst vor allem
weiter ausgeführt. — Käte Friedemann
revidiert die Anschauungen über die ro¬
mantische Ironie. Sie sucht zu zeigen,
daß die romantische Ironie die Tragik über¬
windet, die der Seele aus dem Zusammen¬
stoß ihrer eignen Forderungen mit denen
der Außenwelt erwächst, und zwar geschieht
diese Überwindung durch volle Preisgabe
des begrenzten Selbst an die Realität des
Ganzen. Daraus wird jene Stimmung heitrer
Ironie geboren, die sich gegen das Ich selbst
kehrt, weil der einzelne Mensch als solcher
mit allem, was ihm das eigne Leben zu
bringen vermag, nicht wichtig genug ist,
als daß man ihn ernst nehme.
Zum Problem des Expressionismus
nimmt der Schellingianer Otto Braun Stel¬
lung. Er will der neuen Kunstrichtung, die
er auf ihren philosophischen Gehalt prüft.
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Zeitschriftenschau
96
95
noch keinen Idealismus der Auffassung zu¬
sprechen, sondern einen „anthropozentri¬
schen Psychismus“. Dabei ist jedoch bei
Braun der Begriff des Expressionismus nicht
sehr scharf umrissen, was freilich etwas im
Wesen der Sache liegt. Er will eine demo¬
kratische und eine aristokratische Linie
unterscheiden, wobei man freilich die Zu¬
gehörigkeit der letzteren Art, zu der u. a.
Stefan George und Th. Mann gerechnet
werden, zum Expressionismus bestreiten
kann. Die Frage, ob der Expressionismus
wirklich der Ausdruck des jungen Geschlechts
ist, gibt Braun nur zum Teil zu, wie mir
scheint, mit Recht!
Die andern philosophischen und psycho¬
logischen Zeitschriften, die sonst für ästhe¬
tische Dinge Raum hatten, sind teils ein¬
gegangen, teils sind sie heuer gerade auf
unserm Gebiete unergiebig. Eine Ausnahme
macht nur die „Zeitschrift für ange¬
wandte Psychologie“, die einen Aufsatz
von K. H. Bouman bringt, der von einem
interessanten Problem ausgeht. 1 ) Er handelt
über „Das biogenetische Grundgesetz
und die Psychologie der primitiven
Kunst.“ Es besteht nämlich die Tatsache,
daß das Kind wie der primitive Kultur¬
mensch in gewisser Analogie ganz unrea¬
listisch, stark symbolisch zeichnen, daß je¬
doch daneben, nach Ausweis der frühesten
Höhlenfunde aus der paläolithischen Zeit,
viel früher als jene symbolische, eine rein
naturalistische Kunst bestanden hat. Ver-
wom hat diesen Gegensatz so formuliert,
daß er die Kunst des Kindes ideoplastisch,
die Kunst jener vergessenen Jägervölker
dagegen „physioplastisch“ genannt hat. Es
scheint also das biogenetische Grundgesetz
auf diese Tatsachen nicht anwendbar zu
sein. Bouman bringt zur Erklärung jenes
Problems nun einen interessanten patholo¬
gischen Fall heran, den eines schwachsinni¬
gen Mädchens, die eine hervorragende Künst¬
lerin ist, mit einem überraschenden Form¬
gedächtnis und guter Beobachtung bild¬
nerische Darstellungen zu liefern vermag.
Anknüpfend an diesen Fall stellt nun der
Verfasser die Hypothese auf, daß jene Ur-
1) Z. für angew. Psychologie XIV, Heft
3 u. 4.
menschen noch auf so niederer Entwick¬
lungsstufe gestanden hätten, daß ein kom¬
plizierteres Geistesleben ihre Zeichenkunst
noch nicht habe beeinflussen können, daß
vor allem die sprachliche Entwicklung ihnen
ganz gefehlt habe, so daß die symbolische
Darstellung ihnen noch unzugänglich ge¬
wesen sei. Ihre Kunst konnte daher noch
keine „Ideogramme“ liefern wie die höher¬
entwickelter Völker auf der Frühstufe.
Für mehrere eingegangene philosophi¬
sche Zeitschriften tritt sofort in stattlichem
Jahresband eine neue auf den Plan in den
von H. Vaihinger unter Mitwirkung zahl¬
reicher namhafter Gelehrter begründeten
„Annalen der Philosophie.“ („Mit be¬
sonderer Rücksicht auf die Probleme der
Als-Ob-Betrachtung“).') Diese Zeitschrift
scheint bestimmt, weit über die Philo¬
sophie hinaus reichste Anregung auszu¬
streuen. Auch für die Ästhetik ist hier
neben ziemlich allen anderen Wissens¬
zweigen ein stattlicher Raum zur Verfügung
gestellt. Mit Recht, denn der so überaus
fruchtbare „Fiktionsbegriff“, den Vaihinger
als Ferment in die moderne Wissenschaft
getragen hat, verspricht auch in der Ästhe¬
tik vielerlei Anregung. Im vorliegenden
Bande der neuen Zeitschrift, die laut
Ankündigung von nun an auch in einzel¬
nen Heften erscheinen soll, setzt sich der
„Illusionsästhetiker“ Konrad Lange mit
einigen Gegnern, vor allem Meumann und
Streiter sehr energisch auseinander (in dem
Aufsatz „Die ästhetische Illusion und ihre
Kritiker“). — Zwei weitere Aufsätze der
gleichen Zeitschrift über den „Begriff der
Individualität als fiktive Konstruk¬
tion“ und „Grundzüge einer neuen
Wertlehre“ von Richard Müller-
Freienfels widmen, obwohl in der Haupt¬
sache allgemein philosophischen Inhalts, der
Ästhetik je ein besonderes Kapitel, in dem
ebenfalls der Als-Ob-Gedanke Vaihingers
praktisch fruchtbar zu machen versucht wird.
Näher darauf einzugehen, ist an dieser
Stelle unmöglich, da im vorliegenden Fall
der Referent zugleich als Verfasser verant¬
wortlich zeichnet. M.-F.
1) I. Band, erschienen im Verlag von
F. Meiner, Leipzig.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W 30, LuitpoldstrnBe 4-
Drude von B. Q. Teubncr ln Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG
HEFT 2 NOVEMBER 1919
Lloyd George vor 1914.
Von Felix Salomon.
Es ist kennzeichnend für das Wesen
der Revolution, die wir durchmachen,
daß die Urteilskraft weiter Volkskreise
Schaden gelitten hat. Unser stolzes Heer
ist zertrümmert; da gibt es nicht we¬
nige unter uns, denen es schon nicht
mehr deutlich bewußt ist, was eigent¬
lich dieses Heer vollbracht hat. Die Ge¬
schichte wird es eines Tages verkün¬
den; Das deutsche Heer hat die auf
sein Können gesetzten Erwartungen
nicht nur erfüllt, es hat sie durch mär¬
chenhafte Leistungen übertroffen und
Taten vollbracht, wie sie noch nie in
der Heeresgeschichte irgendeines Vol¬
kes gemeldet worden sind. Ebenso
sicher wird aber die Geschichte be¬
stätigen, daß unsere Gegner auf po¬
litischem Gebiete überlegen gewesen
sind. Man pflegt hierbei zumeist an
das Bereich der auswärtigen Politik
zu denken, auf dem die Überlegenheit
unserer Feinde, auf jahrhundertalte
Schulung und Traditionen gestützt, am
augenfälligsten ist; ob sie auch dort
in Erscheinung getreten ist, wo es galt
die innere Politik auf die Bedürfnisse
der auswärtigen einzustellen? Hier er¬
öffnet sich ein verantwortungsvolles
Gebiet für geschichtliche Forschung;
bei dem bedeutendsten unter den feind¬
lichen Staatsmännern, Lloyd George,
lehrt bereits ein vorläufiges Studium,
daß die von ihm im Kriege gespielte
Rolle, daß seine Erfolge in hohem Maße
durch seine Tätigkeit vor dem Kriege
vorbereitet worden sind. Es ist unter
diesem Gesichtspunkte von Interesse,
„Lloyd George vor 1914“ kurz zu be¬
trachten.
Es fällt uns heute immer noch schwer,
das Grundthema der englischen Po¬
litik vor dem Kriege zu begreifen, weil
wir selbst eines, das mit Bewußtsein
alle Schichten unseres Volkes geeint
hätte, nicht besessen haben. Das Grund¬
thema in England lautete: Sicherung
des britischen Reiches. Diese Losung
kennzeichnete den Entwicklungsgang,
den die englische Geschichte seit 1870
durchgemacht hatte; Englands eigenes,
engeres Dasein war seitdem mit den
Reichsinteressen nach und nach in dem
Maße verwachsen, daß es gar nicht
isoliert mehr zu denken war; alles, was
der Engländer als Erbe der Vergangen¬
heit herrschsüchtig und stolz sein eigen
nannte, nicht zum mindesten seine vor¬
herrschende Stellung in Handel und
Industrie, stand in Wechselwirkung mit
der politischen Sicherung des über die
Welt sich erstreckenden ungeheuren
britischen Besitzstandes. Der englischen
Staatsleitung lag es ob, diese Tatsache
zum Bewußtsein aller Volkskreise zu
bringen und die gesamte Politik da¬
nach einzurichten; in verschiedener
Weise und auf den verschiedensten Ge¬
bieten ist dies geschehen. Der Wir¬
kungskreis von Lloyd George hebt sich
— wenn wir den Grundströmungen
des politischen Lebens folgen — ab
4
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PRINCETON UNIVERSITY
99
Felix Salomon, Lloyd George vor 1914
100
von den Maßnahmen, welche Joseph
Chamberlain ergriffen hatte, um die
Interessengemeinschaft zwischen Eng¬
land und dem Reiche zum Ausdruck
zu bringen. Sein Programm war als das
eines sozialen Imperialismus gedacht;
von sozialen Reformen ging er über
zur Organisation des Reiches, welche
Mutterland und Dominions in einem
geschlossenen Macht- und Wirtschafts¬
bereiche zusammenfassen sollte, nicht
zum mindesten auch im Interesse der
breiten Massen, deren Lebenshaltung
gehoben und für die Zukunft sicher¬
gestellt werden sollte. Bei Ausführung
des Planes erwies es sich aber, daß der
koloniale Nationalismus Gegenforde¬
rungen erhob, welche zum mindesten
für die Gegenwart die Sachlage recht
sehr änderten: Es wurde die Abkehr
vom überkommenen Wirtschaftssystem
zur Bedingung gemacht, womit den Ar¬
beitern zunächst einmal Opfer in Ge¬
stalt der Verteuerung wichtiger Lebens¬
mittel zugemutet wurden. Der Wider¬
stand, der sich hiergegen erhob, war
um so heftiger, als der ebenfalls zum
imperialistischen Schema Chamberlains
gehörige südafrikanische Krieg den Ar¬
beitern ebensowenig einleuchtete; un¬
ter denen, welche damals die schärf¬
sten Worte gegen die ministerielle Po¬
litik und den Krieg fanden, machte
sich Lloyd George zuerst im öffent¬
lichen Leben bemerkbar. Nicht zufäl¬
ligerweise wird er die Persönlichkeit
Chamberlains vom Beginn seiner par¬
lamentarischen Tätigkeit an zur Ziel¬
scheibe seiner Angriffe gemacht haben,
damals ein kühnes Unternehmen in
Anbetracht des Ansehens, dessen Cham¬
berlain sich erfreute. Als dann die kon¬
servative Herrschaft 1905 zu Fall kam
und die Liberalen ans Ruder gelang¬
ten, war der Zeitpunkt gekommen, wo
Lloyd George beweisen konnte, wie er
das Staatsschiff anders gesteuert zu
sehen wünschte; er trat als Handels¬
minister ins Kabinett und wurde bald
darauf als Kanzler des Schatzamtes
zu führender Stellung berufen.
Den nächsten Maßstab für die Be¬
urteilung des Schaffens von Lloyd
George bietet der Wirkungskreis, den
sich die Liberalen als Partei abge¬
steckt hatten; er unterschied sich von
dem der Konservativen grundsätzlich.
Allerdings die Sicherung des Reiches
blieb das Kernanliegen, aber das
Schwergewicht hinsichtlich der hierzu
zu ergreifenden Maßnahmen wurde an¬
derswohin verlegt. Die Reichsbildung
war von England ausgegangen, Eng¬
land trug noch immer die Hauptlasten,
die Liberalen meinten, die festeste
Grundlage schaffe diejenige Politik,
welche die breiten Massen in England
befriedige und für sie die Gegenwart
erst glücklicher gestalte, bevor für das
Reich Opfer verlangt würden. Die
Sicherung des Reiches draußen fiel Sir
Edward Grey zu, das Verhältnis zu den
Dominions suchte Asquith, soweit es
die Umstände gestatteten, zu regeln;
Lloyd George erhielt die Führerschaft
auf dem Gebiete, wo es galt, Fühlung
mit dem Volke zu gewinnen. Eben auf
diesem waren von der Partei aus neue
Richtlinien gegeben; der Liberalismus
war gewillt, ungehemmt durch Theo¬
rien und Dogmen irgendwelcher Art,
den veränderten Verhältnissen Rech¬
nung zu tragen. Dahin wirkte eigene
Einsicht; der Druck der Arbeiterschaft
tat das übrige. Das Ziel des alten
Führers Gladstone war zuletzt gewe¬
sen, ein sittlich erzogenes Volk auf
sich selbst zu stellen; das war damals
gewesen, wo der Liberalismus vorzüg¬
lich noch eine Partei des Bürgertums
war. Jetzt schickte er sich an die brei¬
ten Massen zu gewinnen, und so ver-
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PRINCETON UNIVERSITY
101
Felix Salomon, Lloyd George vor 1914
102
breiteten liberale Programmschriften
die Erkenntnis, daß Freiheit und Recht,
die liberalen Kernforderungen, als wirt¬
schaftliche Probleme zu behandeln
seien; es wurde darauf hingewiesen,
daß die wahre Freiheit der Persönlich¬
keit deren wirtschaftliche Hebung be¬
dinge, und daß das Recht auf Existenz
abhängig geworden sei von der Besei¬
tigung der Hemmnisse, um ein men¬
schenwürdiges Dasein zu führen. Dem¬
gemäß stellte das liberale Ministerium
ein soziales Reformprogramm großen
Stiles in den Mittelpunkt seines Wir¬
kens; dort, wo Chamberlain stehen ge¬
blieben war, sollte eingesetzt werden,
um die Konservativen tüchtig zu über¬
trumpfen. Dieser Rahmen bot sich für
die Tätigkeit von Lloyd George.
Zur Beurteilung seines engeren Wir¬
kungsgebietes gilt es nun zu wissen,
welches überhaupt der Stand der so¬
zialen Gesetzgebung zu seiner Zeit
war; Lloyd George selbst sah sich in
allen Ländern um und bekannte frei¬
mütig, was er anderen schuldete, wo¬
bei wir vernehmen, daß er sich keinem
Lande zu größerem Danke verpflichtet
fühlte als Deutschland. Er lernte
ebenso wie Chamberlain vor ihm, nur
eingehender und eindringlicher, aus
dem Vorbilde der Bismarckschen Ar¬
beiterschutzgesetzgebung, die ja nach
allgemeinem Urteile epochemachend ge¬
wesen war. So ist es überhaupt nicht
däs Schöpferische, was Lloyd Georges
Werk kennzeichnete; das was seiner
Führung und Leitung den Stempel gibt,
ist die Verbindung der Maßnahmen, die
er anregte und durchführte, mit den
Äußerungen und dem Gewicht einer
Persönlichkeit von ganz eigenem Ge¬
präge.
Man wird es keinem Deutschen zu¬
muten, sich in der liebevollen Art deut¬
scher biographischer Forschung in den
Lebensgang dieses Feindes zu versen¬
ken, indessen bleibt es Pflicht des Hi¬
storikers, den Wurzeln nachzugehen,
aus denen er die Eigenart einer ge¬
schichtlich bedeutsamen Erscheinung
sich erklären zu können meint. Und da
bieten sich folgende Beobachtungen:
Lloyd George ist der erste Kelte auf
hohem staatsmännischen Posten, in
einem kleinen Waliser Dorf ist er ge¬
boren. Sein erstes politisches Anliegen
war, die Interessen dieser, seiner enge¬
ren Heimat zu verfechten; als Waliser
Nationalist ist er ins öffentliche Le¬
ben getreten. Seinem religiösen Be¬
kenntnisse nach zählte er zu den Non¬
konformisten schärfster Richtung: der¬
art verband er mit der dem Kelten
eigentümlichen Kampfesfreudigkeit den
Fanatismus des Puritaners. Er trägt
Glut und Leidenschaft in das kalte
Gebiet der Politik hinein, als sei er ein
Geistesverwandter Cromwells; unter¬
schiedlich von diesem ist es offen¬
sichtlich kein einheitliches, großes, aus
der Tiefe kommendes Interesse, das
ihn erfaßt, die Gegenstände seines Ei¬
fers wechseln mit den Aufgaben, die
sich ihm stellen und mit den Zeitströmun¬
gen, denen er sich anzupassen versteht.
Der feste Pol bleibt sein Herrscher¬
wille, sein Machtstreben, sein Drang
zu führen, zu leiten, drängend und
ringend sich durchzasetzen. In den
Dienst dieses Strebens und Wollens
stellt er zweifellos hohe geistige Fähig¬
keiten und wohl auch eine unver¬
wüstliche körperliche Kraft. Früh
schafft er sich Gehör als Meister der
Beredsamkeit, einer Beredsamkeit, die
mit neuen Mitteln arbeitet; er regt nicht
wie die Meisterredner in der Blütezeit des
Parlamentarismus die geistige Spann¬
kraft einer aristokratischen Zuhörer¬
schaft an, er übt eine suggestive Wir¬
kung auf die Massen aus, er zieht sie
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PRINCETON UNIVERSITY
103
Felix Salomon, Lloyd George vor 1914
zu sich heran durch das sich Einfüh-
len in ihre Bedürfnisse und die an¬
schauliche Art, diese darzulegen. Hier
macht sich die Gesellschaftsschicht gel¬
tend, aus der Lloyd George hervorge¬
gangen ist; als Sohn eines armen Volks¬
schullehrers lernte er die Not des Le¬
bens am eigenen Leibe kennen, erfuhr,
wie wenig das bisher zur Hebung alles
Elends Gebotene genügte, und sah die
Hemmnisse, die es zu beseitigen galt,
mit eigenen Augen. Alles in allem er¬
scheint Lloyd George von ferne, mit
den Augen des Historikers gesehen, als
Vertreter einer neuen Staatskunst, einer
demokratischen, und mit seinen Kün¬
sten und Hilfsmitteln, seinen Machthe¬
beln, um sich durchzusetzen, als der
größte Demagoge, der bisher in Eng¬
land gelebt hat.
Das sozialpolitische Gesetzgebungs¬
werk des liberalen Kabinetts, an dem
Lloyd George den Hauptanteil hatte,
ist noch kurz vor dem Kriege in einer
deutschen Darstellung sachkundig be¬
schrieben worden 1 ): Lloyd George hat
diesem Buche nach englischer Sitte ein
lesenswertes Geleitwort beigefügt. Er
kennzeichnet die Methode, durchweiche
seine Sozialpolitik sich von der frühe¬
ren unterscheidet, und hebt die Ma߬
nahmen hervor, auf die es ihm am
meisten angekommen sei. Das Gesetz¬
gebungswerk besteht: 1. aus dem im
Jahre 1909 in Kraft getretenen Alters¬
pensionsgesetz, das allen über 70 Jahre
alten Arbeitern ohne Leistung irgend¬
welcher Beiträge eine Beihilfe von fünf
Schilling pro Woche gewährt; 2. aus
der am 15. Juli 1912 in Kraft getrete¬
nen staatlichen Zwangsversicherung ge¬
gen Krankheit und Invalidität, zu deren
1) H. A. Walter, Die neuere englische
Sozialpolitik. (Die Kultur des modernen
England, herausgegeben von E. Sieper,
Band 6.) 1914.
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Kosten nach deutschem Vorbild Ar¬
beiter, Unternehmer und Staat gemein¬
sam beitragen; 3. wurde ein Gesetz ge¬
gen Arbeitslosigkeit erlassen, das zu¬
nächst allerdings nur den Maschinen¬
bau, den Schiffbau, das Baugewerbe
einbezog. Neben dieser Versicherungs-
gesetzgebung wurde die Frage der
schiedsgerichtlichen Einigung im Streik¬
falle ins Auge gefaßt und sind staat¬
liche Arbeitsvermittelungsbureaus ge¬
schaffen worden. Die vollkommenste
Abkehr von dem alten liberalen Leit¬
sätze der Selbsthilfe bedeutete jedoch
eine dritte Reihenfolge von gesetzge¬
berischen Maßregeln; hier ist die staat¬
liche Lohnerhöhung zu nennen, auf die
Lloyd George ein besonderes Gewicht
gelegt hat. Die Trade Boards Act
brachte für die schwache und organi¬
sationsunfähige Arbeiterschaft einer
Reihe von Hausindustrien obligatori¬
sche Lohnämter mit Mindestlohnfest¬
setzungen. Dieses Gesetz erstreckte
sich zunächst auf vereinzelte Industrien,
sollte aber auf andere Gewerbe aus¬
gedehnt werden. Es ist das Gesetz im
Interesse der Kohlenbergbauarbeiter ge¬
folgt, das einen Minimallohn zur Ein¬
führung brachte. Ein ganz persönliches
Anliegen von Lloyd George war die
Nutzbarmachung von Grund und Bo¬
den für die Allgemeinheit; er wünschte
das Bodenmonopol des Großgrundbe¬
sitzes zu beseitigen. Dje Developments
Act von 1909 diente der Erschließung
des Landes und der inneren Koloni¬
sation; die Maßnahmen gegen den
Großgrundbesitz waren noch nicht ab¬
geschlossen, als der Krieg ausbrach.
Das Werk von Lloyd George ist rhe¬
torisch und publizistisch von ihm vor¬
bereitet und begleitet worden; eine
Auswahl seiner Reden ist in deutscher
Sprache unter einem Titel, der als Lo¬
sung gelten soll, erschienen: „Bessere
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PRINCETON UNIVERSIT
105
Felix Salomon, Lloyd George vor 1914
106
Zeiten.“ 2 ) Formell und sachlich bieten
diese und andere Reden von ihm viel;
im Mittelpunkt der deutschen Samm¬
lung steht die große Budgetrede, die
Rede für „das Budget des Volkes“, wie
Lloyd George sie nannte, und die er
hielt, um die enormen Geldmittel für
seine Reformen verfügbar zu erhalten.
Ein Zuhörer aus dem Arbeiterstande
pries sie als die fähigste und erschöp¬
fendste, die er je im Unterhaus gehört
habe; es kann kein Zweifel, sagte er,
über „die magische Gewalt des Red¬
ners“ bestehen. Die Rede klang in fol¬
genden Worten aus: „Dies ist ein
Kriegsbudget. Es will Geld aufbringen
zum Feldzug wider Armut und Er¬
niedrigung.“ In allen Reden geißelt
Lloyd George die Schäden der Zeit;
man kann als Deutscher trotz ihrer
Eindringlichkeit nicht sagen, daß sie
auf das Gemüt wirkten. Sie wenden
sich englischer Art gemäß mehr an das
Rechtsgefühl, ohne daß eine Reizung
der schlechten Instinkte immer vermie¬
den worden wäre. Ein Beispiel von
stärkster suggestiver Kraft und echtem
Pathos bieten folgende Sätze: „Wenn
am Ende einer Durchschnittsperiode
unseres Amtes die Nation finden wird,
daß die gegenwärtige Regierung sich
nicht ernstlich mit den sozialen Be¬
dingungen des Volkes beschäftigt hat,
nicht versucht hat, die nationale Er¬
niedrigung des Slums, der weitverbrei¬
teten Armut und Verwahrlosung in
einem Lande zu entfernen, das von
Reichtum funkelt, wenn das Parlament
zurückschreckt, die Hauptursachen die¬
ses Elends, nämlich die Trunksucht
und das System des Grund und Bo¬
dens, unerschrocken anzugreifen, wenn
es die Verschwendung nationaler GO-
ZI Lloyd George, Bessere Zeiten. Jena
1911. Mit Vorwort des Herausgebers Eduard
Bernstein.
ter in Rüstungen nicht aufhält und
nicht spart, damit eine ehrenhafte Un¬
terstützung für verdienstvolles Alter
vorgesorgt werden könne, dann soll
ein lebendiger Schrei in diesem Lande
nach einer neuen Partei erstehen und
viele von uns würden diesem Schrei
folgen.... Ich möchte die Parlamente
zu so vielen Leuchtturmfeuern machen,
um in all die dunklen Stellen hinabzu¬
leuchten, um jede Unterdrückung, jedes
Elend und jedes Unrecht aus seinen
Stellungen zu drängen. Denn der ge¬
genwärtige Stand der Dinge kann nicht
lange mehr ertragen werden! Der Ge¬
gensatz zwischen Reichtum und Luxus
der einen Klasse, Verwahrlosung und
Herabsinken der anderen ist zu groß.
Der eine arbeitet zu viel und muß den¬
noch hungern, der andere bummelt
durchs Leben und feiert dennoch Feste.
Das kann nicht so weiter gehen! So
sicher Gerechtigkeit und Barmherzig¬
keit die ewigen Elemente in der Regie¬
rung der Welt sind, so sicher ist ein
System, das die Straße des Luxus für
die wenigen mit den Herzen der Mas¬
sen pflastert, dem Untergang geweiht!“
Wiederholt begegnen stimmungsvolle
Bilder, stets aus dem Leben und der
Natur geschöpft. Seltener finden sich
Früchte politischer Weisheit und Er¬
fahrung; einen tiefen Sinn birgt ein
Satz wie dieser: „Die Aufgabe des
Staatsmannes ist schließlich nichts an¬
deres als Landbewirtung in großem
Stile." Gern nimmt Lloyd George Be¬
zug auf seine Heimat, das Waliser
Land, die Waliser Bevölkerung und zi¬
tiert aus Waliser Dichtern; der Waliser
Arbeiter wird als glühender Patriot ge¬
priesen. Dort, wo die Liberalen für die
Sozialreformen geworben werden sol¬
len, heißt es: „Der britische Libera¬
lismus wiederholt hoffentlich nicht
die Irrungen des Liberalismus auf
. Digitizeö by
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PRINCETON UNIVERSITY
107
Felix Salomon, Lloyd George vor 1914
108
dem Kontinent; dessen Schicksal
sollte uns eine Warnung sein. Er
ward an die Wand gedrückt, noch ehe
sein Wirken begann, weil er sich der
Anpassung an neue Verhältnisse ver¬
sagte. Der Liberalismus des Kontinents
beschränkte sich ausschließlich auf die
Ausbesserung und Vervollkommnung
des Mechanismus, der das Korn des
Volkes dereinst mahlen soll; er vergaß
aber, daß das Volk leben muß, wäh¬
rend dieser Prozeß seinen Verlauf
nimmt, und das Volk sah seine Kräfte
schwinden, ohne daß etwas zu ihrer
Erhaltung geschah. Der britische Libe¬
ralismus ist indes besser beraten; er
blieb dem traditionellen Ehrgeiz der
liberalen Partei: Freiheit und Gleich¬
heit eine Stätte zu sichern, treu; aber
Hand in Hand mit diesem Ziel verfolgt
er unmittelbare Maßnahmen zur He¬
bung der Lebenslage der Massen.“ Auf
die Frage, ob dem Liberalismus eine
Gefahr seitens der Arbeiterpartei drohe,
lautet der Bescheid: „Offen gesagt,
glaube ich nicht, daß auch nur der
geringste Anlaß zu Besorgnissen vor¬
liegt. Dem Liberalismus wird seine
Vorherrschaft im Reiche politischen
Fortschritts nie genommen werden, es
sei denn durch Vernachlässigung oder
Verrat der Prinzipien, zu denen er sich
bekennt. Solange die Liberalen, wie in
dieser Session, zeigen, daß sie vor der
Übertragung ihrer Bekenntnisse in die
Praxis nicht zurückscheuen, wird das
ihnen anvertraute Pfand nie auf eine
neue Partei übergehen.“ Einschränkend
fügt dann allerdings der Redner hin¬
zu: „Freilich, könnten die Arbeiterfüh¬
rer jemals hoffen, alle Arbeiter des Kö¬
nigreichs von beiden politischen Par¬
teien loszulösen, und sie als einheit¬
liche Verbindung der Arbeit zu organi¬
sieren, so würde, das gebe ich zu, eine
solche Partei allmächtig sein. Allein
wer die politische Geschichte einiger¬
maßen kennt, wird Ihnen sagen, daß
solch ein Kunststück unmöglich ist.“
Eine nahe Zukunft wird lehren, ob
diese Prophezeiung zutrifft. Die
Kampfader schwillt, wo es an die Aus¬
einandersetzung mit den Peers geht;
er will ihnen von Haus aus nicht wohl,
als Waliser Demokrat, der als Vorzug
seines Heimatlandes den Mangel jeg¬
licher Klassenunterschiede preist; als
dann gar die Peers sein Budget ableh¬
nen, kennt sein Zorn keine Grenzen. Er
scheut kein Mittel, um den Gegner zu
schmähen und herabzusetzen. „Haben
die Lords“, fragt er, „jemals ihr Brot
im Schweiße ihres Angesichts geges¬
sen? Niemals 1 Von der Wiege bis zum
Grabe haben sie nur die Mühe gehabt
zu nehmen.“ Ein anderes Mal vergleicht
er den Adel mit dem Käse und höhnt,
auch er sei um so besser, je älter er
würde; oder er rühmt die Australier,
die sehr gut ohne Oberhaus auskämen
und lieber ein Haus von Känguruhs ha¬
ben würden als eines von solchen Leu¬
ten. Im Feldzuge gegen die Peers bei
den Neuwahlen fallen diese Worte:
„Ich bin froh, daß diese Peers auf uns
losgelassen wurden. Sie haben durch
ganz Britannien Reden gehalten; hät¬
ten sie es nicht getan, so würde kein
Mensch wissen, wie die Peers sind.
Mit dem Hause der Peers verknüpfte
sich die Vorstellung von Haltung,
Würde, Reserve, fast von Majestät, bis
die Peers den Mund auftaten. Was ge¬
schah seitdem? Sie haben eine Sprache
geführt, zu der sich kein Mitglied des
Unterhauses, gleichviel welcher Partei,
erniedrigen würde. (Ein Zwischenruf:
„Was konnte man anderes erwarten?“)
— Ich hatte nichts Besseres erwartet,
aber ich hatte sie ja schon früher ge¬
hört. Jetzt aber durchwandern sie das
Land, und das ganze Volk bekommt
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109
Felix Salomon, Lloyd George vor 1914
110
sie zu hören. Betrachten sie einige die¬
ser Reden, die, ich zögere nicht es zu
sagen, unverkennbaren Stallgeruch at¬
men.“ Die Demagogie wird zur Klas¬
senverhetzung in seiner Rede in Wood¬
ford im Juni 1912, wo man vernahm:
„Die goldenen Gefäße, die für die Al¬
täre bestimmt gewesen sind und der
Kirche gehört haben, stehen noch heute
auf den Büfetten der Barone in deren
Speisesälen, und das Fleisch, das für
den Altar bestimmt gewesen ist, hängt
in deren Speisekammern. So haben die
Reichen genommen, was Gott und den
Armen gehört.“ Lloyd George ist nach
alledem von den Gegnern als „Sozia¬
list“ bezeichnet worden; so wollte er
nicht verstanden sein. In einer Unter¬
redung mit dem Korrespondenten der
„Neuen Freien Presse“ über die Pflich¬
ten der Demokratie 3 ) führte er viel¬
mehr aus: „Die Demokratie greift we¬
der das Kapital noch das Eigentum
überhaupt an. Nur wo die Massen un¬
terdrückt waren, wo sie an der Regie¬
rung keinen Anteil haben, wo ihnen
zur Abhilfe ihrer Beschwerden nur der
Weg der Gewalt offen ist, nur dort ha¬
ben sie das Eigentum angegriffen. Die
herrschende Demokratie ist keine Be¬
drohung des Besitzes. Rechtssicherheit
ist das größte Interesse gerade der
Kleinen und Besitzlosen. Ich setze
meine Hoffnung nicht auf phantastische
sozialistische Pläne, auf den Umsturz
unserer auf dem Privateigentum aufge¬
bauten Ordnung. Aber es gilt, diese
Ordnung auszubauen und zu erweitern.
Leben und Gesundheit des Volkes muß
auch zu einem Rechtsgut gemacht wer¬
den. Der Besitz wird in England aufs
alleraufmerksamste beschützt. Die Hü¬
ter des Besitzes patrouillieren alle Stra¬
ßen und wenn ihnen ein Gesetzesver-
3) Neue Freie Presse 26. Mai 1912.
brecher doch entschlüpft, wird er bis
ans Ende der Welt verfolgt. Ich ver¬
lange, daß Leben und Gesundheit des
Volkes ebenso eifersüchtig geschützt
werde wie Eigentum oder Wild. Die
Menschen sind das größte Aktivum des
Staates, und doch wird mit Menschen
viel größere Verschwendung getrieben
als etwa mit Pferden oder Maschinen.
Diesem Raubbau muß ein Ende gemacht
werden. Unsere sanitären, unsere Woh¬
nungsgesetze müssen ebenso strenge
gehandhabt werden wie unsere Ge¬
setze zum Schutze des Privateigentums.
Diese Gesetze müssen auch ausgedehnt
werden.“
Lloyd George hat die Unzufrieden¬
heit nicht zu bannen vermocht, obwohl
er manchem Liberalen schon viel zu
weit gegangen war; die letzten Jahre
vor dem Kriege waren trotz alledem
von Gärung und Streiks erfüllt. Er
hat sich allerdings auch im Privatleben
Blößen gegeben, die nicht dazu beitru¬
gen, seine Beliebtheit zu steigern. Im¬
merhin: Fühlung mit den breiten Mas¬
sen war gewonnen und ein innerer Zu¬
sammenschluß war angebahnt, der
sich im Kriegsfälle auf den eingeschla¬
genen Wegen weiterfördern ließ. Inso¬
fern bedeutete das Werk von Lloyd
George die wertvolle Ergänzung der von
Anfang an mit dem Risiko des Krieges
rechnenden auswärtigen Politik Greys.
Es versteht sich, daß Lloyd George aus
dem Bereiche seiner Amtsstellung her¬
aus stets für die Aufrechterhaltung des
Friedens eingetreten ist, wie er auch
die Handelseifersucht als Kriegsgrund
nicht gelten lassen wollte. „Deutsch¬
land ist unser bester Kunde,“ sagte er,
„wer wird so wahnsinnig sein, seinen
besten Kunden umzubringen?" Durch
seine herausfordernde Drohung bei dein
Erscheinen des Panther vor Agadir gab
er aber deutlich genug zu verstehen,
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111
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
wie auch er die „Pax britannica“ aus¬
legte; da war kein Raum für eine
gleichberechtigte deutsche Weltmacht
vorhanden. Fest steht allerdings, daß
seine Gefolgschaft keinen Krieg wollte;
deshalb gehörte Lloyd George zu de¬
nen, die höchst geschickt lavierten, um
den Fluch des Friedensstörers uns auf¬
zulasten. Seine versöhnliche Rede vom
24. Juli 1914, die bei uns trügerische
Hoffnungen hervorrief, ist höchstwahr¬
scheinlich nur einer seiner diplomati¬
schen Kniffe gewesen, um „die Fried¬
fertigkeit Englands“ darzutun. Unser
Geschick wollte es, daß mit unserem
Einmarsch in Belgien der bei den brei¬
ten Massen volkstümlichste Kriegs¬
grund gegeben wurde; von da an ist
Lloyd George auf das Gebiet gelenkt
worden, auf dem er all seine Kraft,
sein Temperament, seine Fähigkeiten,
aber auch seinen Haß, seine Leiden¬
schaften, sein gefährliches Demagogen-
tum, seine Bereitschaft zu hetzen und
zu entstellen im Ringen gegen uns aus¬
zunutzen berufen wurde.
Philipp II. und Alexander der Grofse.
Von Ernst Kornemann.
Einer weltgeschichtlichen Auffassung
des Altertums, die in größeren Gebiets¬
und Zeiträumen, sozusagen in Konti¬
nenten und Jahrhunderten, zu denken
sich gewöhnt hat, erscheint immer mehr
als die letzte große Epoche antiker
Geschichte die Zeit, die mit der Re¬
gierung Philipps II. und Alexanders
des Gr. anhebt und bis zu Justinian
und seinen Nachfolgern herabführt, ein
tausendjähriger Weltentag, rund die
Zeit von 350 v.Chr. bis 650 n. Chr.,
die Epoche des Hellenismus im weite¬
sten Sinne des Wortes. Politisch hat in
dieser Zeit des Hellenismus der große
Flächenstaat des Orients gesiegt, wie
ihn zuletzt Darius’ I. Verwaltungsta¬
lent im Perserreich ausgestaltet hatte,
über den kleinen hellenischen Stadt¬
staat, das bedeutendste Erzeugnis der
vorhergehenden Epoche auf griechi¬
scher Erde, kulturell aber ist damals
das Griechentum, um mit Jacob Burck-
hardt zu reden, der Sauerteig gewor¬
den, der alles geistige Leben in den
Mittelmeerländern durchsäuert hat. Von
Babylon, das Alexander wieder, wie
einst in den alten Zeiten des Orients,
zur Welthauptstadt machen wollte,
verläuft die Entwicklung über Alex¬
andria und Rom nach Konstantinopel,
von da nach dem Sieg des Islam nach
Bagdad, also in die Nähe des Aus¬
gangspunktes Babylon zurück. Damit
sind die Hauptetappen der Entwick¬
lung dieser Weltepoche gekennzeich¬
net, die man als die Zeiten des alex-
andrinischen, des römischen und des
christlich-byzantinischenHellenismus be¬
zeichnen kann, und zugleich ist damit
angedeutet, daß im Rahmen dieser letz¬
ten Epoche des Altertums der Kreislauf
antiker Geschichte sich wiederholt: näm¬
lich vom Orient zum Okzident, von
diesem dann zum Ausgangspunkt, zum
Orient, zurück.
Es ist nun ein eigentümliches Spiel
des Schicksals, daß diese Weltepoche
nach jeweils 300 Jahren einen neuen
Impuls erfahren hat durch das Ein¬
greifen von je zwei Herrschern, die,
in der Regierung einander folgend, die
neuen Ideen und Zeitströmungen am
reinsten in sich verkörpern und der
niedergehenden Welt zu neuem Auf¬
stieg verhelfen: Philipp und Alexander
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13
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
114
am Anfang, Cäsar und Augustus nach
Abschluß der ersten, Diokletian und
Konstantin am Ende der zweiten Etappe.
Jedesmal geht diesen Herrscherpaaren
ein Jahrhundert oder ein Halbjahrhun¬
dert schwerster Kämpfe voraus: Phi¬
lipp und Alexander der grauenvolle
Selbstzerfleischungsprozeß des vierten
Jahrhunderts nicht ni# in Griechen¬
land, sondern auch in Makedonien
und im Perserreich, Cäsar und Augu¬
stus die Epoche der römischen Bürger¬
kriege, in der Lukrez und andere Dich¬
ter der Zeit schon das Ende der Welt
voraussagten, Diokletian und Konstan¬
tin jenes entsetzliche bellum omnium
contra omnes im dritten nachchrist¬
lichen Jahrhundert, durch das veran¬
laßt die Christen wieder wie einst Lu¬
krez vom Ende aller Dinge zu träumen
begannen. Das ist die eine Parallele.
Eine zweite beruht darauf, daß inner¬
halb der genannten Herrscherpaare je¬
desmal der zweite die weitere histo¬
rische Entwicklung der Dinge nach¬
haltiger beeinflußt hat als sein Vorgän¬
ger. Wie Alexander der Idee des
orientalischen Großstaats den definiti¬
ven Sieg über die politisch unfrucht¬
bar gewordenen Kleinstaatbildungen
der Griechen am Mittelmeer verschafft
hat, so hat nicht Cäsar, sondern Au¬
gustus im Römerreich das große Pro¬
blem der inneren Politik gelöst und
dem neuen Weltreich, der bedeutend¬
sten Staatenschöpfung seit Alexander
am Mittelmeer, eine originelle, dem ok-
zidentalischen Empfinden angepaßte
Verfassung gegeben, und Konstan¬
tin endlich ist es gewesen, der durch
die Verlegung der Reichshauptstadt
nach Konstantinopel und durch die An¬
erkennung des Christentums Schritte
getan hat, die die Folgezeit weit über
das Ende des Altertums hinaus beein¬
flußt haben. So erscheinen Philipp, Cäsar
und Diokletian jeweils als die Vorbe¬
reiter, Alexander, Augustus und Kon¬
stantin als die Vollender einer neuen
Ordnung.
So etwa hatte ich meine Auffassung
dieser Weltepoche in einer kurzen zu¬
sammenfassenden Darstellung vor Jah¬
ren schon formuliert. 1 )
Seitdem ist die Forschung weiter
fortgeschritten und hat den Anteil der
beiden in Betracht kommenden Für¬
sten innerhalb der drei Herrscherpaare
schärfer zu erfassen gesucht, so z.B.
Ed. Meyer, in seinem kürzlich erschie¬
nenen Buch über Cäsars Monarchie, das
Verhältnis von Cäsar und Augustus. 2 )
Anziehender noch als das Problem Cä¬
sar—Augustus ist aber das Problem
Philipp—Alexander, weil hier allein Va¬
ter und Sohn und außerdem zwei
gleich große Persönlichkeiten aufein¬
ander gefolgt sind. 3 )
1) Die römische Kaiserzeit, in der Ein¬
leitung in die Altertumswissenschaft, her-
ausgegeb. von A. Gercke und E. Norden,
2. Aufl. 1914, S. 210.
2) Ed. Meyer, Cäsars Monarchie und das
Principat des Pompejus, Stuttgart und Ber¬
lin 1918, S. 457 f., 462, 505, 536 ff.
3) Die Darstellung der Persönlichkeit Phi¬
lipps und seines Lebenswerkes ist bei Ju¬
lius Kaerst (Geschichte des Hellenismus I
2. Aufl. Leipzig, Teubner 1917 S. 192ff.) im
Gegensatz zum Alexanderporträt viel besser
gelungen. Eine wissenschaftliche Biographie
Philipps ist eines der größten Desiderien
der Geschichte des Altertums. Zu dem sehr
schwierigen Alexanderproblem hat sich 1905
in einem Vortrag auf der Hamburger Phi¬
lologenversammlung EduardMeyer ge¬
äußert: Alexander der Gr. und die absolute
Monarchie, Kleine Schriften, Halle 1910, Nie¬
meyer, S. 283ff., leider unter Beibehaltung
vielerZüge des von Julius Kaerst in seiner
Geschichte des Hellenismus verzeidineten
Alexanderbildes. Der Weltkrieg hat dann
eine große Vermehrung der Literatur in
Gestalt von Kriegsvorträgen und Kriegs¬
abhandlungen gebracht. Ich erwähne hier
nur Walter Otto, Alexander der Gr.,
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115 Ernst Kornemann, Philipp
Um von dem letzteren Gedanken aus¬
zugehen: es ist ein höchst seltener Fall
in der Weltgeschichte, daß auf einem
Throne zwei geniale Menschen als Va¬
ter und Sohn einander ablösen. 4 ) Was
in solchem Falle leicht eintreten kann,
geschah auch diesmal: der geniale Sohn
geriet, kaum erwachsen, in Gegensatz
zu dem Vater, allerdings durch dessen
Schuld 5 ), und ging mit der Mutter au¬
ßer Landes. So beginnt die Geschichte
des Nachfolgers auch hier mit dem
frondierenden Kronprinzen, und es wird
psychologisch verständlich, weshalb
Alexander von nun an alles daran¬
setzt, den Vater mit seinen Taten zu
übertrumpfen, was ihm in solchem Um¬
fange gelungen ist, daß der Vater in
der historischen Bewertung zugunsten
Marburger ak. Kriegsreden Nr. 34, Marburg,
Eiwert 1916; Ulrich von Wilamowitz,
Alexander der Gr., Reden aus der Kriegs¬
zeit V 1916; Walter Kolbe, Das Welt¬
reich Alexanders des Gr., Sonderabdruck
aus der Weihnachtsgabe Rostocker Univer¬
sitätslehrer 1916. Der geistvolle Entwurf
„Zur Geschichte der Monarchie“, den uns
Wilhelm Weber in seiner Tübinger An¬
trittsvorlesung geschenkt hat (Tübingen,
Kloeres 1919), berührt an mehreren Stellen
das Problem Philipp-Alexander, allerdings
unter starker Vordrängung der religiösen
Momente. Das letzte zu dem Thema ist
mein Aufsatz „Die letzten Ziele der Politik
Alexanders des Großen“ in Klio XVI (1919)
S. 209».
4) Einmal ist in der Weltgeschichte der
Fall eingetreten, daß sogar drei hochbe¬
gabte Herrscher als Vater, Sohn und Enkel
einander gefolgt sind: ich meine die Karo¬
linger Karl Marteil, Pippin und Karl der Gr.
5) Philipp vermählte sich nach der Heim¬
kehr vom griechischen Feldzug neben
Olympias mit Kleopatra, die aus vornehmem
makedonischem Hause stammte. Nicht die
Doppelehe an und für sich, sondern das
Eingehen einer zweiten Ehe in vorgerücktem
Alter der beiden Ehegatten und das takt¬
lose Auftreten der Verwandten der zweiten
Frau führten den Bruch herbei.
II. und Alexander der Große
des Sohnes unstreitig zu kurz gekom¬
men ist.
Der Konflikt zwischen Vater und
Sohn wäre wohl auch ohne die verlet¬
zende Tat des Vaters über kurz oder
lang ausgebrochen, schon deshalb, weil
sie in einem Punkte einander täu¬
schend ähnlich waren. Beide waren
nämlich Tatmefischen, von einem ge¬
radezu dämonischen Tätigkeitsdrang
beseelt wie wenige Sterbliche vor
und nach ihnen. Sowohl bei Phi¬
lipp wie bei' Alexander wird diese
Arbeitsfreudigkeit und diese großartige
Arbeitsbewältigung als der am meisten
hervorstechende Charakterzug hervor¬
gehoben, ein Tatendrang, wie er gerade
bei Angehörigen junger Völker sitih fin¬
det. Der zeitgenössische Geschicht¬
schreiber Theopompos hat seine Be¬
wunderung für Philipp in diesem
Punkte in die Worte zusammengefaßt,
daß Europa überhaupt noch keinen
solchen Mann hervorgebracht habe wie
Philipp, den Sohn des Amyntas. 6 ) Er
ist auch vom Standpunkt des Adels der
Arbeit betrachtet der erste „wahrhaft
königliche Mann“ in Europa gewesen.
Bei Alexander haben wir den besten
Beweis für seinen riesigen Arbeits¬
drang in den erhaltenen Auszügen aus
seinem Amts- und Hofjournal, den so¬
genannten Ephemeriden, für die letz¬
ten Tage seines arbeitsreichen Lebens
in Babylon. 7 ) Es ist ein furchtbares
Erkranken und Sterben bei ihm schon
deshalb, weil der Gewaltige vor Arbeit
eigentlich nicht krank sein will und
nicht sterben kann. Niemals ist der
Tod brutaler gewesen als damals, da er
diesen tatenfrohen und arbeitslustigen
jungen Mann im Alter von 33 Jahren
durch das Sumpffieber von Babylon
6) Polyb. VIII 11, 1; J. Kaerst, Geschichte
des Hellenismus I * S. 203.
7) Arrian VII 25 H.
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117
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
118
hinwegraffte. Bei beiden Männern ist
der Arbeitshunger höchstens noch über¬
troffen worden durch die Leistungs¬
fähigkeit im Genießen, sowohl auf dem
Gebiete des Geschlechtslebens wie was
Essen und was die altmakedonische
Sitte des Trinkens betrifft, etwas, was
bei Kraftnaturen, zumal aus so jungem
Volkstum, auch sonst vorkommt. Durch
ihren Schaffensdrang ohnegleichen aber
sind beide Herrscher Staatsmänner ersten
Ranges geworden, und der nachfolgende
Vergleich soll sich daher in erster Linie
auf ihr politisches Wollen und Können
erstrecken.
Philipps staatsmännische Großtat
ist die Einigung der größten Teile der
Balkanhalbinsel unter einem Willen,
eine Tat von ungeheurer Größe, wenn
man bedenkt, daß auch schon im Al¬
tertum diese Halbinsel ein vielfaches
Durcheinander von Völkern und Ras¬
sen beherbergt hat, wie kaum eine
zweite damals. Das Zentrum des er¬
sten Balkangroßstaates, den Philipps
Organisationskraft geschaffen hat, war
und blieb Makedonien. Das Zentralland
aber bekam durch seine Eroberungen
das, was' eine Großmacht vor allem
nötig hat, nämlich Küste. In dieser Be¬
ziehung ist Philipp für Makedonien,
was Peter der Große für Rußland
wurde: der Gewinner von Küste für
ein bis dahin meerabgewandtes und
meerfremdes Volk und der Schöpfer
einer Flotte, ohne die aller Küstenbesitz
totes Gut ist. In der inneren Politik
aber ruht die Größe Philipps auf der
engen Verbindung von Königstum und
Volkstum, zunächst von Königstum
und Volksoberschicht, wie sie durch
den ritterlichen Adel vertreten war,
dann aber auch von Königstum und
Volksganzem. 8 ,) Ein mittelalterlicher Feu-
8) Zum Folgenden vgl. die vortrefflichen
dalstaat wird durch den starken or¬
ganisatorischen Willen des Königs in
kurzer Zeit zu einem Beamtenstaat mit
einer ganz modernen Heeresorganisa¬
tion umgeformt. Diese ruht nicht mehr
wie seither auf dem Reiterheer des
Adels, sondern gleichzeitig auf der ge¬
schlossenen Infanteriemasse in Gestalt
der bekannten, unüberwindlichen Pha¬
lanx. Sie wird aus der Masse der Ge¬
meinfreien gebildet, die dadurch ne¬
ben den „Kameraden“ aus dem Adel,
den ixalQOi, zu „Kameraden zu Fuß“
(ne&TaiQoi) erhoben wird. 9 ) In den Mit¬
telpunkt der Volkserziehung wird da¬
durch das Heer gestellt, und das Volk,
bis dahin in der Hauptsache Hirten,
Jäger und Bauern in weit auseinander¬
liegenden Dörfern und Gehöften woh¬
nend, ohne National- und überhaupt
ohne Gemeinsinn, wird allmählich poli¬
tisch reif gemacht. Hedresverfassung
und Staatsverfassung stehen im Alter¬
tum sehr oft in engster Wechselwir¬
kung, nirgends jedoch so sehr wie in
Makedonien seit den Tagen Philipps II.
Neben dem Landheer wurde daseigent-
liche Schoßkind Philipps aber die
Flotte, bei deren Bemannung der König
stark auf das griechische Element, die
Küstenbevölkerung seines Staates, zu¬
rückgreifen mußte.
Die Krone hat Philipp seinem staats-
Ausführungen von J. Kaerst, Geschichte des
Hellenismus I* S. 192ff.
9) Ihren Ausgang nimmt die Bezeichnung
haipoi von einer engeren Gemeinschaft um
den König, irafpot rov ßaoiltiog, einer stän¬
digen persönlichen Umgebung des Herr¬
schers aus den Reihen des hohen makedo¬
nischen Adels. Ihre Anzahl beträgt unter
Alexander etwa 100. Von hier aus hat der
Begriff allmählich eine Erweiterung erfahren,
zuerst (unter Archelaos oder Philipp?) auf
die alte Nationalwaffe der Reiterei, später
dann auf das Fußvolk, vgl. Plaumann bei
Pauly-Wissowa-Kroll, R.-E. VIII Sp. 374ff.,
Kaerst a. a. O. I * S. 183ff. und S. 194 Anm. 3.
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119
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
120
männischen Wirken dann aufgesetzt
durch die Angliederung Griechenlands
an diesen neuen großmakedonischen
Staat nach der Schlacht von Chaero-
nea. Griechenland wurde im Frühjahr
337 von dem nordischen König zu Ko¬
rinth in einem allgemeinen griechischen
Landfriedensbund, abgesehen von
Sparta, das sich schmollend beiseite
hielt, geeinigt und als Ganzes an Make¬
donien angeschlossen. 10 ) Zweierlei ist
das eigentlich Neue an dieser korinthi¬
schen Bundesschöpfung Philipps, ein¬
mal die Tatsache der erstmaligen Or¬
ganisation der gesamten helleni¬
schen Staatenwelt des Mutterlandes
und dann die Betonung der xoivij elprjnj,
des allgemeinen Landfriedens in die¬
sem von Kämpfen und Fehden so zer¬
rissenen, unglücklichen Land. Jetzt fin¬
det durch die neue Präsidialmacht eine
gegenseitige Bindung der Hellenen
statt, untereinander Frieden zu halten zu
Wasser und zu Lande und gleichzeitig
die Herstellung eines Schutz- und
Trutzbündnisses zwischen dem so ge¬
einigten Hellas und Makedonien. Be¬
seitigung aller inneren Kriege und Feh¬
den, das war jetzt die Parole. Im übri¬
gen sollten die Einzelstaaten, die zum
Bunde gehören, frei und autonom sein,
d. h. sie sollten nach ihren sich selbst
gegebenen Verfassungen leben können,
ja diese Verfassungen wurden ihnen
von Bundes wegen gewissermaßen ga¬
rantiert. Gewaltsame Umwälzungen im
Innern der Einzelstaaten sollten nicht
mehr geduldet werden, das Privat¬
eigentum sollte unverletzlich sein. Es
war also eine ganz konservativ ge-
10) Zum korinth. Bund vgl. U. Köhler,
S.-Ber. Berl. Ak. 1892 S. 510«., 1898 S. 120;
J. Kaerst, Rhein. Mus. 52, 1897, S. 519ff., Ge¬
schichte des Hellenismus I 1 S. 268ff. u.
S. 526ff.; A. Wilhelm, S.-Ber. der Wien.
Akad. 1911 Abhandl. 6; U. Wilcken, S.-Ber.
der Münch. Akad. 1917 11. Abhandlung.
richtete Politik, die neben den Inter¬
essen des Friedens den Interessen der
Besitzenden diente 11 ), und die dem
nordischen König den Weg nicht nur
in die Staatenwelt Griechenlands, son¬
dern auch zu den Herzen vieler Grie¬
chen bahnte, da sie der großen Ver¬
gangenheit der Besiegten, soweit ir¬
gend möglich, Rechnung trug. Man
hat mit Recht betont, daß der Make¬
donierkönig als Garant des Friedens
in Hellas an Stelle des Perserkönigs
trat, der seit dem Antalkidas-Frieden
(386) diese Rolle innegehabt hatte, und
daß Philipp so die makedonische He¬
gemonie über Griechenland an Stelle
der persischen gesetzt hat. 12 ) Nur war
die Bindung von Hellas an Makedonien
eine festere als diejenige an Persien.
Denn es mußte jetzt alle selbständige
Politik nach außen aufgeben und wurde
in diesem Punkte ein Anhängsel von
Makedonien. Vor allem wurde das of¬
fene und geheime Paktieren mit den
Barbaren, worunter natürlich in erster
Linie die Perser zu verstehen waren,
ein für allemal abgestellt.
Ungemein klein war, offenbar mit
Bewußtsein, der äußere Apparat des
neu geschaffenen Bundes. Nur ein
Bundesrat wurde geschaffen, in wel¬
chen jeder einzelne Staat eine seiner
Bevölkerungszahl proportionale Zahl
von Vertretern sandte. Dieser Bundes¬
rat war die höchste beratende und be¬
schließende Behörde und zugleich der
oberste Gerichtshof in Bundessachen.
Die Exekutive aber lag in den Händen
des makedonischen Königs, der zum
„Herzog“ 18 ) ( fiysfubv ) der Hellenen ge¬
11) So richtig J. Kaerst, Hellenismus I*
S. 276.
12) Kaerst a. a. O. I* S. 271; Ü. Wilcken
a. a. O. S. 34 f.
13) Die Übersetzung »Präsident“ genügt
nicht, weil das Amt vornehmlich einen
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121
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
122
wählt wurde, eine Würde, die mit der
makedonischen Königswürde offenbar
ständig verbunden sein sollte. Als Bun¬
desvorstand oder Präsidialmacht ver¬
fügte Makedonien seitdem sowohl in
einem Angriffskrieg, der vom Bundes¬
rat beschlossen werden mußte, über
die Streitkräfte des Bundes, als auch
war Makedonien, wenn der Friede in
Griechenland von äußeren oder inneren
Feinden bedroht war, der oberste Hü¬
ter des Landfriedens. Die Richtung ge¬
gen den Perserkönig erhielt die ganze
Schöpfung sehr bald dadurch, daß
Philipp die alte Forderung der Helle¬
nen nach Befreiung der kleinasiatischen
Griechen vom Perserjoch im Rahmen
der territorialen Erweiterung Make¬
doniens als sein Kriegsziel prokla¬
mierte und auf der ersten Tagsatzung
des Bundes zu Korinth den National¬
krieg gegen Persien beschließen ließ,
und zwar auf Grund eines außeror¬
dentlichen Spezialkommandos mit un¬
umschränkter Vollmacht, was für die
Zeit der militärischen Operationen in
dem Titel fftpar^yog avxoxQixuoQ seinen
Ausdruck fand. 14 ) Es ist eine der grö߬
ten Feinheiten der philippischen Po¬
litik, daß sie so für den Neuaufbau
von Hellas sich des gemeinsamen Ge¬
gensatzes gegen Persien bediente, etwa
wie Bismarck nach 1866 den gemein¬
samen Gegensatz der Nord- und Süd¬
staaten gegen Frankreich benutzte, um
die deutsche Einigung zunächst in Ge¬
stalt eines Schutz- und Trutzbündnis¬
ses Preußens mit Süddeutschland zu¬
stande zu bringen.
Alles, was hier aus dem Kapitel der
Staatsschöpfung Philipps andeutend
militärischen Charakter trug, U. Köhler,
S.-Ber. Berl. Ak. 1892 S. 511; U. Wilcken
a. a. 0. S. 27.
14) Diodor XVI 89, 3, dazu Wilcken
a. a. O. S. 27.
vorgeführt worden ist, verrät einen
staatsmännisch ganz hervorragend be¬
gabten Herrscher, der in Makedonien
sowohl wie in Griechenland das hi¬
storisch Gewordene mit den Bedürf¬
nissen der Gegenwart, die bei dem all¬
gemeinen rapiden Verfall der Kräfte
nach einem starken Staatswesen ver¬
langte, in Einklang zu setzen verstand.
Mit diesem Staatsgebilde, das die Bal¬
kanhalbinsel mit einem Schlag zu einem
Machtfaktor ersten Ranges in der Mit¬
telmeerpolitik machte, wäre auch die
letzte Aufgabe, die Philipp sich gestellt
hatte, restlos zu lösen gewesen, nämlich
die Befreiung des kleinasiatischen Grie¬
chentums von der Perserherrschaft und
die Besetzung des Hinterlandes — mehr
hat Philipp nicht im Auge gehabt —,
wenn den tatenlustigen König nicht im
Jahre 336 vorzeitig, im Alter von 47
Jahren bereits, der Stahl des Mörders
getroffen hätte. —
Jedem Laien muß die Ähnlichkeit
der Situation mit derjenigen im Römer¬
reich im Jahre' 44 v.Chr. nach Cäsars
Ermordung in die Augen fallen. Ein
glänzender, schöpferischer Herrscher in
beiden Fällen beseitigt nach Erfolgen
sondergleichen auf dem Schlachtfeld
und im Staatsleben, beseitigt in dem
Augenblick, da er sich anschicken
wollte, seinem politischen Leben den
großen Abschluß zu geben, Philipp
durch den kleinasiatischen Feldzug ge¬
gen die Perser, Cäsar durch den Krieg
gegen die Parther. Aber die Parallele
geht nodh weiter. Wie später Octavia-
nus, der Adoptivsohn, wird diesmal
Alexander, der leibliche Sohn, in au¬
ßergewöhnlich jungen Jahren und nach
einem politischen Morde, dem der Va¬
ter zum Opfer gefallen war, zur Re¬
gierung berufen. In beiden Fällen geht
der neue Herrscher, so jung er auch ist,
sehr bald andere Bahnen.
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123 Ernst Kornemann, Philipp
Bei Alexander zeigt sich dies in
seinem Auftreten gegenüber den beiden
größten Schöpfungen, man möchte sa¬
gen, den Lieblingsschöpfungen seines
Vaters, gegenüber dem neuen Griechen¬
bund und der makedonischen Flotte.
Es ist keine Frage: Alexander hat
nach dem Abfalle Thebens, das schwer
bestraft werden mußte, den Griechen
gegenüber die Autorität des makedoni¬
schen Königtums schärfer betont. Die
Kluft zwischen Makedoniertum und
Griechentum hat sich dadurch unter
ihm nicht verschmälert, sondern ver¬
breitert. Statt f)ys[iibv, „Herzog“, wird der
ursprünglich nur für den Perserkrieg
verliehene Titel dTQaty'ybs avroxgarcoQ
zur offiziellen Bezeichnung des make¬
donischen Königs in seiner Eigenschaft
als Führer der Hellenen. Es begegnet
weiter eine schiedsrichterliche Stellung
des neuen makedonischen Königs in
Bundesangelegenheiten, die immer mehr
an Stelle und auf Kosten des Bundes^
rates sich ausbreitet, der so seiner Be¬
deutung als eines obersten Gerichts¬
hofes allmählich entkleidet wird. Die
Hauptsache aber ist: das griechische
Kontingent in Alexanders Heer, die sog.
av[i[iaxoi, spielt keine große Rolle so¬
wohl wegen der geringen Anzahl (7000
Mann zu Fuß und 600 Reiter bei einem
Gesamtaufgebot von 30000 Mann zu
Fuß und 5000 Reitern) als auch in¬
folge des Umstandest daß das Ober¬
kommando selbst über dieses kleine
griechische Hilfskorps in makedoni¬
schen Händen ruht, endlich aber aus
folgendem Grunde: seit der Einäsche¬
rung von Persepolis im Jahre 331 wird
dieses Hilfskorps heimgesandt, und
militärisch stützt sich von da ab Alex¬
ander nicht mehr zugleich auf den ko¬
rinthischen Bund; von da ab gibt
es im makedonischen Heer nur noch
griechische Söldner, die durch Privat¬
II. und Alexander der Große 124
vertrag mit dem König Teile des make J
donischen Heeres selbst geworden sind,
Der Flotte gegenüber verhält sich
Alexander noch ablehnender. Wir emp¬
fangen den Eindruck, als ob der junge
König hier zunächst das gerade Ge¬
genteil seines Vaters war, meerabge-
wandt und daher flottenfeindlich, si¬
cher nicht zum wenigsten deshalb, weil
das Meer das Element der Griechen
und die Flotte ihr Werkzeug war. In
diesem Punkt empfand Alexander noch
makedonischer als sein Vater. Wir
schauen tief in die Seele des jungen
Herrschers hinein gelegentlich der Er¬
zählung von dem Kriegsrat, den er un¬
mittelbar vor der Eroberung von Mi¬
let im Jahre 334 abgehalten hat. 15 )
Dort erhebt sich wie vor der Schlacht
am Granikos die Stimme seines Gene¬
ralstabschefs Parmenion, des größten
Generals aus Philipps Schule, und führt
zu Auseinandersetzungen, vergleichbar
denen des jungen Friedrich mit dem
alten Dessauer und Schwerin oder de¬
nen Napoleons im Jahre 1798 mit sei¬
nem Generalstabschef Berthier. 16 ) Par¬
menion will den weiteren Feldzug zur
See geführt wissen, obwohl die persi¬
sche Flotte der makedonischen stark
überlegen ist. Wie er einige Zeit vorher
der Granikos-Schlacht sich widersetzt
hatte, so befürwortet er jetzt eine
Schlacht, allerdings eine Seeschlacht.
Zum zweitenmal aber geht der junge
Fürst seinen eigenen Weg und verhält
sich gegenüber dem Rate des alten
Chefs ablehnend: er fühlt, daß das
Makedoniertum seine Stärke im Land¬
heer hat, und daß die Flotte, die dann
in den Vordergrund geschoben wor¬
den wäre, im Grunde etwas Griechi-
15) Vgl. hierzu Gustav Scholz, Klio XV
(1917) S. 207.
16) Joh. Kromayer, Hist. Zeitscfar. 100
(3. Folge 4) S. 18.
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126
Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
slHQPfft. Er hat das instinktive Gefühl,
eroe Niederlage zur See in diesem Au¬
genblick kann alles verderben. Er steht
mit seinem Makedonierhäuflein zwi¬
schen zwei Feuern: drüben die Grie¬
chen, die durch die harte Behandlung
der Thebaner sehr makedonierfeind¬
lich geworden sind, hüben die Perser
mit ihren gewaltigen Machtmitteln al¬
ler Art zu Land und zu Wasser. Am
Granikos war Alexander ein verwege¬
ner Spieler gewesen, der alles auf eine
Karte gesetzt hatte, allerdings auf die
Karte, auf die er alles setzen konnte,
auf seine makedonische Soldateska.
Jetzt sind die Rollen plötzlich ver¬
tauscht. Parmenion will schlagen, al¬
lerdings auf dem Meere, Alexander
aber ist der Vorsichtige, der Zurück¬
haltende. Die Erklärung ist leicht: Par¬
menion ist nur Soldat, in Alexander
aber erscheint jetzt zum erstenmal vor
unseren Augen der große Staatsmann,
als den wir ihn auch fernerhin kennen
lernen werden. Was durch den See¬
sieg militärisch gewonnen würde, ist
— darin hat Parmenion recht — sehr
viel. Man bekommt den Rücken frei
(die persische Flotte stand damals be¬
kanntlich im Ägäischen Meer), und die
Verbindung zwischen Persien und Grie¬
chenland würde ein für allemal un¬
möglich gemacht. Aber Alexander sieht
diesmal auch die Möglichkeit einer
Niederlage und aus diesem Grunde ist
ihm das Risiko zu groß. Wer recht
hatte, ist nicht zu sagen, da die See¬
schlacht nicht gewagt worden ist. Aber
Alexander hat sicher doch insofern
recht behalten, als die Eroberung des
Perserreiches auch ohne Flotte — er
hat nach der Eroberung Milets seine
Flotte bis auf einen kleinen Rest, dar¬
unter die zwanzig von Athen gestell¬
ten Schiffe, aufgelöst — und ohne
Seeschlacht möglich gewesen ist. Es
war nur nötig, möglichst mit dem
Landheer an der Küste sich zu halten
und der persischen Flotte nach und
nach alle Stützpunkte wegzunehmen.
So schwebte sie eines Tages ohne Ha¬
fen in der Luft und mußte von selbst
verschwinden. Alexander hat „das
Meer vom Lande aus erobert“ 17 ), hat
wirklich das große Kunststück fertig
gebracht, ein Weltreich, das ausge¬
stattet war mit einer der größten Flot¬
ten jener Zeiten, ohne Ruderschlag zu
erobern. Sein Vater Philipp hätte dies
sicher ganz anders gemacht.
Aber nicht nur in diesem Punkt, son¬
dern auch noch in einem weiteren, zu
dem wir uns jetzt wenden, wäre Phi¬
lipp ganz anders verfahren, nämlich
in der Lösung des gewaltigen Pro¬
blems des Staatsneubaus, das nunmehr
an Alexander herantrat. Nach der
Schlacht bei Issus wird zum erstenmal
in einem Briefe an den geschlagenen
Gegner die neue Staatsform berührt, die
Alexander zu begründen gedachte, und
nach dem Siege bei Arbela ist dann die
definitive Entscheidung gefallen. Baoi-
Xevg tijg AöCag, König von Asien nennt
sich seitdem der Makedonier. Großkö¬
nigtum über Asien aber heißt Herr¬
schaft über alle Lande, die die Perser
jemals innegehabt hatten, Ablösung
des letzten Achämeniden im ganzen
Umfang seines Reiches. Alexander hätte
nun in ganz verschiedener Weise die
Königsherrschaft über Asien aufrich¬
ten können, entweder indem er auch
fernerhin der makedonische König
blieb und Asien als unterworfenes Land
behandelte: das war der Weg, den
wahrscheinlich Philipp gegangen wäre,
und den später Augustus bei dem Neu¬
bau des Römerreiches, wenigstens in
der Heeresverfassung, einschlug, indem
17) Ed. Meyer, Kl. Schriften S. 287.
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127
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
128
er einseitig auf Italien und dem itali¬
schen Bürgerelement das Legionsheer
aufbaute. Alexander ist aber offenbar
das kleine Makedonien als zu schmale
Basis für die Beherrschung des Welt¬
reiches erschienen, und Griechenland
kam zur Erweiterung dieser Basis seit
Thebens Abfall nicht mehr in Betracht,
obwohl die meisten Neueren, auch Ed.
Meyer 18 ), dies behaupten. Denn gerade
nach der Einäscherung von Persepo-
lis, also noch im Jahre 331, hat Alex¬
ander, wie wir sahen, das kleine grie¬
chische Bundesheer nach Hause ge¬
schickt, sich also jeder ferneren Mit¬
wirkung der Griechen entäußert. Der
Weg, den Alexander gegangen ist, war
ein ganz neuer und den Ideen Philipps
diametral entgegengesetzter, es war
kurz gesagt die Politik der Angleichung
und Ausgleichung, ja schließlich der
Verschmelzung, aber nicht der Ver¬
schmelzung etwa aller Völker und Ras¬
sen im neuen Reiche, sondern nur der
beiden Herrenvölker von hüben und
drüben, der Makedonier und der Per¬
ser, ein Gedanke, der in Alexander
aufgetaucht ist offenbar unter dem Ein¬
fluß des Achämenidenreiches selber,
wie er es antraf. Denn auch dieses war
immer ein zweigeteiltes gewesen, ein
medisch-persisches Reich, aufgebaut
auf Medern und Persern, die in dem
Reiche und im Heere vor allem sich
die Wage hielten. Es ist höchst inter¬
essant zu sehen, wie Alexander der
persischen Nation, die er eben erst un¬
terworfen hatte, ein größeres Vertrauen
entgegengebracht hat als der griechi¬
schen, so sehr er auch einzelne Grie¬
chen in seine Dienste gezogen hat. Doch
das kommt uns heute nur deshalb selt-
18) A. a. O. S. 297. Nach Ed. Meyer
fühlte sich Alexander in noch ganz anderer
Weise als sein Vater Philipp als Hellene.
Das gerade Gegenteil ist der Fall.
sam vor, weil wir alles Persische nur
durch die griechische Brille zu schauen
gewohnt sind und infolgedessen an
einer höchst auffälligen Unterschätzung
des persischen Staates und der persi¬
schen Kultur leiden. Erst Ed. Meyer
hat durch die Darstellung der Riesen¬
leistungen des Cyrus und Darius im
Anfang des dritten Bandes seiner Ge¬
schichte des Altertums einer gerechte¬
ren Bewertung des Persertums die
Wege geebnet. Um so auffälliger ist es,
daß derselbe Gelehrte in den Chor der¬
jenigen eingestimmt hat, die Alexan¬
ders Versuch, einen makedonisch-per¬
sischen Staat an die Stelle des seitheri¬
gen medisch-persischen Staates zu set¬
zen, glattweg verurteilen. 19 ) Diese alex-
andrische Politik der Verschmelzung
endete allerdings schließlich in dem
Gedanken der Züchtung einer neuen
Rasse, einer makedonisch-persischen
Mischrasse; der Makedonier hat schlie߬
lich Menschenrassen züchten zu kön¬
nen geglaubt, wie man etwa Tierrassen
züchtet. Nach dieser Überspannung des
Bogens kam naturgemäß der Rück¬
schlag. Die eigne Soldateska reagierte
in dem Aufstand von Opis im Jahre
324 gegen die anationale Politik ihres
Königs. Da zudem das persische Be¬
amtentum sich nicht so bewährte, wie
der König erwartet hatte, ist Alexander
ganz am Ende seines Lebens nach der
Rückkehr aus Indien etwas zurückge¬
wichen und hat, wenn wir vom Heer
auf den Staat schließen dürfen, den
älteren Gedanken der vollen Gleichbe¬
rechtigung von Makedoniern und Per¬
sern aufgegeben und an die Stelle ge¬
setzt ein System der Abstufung zwi¬
schen den beiden Herrenvölkern, inso¬
fern jetzt der Primat den Makedoniern
19) A. a. 0. S. 301 f. Etwas vorsichtiger
urteilt Walter Otto, Alexander der Gr., Mar-
burger ak. Kriegsreden Nr. 34, 1916, S. 15.
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PRINCETON UNIVERSITY - “"
■r
129 Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
luerkannt wurde und die Perser in
jeder Beziehung an die zweite Stelle
rücken mußten. Aber auch so bleibt der
Unterschied von Philipps nationalisti¬
scher Politik und Alexanders Univer¬
salismus sehr groß 20 ): der neue Gro߬
könig von Asien, der sich auf Make¬
donier und Perser stützt 21 ), tritt an die
Stelle des alten makedonischen Volksi-
königs und Hellenenherzogs.
Es ist aber von den Neueren nicht
genügend beachtet worden, daß Alex¬
ander ganz zum Schluß noch einmal
eine große Schwenkung seiner Poli¬
tik in einem Punkte vollzogen hat, die
ihn wieder näher an die Politik seines
Vaters herangeführt hat. 2 *) Arrian, des
Königs Biograph, beginnt das letzte
Buch seiner Darstellung mit folgenden
Worten: Als Alexander vom großen
innerasiatischen Feldzug im Anfang
des Jahres 324 nach Persepolis, also
an den Ausgangspunkt, zurückkehrte,
„da ergriff den König das Verlangen,
den Euphrat und Tigris zum Persi¬
schen Meer hinabzufahren, die Mün¬
dungen dieser Flüsse und das Meer
dortselbst zu schauen, wie er es beim
Indus schon getan hatte“.
Mit diesen Worten deutet Arrian eine
große Wandlung in Alexanders Seele
an, die hervorgerufen ist' durch den
schweren Mißerfolg des Königs beim
Rückmarsch durch die Wüsten von Ge-
drosien und andererseits durch den
großartigen Erfolg der Seeexpedition
Nearchs, w ofür er vom König die
20) W. Weber, Zur Geschichte der Mon¬
archie, Tübingen 1919, S. 18.
21) Alexanders Trinkspruch bei dem gro¬
ßen Versöhnungsfest von Opis gipfelt in
den Worten: Die Götter möchten vor allem
Eintracht und gemeinsames Regiment Make¬
doniern und Persern gewähren. Dazu W.
Otto a. a. O. S. 16.
22) Zum folgenden vgl. meinen Aufsatz
.Die letzten Ziele der Politik Alexanders
des Gr.“ in Klio XVI (1919) S. 209 ff.
Internationale Monatsschrift .
130
höchsten Ehrungen erfuhr, u. a. die
Verleihung der höchsten Auszeichnung,
des goldenen Kranzes, den nur die
Leibwächter des Königs, modern ge¬
sprochen seine Generaladjutanten, zu¬
gleich die Spitzen der Generalität des
Landheeres, erhielten. Alexander aber
ist mit einem Schlag Feuer und Flam¬
me für die Probleme der Meerbeherr¬
schung und des Seehandels von nun
ab. Er sieht offenbar ein, daß die
dauernde Beherrschung der großen in¬
nerasiatischen Gebiete, vor allem der
großen Fruchtebenen, die das iranische
Hochland umgeben (Mesopotamien,
Baktrien und Induslandschaft), nur
möglich ist durch Benutzung der Mee¬
resstraßen. So kommt es, daß das
7. Buch Arrians, in welchem das letzte
Lebensjahr des Königs geschildert wird,
angefüllt ist mit Berichten über See¬
pläne des Königs. Wir hören von der
Aussendung des Herakleides mit dem
Auftrag, eine Schiffsexpedition auf
dem Kaspischen Meer auszurüsten und
die Küsten dieses Meeres zu erfor¬
schen.. Wieder bedient sich der Histo¬
riker Alexanders der Worte, daß den
König ein Verlangen nach dem Meere,
jetzt nach diesem nordischen Meere, er¬
griffen habe. Wenn man das Ziel die¬
ser Nordexpedition richtig erfassen
will, muß man sich vor Augen hal¬
ten, daß die Menschen der damaligen
Zeit glaubten, das Kaspische Meer
stehe mit dem nordischen Ozean in
Verbindung und der Oxus münde nicht
in den Aralsee, sondern in das Kaspi¬
sche Meer.* ! ) Man hoffte also auf die-
23) A. Hermann, Alte Geographie des
unteren Oxusgebietes, Abh. der Gött. Ges.
der Wiss. N. F. XV Nr. 4, Berlin 1914, hat
sogar nachzuweisen gesucht, daß tatsäch¬
lich im Altertum eine Verbindung zwi¬
schen dem Oxus und dem Kaspischen Meer
durch das Trockenbett des Usboi bestan¬
den hat.
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132
Ernst Kornemann, Philipp II. und Alexander der Große
sem Wege eine Verbindung zu Wasser
nach Baktrien zu bekommen, wie sie
Nearch eben nach Indien hergestellt
hatte. In Babylon angekommen aber
hat der König selber sofort den weite¬
ren Plan einer Umschiffung Arabiens
in die Wirklichkeit umzusetzen ge¬
sucht. Drei Expeditionen sind nach¬
einander ausgeschickt worden, von de¬
nen die dritte den ausdrücklichen Be¬
fehl hatte, ganz Arabien bis nach
Ägypten hin zu umfahren. Gleichzeitig
wurde die Reichshauptstadt Babylon zu
einem Reichskriegshafen ausgebaut,
und eine gewaltige Kriegsflotte von
tausend Schiffen in Arbeit gegeben,
zum Teil wegen des vorzüglichen Bau¬
holzes an der Küste von Phönizien und
Cypern, die dann, wenn nötig, sieben
Tagereisen weit über Land bis zum
Euphrat transportiert wurden: ein her¬
vorragendes Beispiel antiker Technik!
Zu einer Flotte braucht man aber auch
Mannschaften, und zu deren Ausbil¬
dung werden in Babylon große Flot¬
tenmanöver und sportliche Wett¬
kämpfe zu Wasser veranstaltet, um das
höchste Maß der Ausbildung zu errei¬
chen. Hier tritt uns auf einmal ein
ganz neuer Alexander entgegen, der an
diesen Wasserspor.kämpfen selber teil¬
nimmt und der bei einer neuen Schiffs¬
expedition um Arabien herum nicht
mehr wie seither das Landheer führen,
sondern selber die Flotte besteigen will,
allerdings unter Nearchs kundiger Füh¬
rung.
Wenn man dies alles ins Auge faßt,
so sieht man auch deutlich, was es mit
den letzten Plänen Alexanders auf sich
hat, die in nachgelassenen Papieren
vorgefunden worden sind* ), vor allem
24) Diodor XVIII 4. Ober diese wichtige
Stelle vgl. meine Ausführungen Klio XVI
S. 218ff. und H. Endres, Rhein. Mus. 72,
1918, S. 437 ff.
mit dem Plane, auch noch Karthago zu
erobern und eine Verbindungsstraße an
der nordafrikanischen Küste entlang
zwischen Alexandria und dieser Han¬
delsmetropole des fernen Westens zu
bauen.* ) Alle diese Pläne dienen einem
und demselben Endziel, der Gewinnung
der Herrschaft über die an das neue
Weltreich angrenzenden Meere. Die
große Landherrschaft von der Adria
bis zum Indusstromland soll jetzt er¬
gänzt werden durch die Seeherrschaft
über die angrenzenden Meere und die
vorgelagerten Inseln. Vor allem mit
Babylon und Alexandria in Ägypten
hatte der König Großes vor. Wie Ba¬
bylon die Reichshauptstadt und der
Reichskriegshafen, so sollte Alexan¬
dria der Haupthandelshafen des Rei¬
ches werden. Wenn die Unternehmung
gegen Arabien gelang, war die ägyp¬
tische Alexanderstadt auf dem See¬
wege an Babylon, die Reichshauptstadt
und den Reichskriegshafen, und wei¬
ter an Indien angeschlossen. Wenn
dann noch Karthago niedergerungen
und die afrikanische Küstenstraße von
Ägypten westwärts über Kyrene, das
Alexanders Oberhoheit bereits aner¬
kannte, gebaut^ war, dann war Alex¬
andria in den Mittelpunkt des damali¬
gen Weltverkehrs zu Wasser und zu
Lande gerückt. Es wurde dank dem an¬
tiken Suezkanal durch das Wadi Tu-
milät der Mittelpunkt des Transithan¬
dels vom Indischen Ozean nach dem
Mittelmeer und umgekehrt, ähnlich wie
Ägypten heute nach unserer Nieder¬
lage der Eckpfeiler des in der Entste¬
hung begriffenen britischen Weltrei¬
ches um diesen Ozean werden wird.
25) Offenbar wegen der an dieser Küste
vorhandenen Schwierigkeit, westwärts zu
fahren, da die Meeresströmung hier ost¬
wärts gerichtet ist, darüber A. Philippson,
Das Mittelmeergebiet S. 58.
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134
Paul Michaelis,
Babylon und Alexandria sind die bei¬
den Augen des neuen Weltreiches Alex¬
anders, und das Meer ist die große
Verkehrsstraße zwischen den verschie¬
denen Fruchtländern und den Ausfuhr¬
gebieten der Monarchie.
Dieser Alexander des letzten Lebens¬
jahres aber ist, das braucht wohl kaum
nach allem Gesagten ausgesprochen zu
werden, zu Philipp zurückgekehrt, dem
großen Flottenschöpfer von ehedem,
dem Eroberer von möglichst viel Küste
für sein Reich, dem Beherrscher der
großen Meer- und Handelsstraße durch
die Dardanellen und den Bosporus.
Wir haben einen direkten Beweis da¬
für, daß Alexander selber, wenn auch
spät, die Einsicht in die wahre Größe
seines Vaters gekommen ist. Denn in
den schon einmal zitierten nachgelas¬
senen Papieren des großen Königs ist
auch die Absicht verzeichnet, seinem
Vater Philipp ein Grabmal zu errich¬
Charles de Villers
ten, so groß wie die größte der Pyra¬
miden von Ägypten.
Der Historiker aber, der heute rück¬
schauend die Dinge sub specie aeter-
nitatis überblickt, muß sagen: Der
große tausendjährige Weltentag, der
damals anzubrechen begann, hat sein
erstes Licht nicht nur von dem Feuer¬
geiste Alexanders empfangen, sondern
in gleichem Umfange auch, wie der
geniale Sohn schließlich selber hat an¬
erkennen müssen, von der feinen staats-
männischen Klugheit Philipps, der ge¬
radeso wie sein Sohn unter die Gro¬
ßen auf den Thronen dieser Welt ge¬
rechnet werden muß. Ohne Philipp kein
Alexander, ohne Alexander keine Welt
des Hellenismus, in der die erste Welt¬
kultur Europas entstanden ist, und in
der den christlichen Lehren von der
Menschengleichheit der Weg geebnet, ja
später die schnelle Ausbreitung des neuen
Glaubens erst ermöglicht worden ist
Charles de Villers.
Von Paul Michaelis.
ln unseren Tagen, die wieder eine
tiefe Kluft zwischen dem deutschen und
dem französischen Volke gerissen ha¬
ben, ist es wohl angezeigt, an einen
Franzosen zu erinnern, der einst als
Mittler zwischen Deutschland und
Frankreich von vielen der Besten un¬
seres Volkes hochgeachtet war, heute
aber bei uns wie in Frankreich vergessen
ist. Zur Zeit als Napoleon I. siegreich
durch Europa zog und Preußen unter¬
warf, hat er treu zum deutschen Volke
gehalten, ununterbrochen an der von
ihm übernommenen Lebensaufgabe,
Frankreich und Deutschland einander
näher zu bringen, weitergearbeitet.
Darum soll er in unserer Gegenwart, die
solcher Mittler noch viel dringender be¬
darf, von neuem zu Worte kommen.
1 .
Charles de Villers, der 1815 in Göt¬
tingen starb, wo er in den letzten Jah¬
ren seines Lebens Professor gewesen
war, wurde 1765 in Boulay (Lothrin¬
gen) geboren. Uber seine erste Jugend
ist nicht viel zu sagen. Nach dem Be¬
such der Benediktinerschule in Metz
trat er 1780 als Zögling in die Metzer
Artillerieschule ein, wurde 1782 Artil¬
lerieleutnant in Toul, später in Stra߬
burg. Die französische Revolution, die
ihn bei friedlichen Arbeiten (dramati¬
schen Entwürfen, Übersetzung Senecas)
5*
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Paul Michaelis, Charles de Villers
135
überraschte, ließ ihn zum ersten Male
an die Öffentlichkeit treten. Zuerst be¬
geisterter Anhänger der Freiheitsidee,
wandte er sich, als die Revolution aus
dem Maßvollen ins Maßlose hinausi-
wuchs, von ihr ab und verkündete seine
eigenen Gedanken über Freiheit und
Gleichheit in der 1791 erschienenen
Schrift: De la Libertö.
Freiheit, sagt er, könnte nur bestehen,
wenn man in einer Gesellschaft von
Philosophen lebte. Man hüte sich, dem
Volke von Freiheit zu sprechen: denn
Freiheit ist ihm weiter nichts als das
Aufhören aller gesetzlichen Ordnung.
„Renonoez donc“, so ruft er aus, „ä la
libertö; oböissez aux lois; ayez des rois,
aimez-les et respectez-les. M6fiez-vous
de oeux qui vous exaltent au nom de la
libertfe!“
Es ist merkwürdig, daß Villers trotz
der Offenheit, mit der er sich in dieser
Schrift gegen die Pariser Gewalthaber
aussprach, bis zum April 1792 in Frank¬
reich bleiben konnte. Als aber die Zeit
der Adelsverfolgungen gekommen war,
mußte er sein Vaterland verlassen.
Nach mannigfachen Irrfahrten trieb
ihn das Schicksal nach Holzminden an
der Weser. Mehr als zwei Jahre
schweifte er in Westfalen umher, um
das Land, das ihn aufgenommen hatte,
und seine Bewohner kennen zu lernen.
Als Einunddreißigjähriger läßt er sich,
im Herbst 1796 in Göttingen immatri¬
kulieren und tritt mit den bedeutend¬
sten Professoren, vor allem mit Schlö-
zer, in Verbindung. Ein Jahr später ver¬
öffentlichte er als Ergebnis seines zwei¬
jährigen Aufenthaltes in Westfalen die:
„Lettres westphaliennes sur plusieurs
sujets de Philosophie, de littörature et
d histoire, contenant la description pit-
toresque d’une partie de la Westphalie."
Die Schrift enthält anziehende Plaude¬
reien über Westfalen und seine Be¬
wohner, über Corvey und seine Ge¬
schichte, über Klopstocks Hermanns¬
schlacht und den Kampf der Sachsen
gegen den großen Frankenkönig. Was
dem Buche aber ein besonderes Inter- I
esse verleiht, sind einzelne Bemerkun¬
gen über Kant und seine Philosophie.
Villers wagt damit den ersten Versuch,
die deutsche kritische Philosophie sei¬
nen Landsleuten vorzuführen. Im
8. Briefe — die Briefe sind an eine
Dame gerichtet — tritt zum ersten Male
der Name .Kants auf. Villers plaudert
über Descartes, Spinoza, Malebranche,
Locke und ihre Philosophie: dann leitet
er über zu Kant: „Enfin Kant est venu.
. C'est un terrible homme, madame,
que ce philosophe de Koenigsberg, et
avec lequel il est bien difficile d’avoir
raison. C’est un raisonneur dösesperan!
pour les gens qui se payent de phrases
et de rhfetorique. Gare avec lui les faux
monnayeurs!“ Er nennt Kant einen
„sage universel“ und spricht über seine
„Critique de la saine raison“: „Son livre
n’est pas consolant, il n’est pas riant,
il n’est pas flatteur pour le pauvre
esprit humain qui aime tant ä etre
berc6; mais du moins c’est le bilan de
nos connaissances.... Peut-etre, ma-
dame, regretterez-vous, comme mille
autres, les romans que d6truit Mr Kant,
car l’erreur est si douce.“ —
Daß Villers bald noch inniger mit
der deutschen Philosophie und Litera¬
tur verwachsen sollte, das verdankt
Deutschland einer seiner edelsten
Frauen, Dorothea Rodde-Schlözer. Vil¬
lers hatte beschlossen, nach Rußland zu
reisen, um dort, unter dem Beistand
seines in Petersburg lebenden Bruders,
eine gesicherte Lebensstellung zu su¬
chen. Er begab sich im Jahre 1797
nach Lübeck, wo er sich nach Ru߬
land einschiffen wollte.
In Lübeck lebte, als Gattin des Sena-
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137
Paul Michaelis, Charles de Villers
138
tors Rodde, die Tochter des von Villers
hochverehrten Göttinger Professors
Schlözer, Dorothea, die als erste
deutsche Frau den Grad eines Dr. phil.
erlangt hatte. Trotz aller Gelehrsam¬
keit — sie hatte außer sechs neueren
Sprachen das Lateinische, Griechische,
Hebräische erlernt und las Cicero und
Homer ohne Schwierigkeit — war sie
durchaus kein Blaustrumpf. 1 ) Villers
wollte auf der Durchreise durch Lü¬
beck Frau Rodde und den Ihrigen
Grüße der Eltern in Göttingen über¬
bringen. Schon das erste Gespräch mit
Dorothea fesselte ihn so, daß er bald
auf seine Reise nach Rußland verzich¬
tete. Er hatte ihr erzählt, sein aus¬
schließliches Lieblingsstudium sei die
deutsche Philosophie; in Kant verehre
er den größten Denker Deutschlands,
ja Europas; sein lebhafter Wunsch sei,
Kants Schriften seinem Volke zugäng¬
lich zu machen, das sich noch in völ¬
liger Unkenntnis über sie befinde. Doro¬
thea hatte ihm erwidert: Auch von den
großen deutschen Dichtern wüßten die
Franzosen so wenig; Villers solle es
sich doch zur Aufgabe machen, auch
ihre Werke in Frankreich einzuführen.
Wenn sein Herz schon so warm für
Kant schlüge, wieviel feuriger würde
es sich für Goethe und Schiller be¬
geistern. Auf Veranlassung Dorotheas
las Villers nun „Hermann und Dorothea“,
„Werthers Leiden“, „Iphigenie“, „die
Räuber“, „Fiesco“, „Götz“, „Nathan den
Weisen“. Dorothea ihrerseits las Frau
von Staels Schriften, die Villers ihr
empfohlen hatte, besonders die „Über
die Literatur in ihren Beziehungen zu
1) In das literarische Leben Lübecks und
in die Familie Rodde führt die historische
Erzählung aus Lübecks Vergangenheit:
„Auch ein Franzose“ von A. Evers (Verlag
Schottländer, Breslau). Im Mittelpunkte die¬
ser Erzählung steht Charles de Villers.
den sozialen Einrichtungen". Nach der
Lektüre sagte sie zu ihm: „Nachdem ich
Frau von Stael gelesen, kann ich an
einen unversöhnlichen, feindlichen Ge¬
gensatz der deutschen und der französi¬
schen Stämme nicht glauben und denke,
der Tag muß einmal kommen, da man
in Frankreich erkennen wird, daß diese
beiden Völker, statt sich abzustoßen,
dazu berufen sind, sich in wunder¬
barer Weise zu ergänzen und zu einer
Einigkeit durchzudringen, die sie in
der Völkerfamilie dastehen läßt, wie
das herrliche Brüderpaar der Diosku-
ren.“
„Frankreichs Abneigung gegen
Deutschland ist groß und tiefgewur-
zelt“, antwortete Villers; Dorothea aber
drang in ihn, der Mann zu werden, der
die schroffen Gegensätze zwischen
Frankreich und Deutschland mildere,
der die Franzosen lehre, das Gute, das
im deutschen Volke lebe, zu verstehen
und zu lieben.
Dorotheas Gatte, der Senator Rodde,
bot schließlich sein Haus Villers zu
freiem Aufenthalte an, und als auch
von Frau Prof. Schlözer aus Göttingen
ein Brief ankam, der ihn aufforderte,
in Lübeck zu bleiben: „Ich bestürme
Sie, nicht von Lübeck fortzugehen. Blei¬
ben Sie um meiner Tochter willen!
Diese betrachtet schon den Umgang mit
Ihnen als ein seltenes Glück und als
eine Förderung, wie sie noch keine
ähnliche genossen“, — da verzichtete
Villers auf seine russischen Pläne.
2 .
Es begann jetzt für ihn eine Reihe
glücklicher Jahre, von 1797 bis 1806,
während welcher er teils in Lübeck,
teils in dem nahen Eutin mit Voß oder
in Hamburg mit Klopstock u. a. sich zu
dem Manne bildete, den Deutschland
| und Europa gekannt und gerühmt ha-
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PRINCETON UNIVERSITY
139
Paul Michaelis, Charles de Villers
ben. Seine geistreiche Freundin, „mon
docteur“, wie er sie gern nannte — „le
docteur aux belles mains blanches",
hieß sie in ihrer Umgebung —, über¬
nahm liebevoll die Erleichterung sei¬
ner kleinen Lebenssorgen. Er konnte
sich ganz seiner literarischen Tätigkeit
hingeben, indem er in großer Anzahl
Beiträge zu französischen, später auch
zu deutschen Zeitschriften lieferte, die
als Vorarbeiten zu einem umfassenden
Werke über die deutsche Literatur an¬
gesehen werden können, das ihm als
Ziel seiner schriftstellerischen Tätig¬
keit vorschwebte. Er war Mitarbeiter
am „Spectateur du Nord“, einer in Ham¬
burg erscheinenden Zeitschrift, die
unter den französischen Flüchtlingen
weit verbreitet war. Für diese lieferte
er besonders Übersetzungen und Be¬
sprechungen deutscher Dichtungen, so¬
wie Beiträge zur Kenntnis der deut¬
schen Wissenschaft und Sprache. So
übersetzte er Goethes „Wanderer",
einen Abschnitt von Klopstocks „Mes¬
sias" und berichtete in einer ausführ¬
lichen Abhandlung über Goethes „Iphi¬
genie“.
In einem anderen Aufsatz: „Id6es sur
Ia destination des hommes de lettres
sortis de France, et qui s6journent en
Allemagne“, wendet er sich an die aus
ihrer Heimat vertriebenen Franzosen,
an denen er Mitarbeiter für seine Le¬
bensarbeit zu finden hofft. Ihnen weist
er die Aufgabe zu, zwischen Deutschen
und Franzosen zu vermitteln. Vor allem
aber richtete Villers seine Aufmerksam¬
keit auf die deutsche Philosophie. Er
trat für den des Atheismus angeklag-
ten Fichte ein und versuchte, die
Grundlagen der Kantischen Philosophie
seinen Landsleuten darzustellen. Diese
Abhandlung über die „Critique de la
raison pure“ schickte er an Kant und
hatte die große Freude, daß Kant sie
in deutscher Übersetzung durch Rinck
als Zeugnis ausländischer Würdigung
herausgeben ließ. 2 ) Rinck schrieb an
Villers aus Königsberg unter dem 17.
Juli 1800: „...Daß Kant Ihr Schreiben
nicht beantwortet hat, nehmen Sie doch
ja seinem Alter und seiner Schwäche
nicht übel. Er beantwortet fast keinen
Brief mehr, von so vielen trefflichen
Gelehrten er auch Zuschriften erhält,
und beinahe möchte ich sagen: er ist
nicht mehr imstande, sie zu beantwor¬
ten. Indessen schätzt er Sie sehr und
läßt sich Ihnen bestens empfehlen."
Durch diese Anerkennung ermutigt,
fuhr Villers in seiner Arbeit fort und
veröffentlichte im Jahre 1801 die
„Philosophie de Kant, ou Prindpes
fondamentaux de la Philosophie tran-
scendentale“. Diese Arbeit sollte den
Franzosen den Zugang zu der neuen
Gedankenwelt erschließen. Sie berich¬
tet über Kants Leben und Schriften,
über seine Gegner und über die Vor¬
bedingungen seiner großen Wirkung in
Deutschland; sie behandelt sodann die
Kritik der reinen Vernunft ausführlich,
und die der praktischen Vernunft in
den Hauptzügen. Die der Urteilskraft
ließ Villers unbesprochen.
Die Franzosen verhielten sich zu¬
nächst der Philosophie Kants gegenüber
ablehnend; sie sträubten sich gegen
diese ihnen nur vom Hörensagen be¬
kannte kritische Philosophie, die man
wegen ihres streng methodischen Auf¬
baues und ihrer unverständlichen Ter¬
minologie für eine Erneuerung der
Scholastik hielt. Daher konnte Rinck
auch an Villers schreiben: „GanzFeuer
2) Einige hierauf bezügliche Briefe von
Rinck an Villers sind in den „Altpreußischen
Monatsheften“ (1880. Bd. 17) unter dem Titel:
„Briefe aus dem Kantkreise“ publiziert. Rinck
besorgte den nötigen Briefwechsel für den
alternden Kant.
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141
Paul Michaelis, Charles de Villers
142
und Geist, voll Kenntnis und Vorliebe
für die Sache, sind Sie so ganz eigent¬
lich der Mann, dem philosophischen
Gözzen in Frankreich den Kopf zu zer¬
treten, und auf seinen Trümmern dem
Critizism einen dauernden Sitz zu er¬
richten.“ — Während der Arbeit zwei¬
felte Villers wohl einmal daran, ob er
sein Ziel erreichen würde. „Hätte ich
doch nur", so schreibt er an den in
Eutin lebenden Jacobi, „zehn Leser; un¬
ter diesen zehn drei, die mich ver¬
stehen, unter diesen dreien einen, der
es besser machte als ich — und ich bin
zufrieden.“ Er führte aber sein Werk
zu Ende; denn er hoffte, es würde die
Franzosen zu jenem hohen und rei¬
nen Streben emporheben, das den Men¬
schen aus den Banden der Sinnlichkeit
befreit. Doch die kriegserfüllten Zeiten
zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren
der friedlichen Vermittlerarbeit Villers’
feindlich; die geistigen Kämpfe wur¬
den in den Hintergrund gedrängt. Der
deutsch-dänische Dichter Jens Bag-
gesen machte gegen das Buch über
Kant das Epigramm:
„Denken willst du es lehren, das Volk der
Franzosen, o Villers,
Wie der erhabenste Geist aller Teutonen
gedacht?
Soll das Unmögliche glücken, Unmögliches
muß dann vorangeh'n:
Lehr’ es empfinden zuerst wie der ge¬
meinste Teuton!“
Trotzdem hatte Villers’ Arbeit den Er¬
folg, daß seit jener Zeit die deutsche
Philosophie in französischen Zeit¬
schriften vielfach besprochen wurde.
Erst eine spätere Epoche sollte die
Lehre Kants für die philosophische Ent¬
wicklung Frankreichs fruchtbar machen.
Zu Anfang des Jahres 1801 war es
Villers gelungen, von der Proskriptions¬
liste gestrichen zu werden und die Er¬
laubnis zur Rückkehr in sein Vaterland
zu erhalten. Im Sommer, kurz nach
Vollendung der „Philosophie de Kant“,
reiste er in Begleitung seiner Freundin
Dorothea Rodde und ihres Mannes nach
Paris. Auf der Reise schreibt er an
seinen Freund, Dr. Karl Schütz in
Jena: „Souhaitez-moi force et fortune
pour la grande entreprise que je vais
tenter de germaniser les Parisiens.“
Er verlebte den Sommer in Paris in
anregendem Verkehr. Auch Bonaparte
war auf ihn aufmerksam geworden und
hatte ihn aufgefordert, binnen vier
Stunden einen Auszug aus der Kanti-
schen Philosophie herzustellen; mehr
als vier Seiten dürfe aber die Abhand¬
lung nicht betragen. Nur die Grundla¬
gen und die Richtung von Kants Philo¬
sophie konnte Villers bei solcher Be¬
schränkung aufzeichnen: „Philosophie
de Kant. Apercu rapide des bases et
de la direction de cette Philosophie.“
Wiederum hebt er die Überlegenheit
der deutschen Bildung über die fran¬
zösische hervor und spricht die Über¬
zeugung aus, daß die deutsche Philo¬
sophie trotz aller Hindernisse über den
französischen Materialismus den Sieg
davontragen werde.
Dieses Schriftchen hatte ein merk¬
würdiges Schicksal. Es ist nicht im
Buchhandel erschienen, und wir hätten
keine Kenntnis davon, wenn der Philo¬
soph Vorländer es nicht in Goethes Bi¬
bliothek in Weimar gefunden hätte. Es
ist höchst wahrscheinlich, daß Villers
das Exemplar selbst an Goethe gesandt
hat, und zwar im Jahre 1803. Er wandte
sich an ihn zuerst am 10. August 1803
von Lübeck aus; in seinem Briefe sagt
er, daß „une craintive d6f6rence“ ihn
bis jetzt abgehalten habe zu schreiben,
daß er oft auf einen Augenblick der In¬
spiration gewartet habe. Er schildert
dann in seiner enthusiastischen Weise
seine Lebensaufgabe, „le noble esprit
de la sagesse et de po6sie germanique“
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143
Paul Michaelis, Charles de Villers
144
seinen Landsleuten bekannt zu machen.
Und dann heißt es: „Recevez avec
bont6 le petit 6crit ci-joint que le meme
prosölytisme, dont j’ai touch6 l’objet
ci-dessus, m’a fait publier.“ Indem Vil¬
lers eine nur als Manuskript erschie¬
nene Schrift an Goethe sandte, erwies
er ihm eine ganz besondere Ehrung.
Goethe, der Vielbeschäftigte, aber be¬
antwortete jenen ersten Brief Villers’
zunächst nicht. 3 )
In Paris fühlte sich Villers auf die
Dauer nicht wohl; er konnte unter den
neuen Verhältnissen dort nicht heimisch
werden und kehrte im Dezember 1801
aus dem „pays du charlatanisme et de
la forfanterie“ in seine Adoptivheimat
Deutschland zurück. —
In Lübeck wandte er sich jetzt einer
neuen Aufgabe zu. Das Institut natio¬
nal hatte im April 1802 eine Preisauf¬
gabe gestellt: „Quelle a 6t6 l’influence
de la Reformation de Luther sur la
Situation politique des diffferens Etats
de l’Europe et sur le progres des lu-
mieres?" Seine Arbeit, betitelt: „Essai
sur l’esprit et l’influence de la Refor¬
mation de Luther", erhielt den ersten
Preis. Auch diese Arbeit faßt er auf
„als eine Gelegenheit, einige Quellen
der deutschen Kultur darzulegen und
den Franzosen ihren Geist und ihre all¬
gemeine Tendenz bekannt zu machen“.
Im ersten Hauptteil beschäftigt er sich
mit den politischen Folgen der Refor¬
mation. Er vergleicht die Entwicklung
der Staaten, welche die Reformation
angenommen haben, mit denen, die dem
katholischen Glauben treu geblieben
sind. Als protestantische Züge im preu¬
ßischen Staatsleben erscheinen ihm:
„un esprit public tres prononcG, un pa-
3) Das Manuskript ist von Karl Vorländer,
nach dem Exemplar aus Goethes Bibliothek,
in den »Kantstudien“ (Bd. 3, Heft 1) heraus¬
gegeben worden.
triotisme fervent, beaucoup d’attache-
ment entre le prince et les sujets, un
esprit de libertö et de röpublicanisme
qui s’6tend du trone jusqu’ au peuple.“
Im 2. Hauptteile: „Sur le Progres des
Lumieres“ betrachtet Villers die umfas¬
senden Gebiete des Geisteslebens, auch
die schönen Künste. Auf der drittletz¬
ten Seite des Buches steht der denk¬
würdige Satz: „Ce que Dante et P6-
trarque furent pour la pofesie, Michel-
Ange et Raphael pour les arts du des-
sin, Bacon et Descartes pour la Philo¬
sophie, Copernic et Galilfee pourl’astro-
nomie, Colomb et Gama pour la Science
de la terre, Luther le fut pour la re-
Iigion.“
Das Buch erregte lebhaftes Interesse
in Europa; sein Erfolg war größer als
der irgendeiner anderen Schrift Villers’.
In Deutschland hielten die Vertreter der
Wissenschaft nicht mit ihrer Anerken¬
nung zurück. Nachdem die Göttinger
Akademie der Wissenschaften ihn be¬
reits nach seiner Rückkehr aus Frank¬
reich zum korrespondierenden Mit-
gliede ernannt hatte, verlieh die Uni¬
versität ihm am 27. September 1805
die Doktorwürde, wie es im Diplome
heißt, wegen der unbestechlichen Wahr¬
heitsliebe, mit der er Luthers Verdienste
dargestellt habe. Eine Lebensbeschrei¬
bung Luthers, die für seine Landsleute
bestimmt sein sollte, ist leider nicht
vollendet worden. Eine Vorarbeit dazu,
die Übersetzung der Lebensbeschrei¬
bung Luthers von Melanchthon, ver¬
öffentlichte er im Jahre 1810 im „AI-
manach des r6form6s et protestans“.
Im Herbst des Jahres 1803 trat Vil¬
lers seine zweite Pariser Reise an. Er
gedachte diesmal länger in Frankreich,
wohin ihn wieder Dorothea und ihr
Gatte begleiteten, zu verweilen. In Metz
traf er Frau von Stael, die gerade mit
Benjamin Constant auf dem Wege nach
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Paul Michaelis, Charles de Villers
146
Ihr Zusammensein
vom 26. Oktober bis
zum 8. November. In den ersten Tagen
verlief es harmonisch; denn Frau von
Stael verehrte in ihrem Landsmann
„einen der liebenswürdigsten Menschen,
die Frankreich und Deutschland in
ihrer Vereinigung hervorbringen kön¬
nen.“ Bald aber traten Mißstimmun¬
gen ein. Gewiß waren es auch Fragen
wissenschaftlicher Natur, die diese Ver¬
stimmung hervorriefen. So bedauert
Frau von Stael, daß Villers nicht für
immer nach Frankreich übersiedeln
wolle, da er so der geistigen Vertretung
Deutschlands und der Mittlerarbeit
zwischen beiden Völkern besser dienen
könne. Aber vor allem: sie war eifer¬
süchtig. Dies beweist ein Brief aus
Metz an ihren Freund Mathieu de Mont-
morency: „Hier fand ich den inter¬
essanten und geistreichen Kantschen
Villers mit einer dicken Deutschen,
Frau Rodde, zu deren geheimen An¬
ziehungskraft ich noch nicht durchge¬
drungen bin.“ — Der Briefwechsel zwi¬
schen Frau von Stael und Villers ist
uns fast vollständig erhalten, bei weitem
der interessanteste Abschnitt der aus
seinem Nachlaß veröffentlichten Brief-
sammlung. 4 ) Nach dem Tode ihres
Mannes hatte die Französin gehofft.
Villers nähertreten zu können. In ihm
glaubte sie ihr Idealbild gefunden zu
haben; einer ehelichen Verbindung mit
Constant war sie abgeneigt. Mit ihrer
feurigen Beredsamkeit versuchte sie,
Villers zu veranlassen, auf seine
Pariser Reise zu verzichten und mit
ihr nach Deutschland zurückzukehren.
Es gelang ihr nicht, und blutenden Her¬
zens trennte sie sich von ihm; er ver-
4) Briefe. Auswahl aus dem handschrift¬
lichen Nachlasse des Ch. de Villers. heraus¬
gegeben von M. Isler. (Hamburg 1879.)
Diese Sammlung enthält 22 Briefe.
hielt sich ihr gegenüber kühl und ab¬
lehnend. „Mais encore une fois, pour-
quoi me d6testez-vous? Parce que je
vous regrette? Villers, vos Berits ne res-
semblent gueres ä vos paroles“, so
schreibt sie am 28. Dezember 1803 aus
Weimar an den verehrten Freund. 5 ) —
Frau v. Stael hat nie den tiefen Ein¬
druck vergessen, den Villers auf sie
in Metz gemacht hat. Zwar wurden
ihre Briefe, die sie in späteren Jahren
an ihn richtete, nicht beantwortet; als
aber 1813 ihr Buch: „De l’Alle-
magne“ erschien, veröffentlichte Vil¬
lers eine ausführliche Besprechung in
deutscher Sprache. Sie schrieb ihm aus
London am 16. April 1814: „Ecrivez-
moi, et sachez que je n’ai jamais cessö
de vous aimer et de vous admirer. Si
je puis vous etre bonne ä quoi que ce
soit, disposez de moi coinme d'une
sceur, si j’ai l’honneur de l’etre par ma
Sympathie avec vous,“ c ) In ihrem Buche
erwähnt Frau v. Stael merkwürdiger¬
weise ihren Landsmann nur beiläufig
in einer Anmerkung zum 18. Kapitel
des 1. Buches- 7 ) —
In Paris, wo Villers sich 2 Jahre auf¬
hielt, arbeitete er an der Gründung
einer Zeitschrift großen Stils, der „Bi-
bliotheque germanique“, um die Fran¬
zosen über ihr Nachbarland Deutsch¬
land aufzuklären. „Imprimer une direc-
tion plus noble au travail des esprits,
introduire plus de spiritualit6 dans le
mode de culture adoptGparlesFrangais,
voilä ce que je me suis prescrit comme
täche et comme devoir“, das war der
Sinn des Unternehmens, für das er eine
5) Isler a. a. 0. S. 297.
6) Isler a. a. O. S. 302.
7) „On trouve toujours M. de Villers ä
la töte de toutes les opinions nobles et
g6n£reuses, et il semble appelö, par la
gräce de son esprit et la profondeur de ses
ötudes. ä reprösenter la France en Allemagne
et l'Allemagne en France.“
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148
Paul Michaelis, Charles de Villers
große Anzahl Gelehrter warb. Trotz
seiner eifrigen Bemühungen scheiterte
der Plan; er hatte jedoch die Genug¬
tuung, daß, noch während seiner An¬
wesenheit in Paris, eine Zeitschrift ge¬
gründet wurde, die sich ein ähnliches
Ziel gesteckt hatte, die „Archives lit-
t6raires de l’Europe“; an ihr arbeitete
er eifrig mit. Die Zeitschrift, die ihr
Erscheinen bereits 1807 einstellen mußte,
enthielt Übersetzungen und Bespre¬
chungen von Klopstock, Wieland, Her¬
der, Kant, Fichte, Goethe, Schiller, La-
vater.
Obwohl Villers in Paris hoch geehrt
und geachtet wurde, fühlte er sich dort
wiederum nicht wohl. Er schrieb an
Görres, daß er „parmi la foule des
castrats intellectuels“ einsam dastehe,
„plein de vie intörieure, plein d’agita-
tion et de douleur“. Daher kehrte er
nach zweijähriger Abwesenheit nach
Deutschland zurück.
3.
In den nun folgenden Kriegszeiten
hielt Villers treu zu Deutschland; ja,
es gelang ihm, infolge seiner weitver¬
zweigten Verbindungen, die sich bis in
die nächste Umgebung des Kaisers Na¬
poleon erstreckten, manchen schweren
Druck von seinem hart geprüften Adop-
tiwaterland zu nehmen. Was er da¬
mals für die Hansestadt Lübeck getan
hat, sollte ihm nie vergessen werden.
Blücher hatte, von drei französischen
Armeekorps verfolgt, am 5. November
1805 Lübeck besetzt; die Franzosen
drängten nach und machten sich bald
zu Herren der Stadt, für die eine
fürchterliche, drei Tage währende Lei¬
denszeit begann. Die französische Sol¬
dateska hauste mit einer Roheit, die
an die schlimmsten Zeiten des Drei¬
ßigjährigen Krieges erinnerte. Villers
hatte sich in das Roddesche Haus be¬
geben; er wollte seinen Freunden in der
drohenden Gefahr zur Seite stehen.
Er holte seine Uniform hervor, um als
französischer Offizier seine Landsleute
in Schach zu halten. Es gelang ihm
mit vieler Mühe, Ordnung zu schaf¬
fen und zwischen den feindlichen Ge¬
walthabern und der Stadt zu vermit¬
teln. Höher aber als die Aufopferung,
die er in jenen Tagen der Plünderung
bewies, steht der Mut, mit dem er auch
als Publizist für die Unterdrückten ein¬
trat. Unmittelbar nach den traurigen
und blutigen Ereignissen sandte er
einen langen Bericht, in der Form eines
offenen Briefes, an die Tante der Kai¬
serin, die Gräfin Fanny de Beauharnais.
In dieser „Lettre ä Madame la Com-
tesse Fanny de Beauharnais contenant
un röcit des övönemens qui se sont
passes ä Lübeck dans la journeö du
Jeudi 6 Novembre 1806, et les suivan-
tes" bittet er sie um ihre Verwendung
für die unglückliche Stadt beim Kai¬
ser und schildert ausführlich die Lü¬
becker Greueltaten. Der Brief, bald in
Tausenden von Exemplaren in Paris
verbreitet, wurde auch ins Deutsche
übersetzt. 8 )
In diesen trüben Tagen traf bei Vil¬
lers ein Schreiben Goethes ein. Auch
Weimar hatte unter den Schrecken
des Krieges zu leiden; in Goethes
Hause wollten verschiedene französi¬
sche Offiziere Quartier machen. Sie tre¬
ten in sein Zimmer und sehen auf sei¬
nem Tische einen Brief von Villers. Er
hatte an den deutschen Dichter gerade
einen Aufsatz gesandt: „Essai sur la
maniere essentiellement differente, dont
les poetes fran^ais et allemands trai-
tent l’amour“, nebst einem Begleit-
8) Villers* Brief an die Gräfin F... de
B.... Aus dem Französischen übersetzt. Am¬
sterdam, im Kunst- und Industrie-Comptoir
1807.
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Paul Michaelis, Charles de Villers
150
schreiben, das die Franzosen jetzt auf
dem Tische fanden. Villers war ihnen
nicht unbekannt, und so blieb das Haus
von einer Einquartierung verschont.
Nun endlich schrieb Goethe am 11.
November 1806, zum ersten Male,
eigenhändig an Villers: „Ihr freund¬
licher Brief, mein werthgeschätzter
Herr, lag auf meinem Tische, als die
Adjutantur der Französischen Generäle
bey mir eintrat, um Quartier zu ma¬
chen. Durch die Adresse wurde ich
diesen Männern bekannt, die sich sehr
freundlich gegen mich bezeigten und
mir in diesen bösen Tagen manches
Gute erwiesen. Ihnen also, mein wer-
thester Herr Villers, bin ich außerdem,
daß Sie mich im aesthetischen Sinne
bey Ihren Landsleuten eingeführt ha¬
ben, auch noch eine Einführung ganz
anderer Art schuldig, von der ich Sie
zu benachrichtigen, wofür ich zu dan¬
ken nicht unterlassen wollte...“ 9 )
Die so geknüpften Beziehungen setz¬
ten sich noch einige Jahre weiter fort.
Als Goethe wieder an der Farbenlehre
arbeitete, ließ er bei Villers anfragen,
ob er die Arbeit ins Französische über¬
setzen und für sie in Frankreich wirken
wolle. Die Übersetzung kam nicht zu¬
stande, so sehr Goethe es auch
wünschte; denn Villers war in den letz¬
ten Jahren seines Lebens durch Berufs¬
geschäfte stark in Anspruch genommen,
ln zwei Briefen an Reinhard, den fran¬
zösischen Staatsmann deutscher Her¬
kunft, äußerte sich Goethe über den
für Deutschland wirkenden Franzosen.
In dem einen nennt er Villers „eine
wichtige Person durch seinen Stand¬
punkt zwischen den Franzosen und
Deutschen, da er wie eine Art von
Janus bifrons herüber und hinüber
sieht“; in dem andern lehnt er seine
9) Isler, a. a. O. S. 98 f.
feurige Natur ab: „Er ist sehr brav,
scheint mir aber doch etwas leiden¬
schaftlich verworren. Es ist eine gut¬
mütige, kindliche, etwas Don Quixo-
tische Leidenschaft für das von ihm
anerkannte Bessere in der deutschen
Nation und Literatur...“
Immer schwerer wurde der Druck, der
nach der Schlacht bei Jena auf Nord¬
deutschland lastete, und immer mehr
wurde daher die Tätigkeit des stets
hilfsbereiten Villers in Anspruch ge¬
nommen. Im Jahre 1808 trat er als Ver¬
teidiger der in ihrer Existenz bedrohten
Göttinger Universität auf. Das neue
Königreich Westfalen war durch die
von Napoleon geforderten Aufwendun¬
gen für militärische Zwecke so schwer
belastet, daß die Regierung daran
dachte, von den fünf Hochschulen des
Staates drei oder vier aufzuheben, dar¬
unter Göttingen. Angesehene deutsche
Männer wandten sich an Villers und
baten ihn, etwas zu schreiben, wo¬
durch die Bedeutung der westfälischen
Hochschulen „so ins Licht gesetzt
werde, daß mit dem Gedanken von ir¬
gendeinem Abbruch eine Art Schande
verbunden scheine“. Mit Begeisterung
trat Villers für seine geliebte Georgia
Augusta ein und verfaßte den „Coup
d’ceil sur les universitös et le mode
d’instruction publique de TAllemagne
protestante, en particulier du royaume
de Westphalie“. Die Schrift fand in
Cassel vollen Beifall; gelang es auch
nicht, alle fünf Universitäten Westfa¬
lens zu erhalten, so blieben doch Göt¬
tingen und Marburg in ihrer alten Form
bestehen. Durch den Erfolg angeregt,
ließ Villers im selben Jahre noch ein
zweites Werk erscheinen, den „Coup
d’oeil sur l’ötat actuel de la littörature
ancienne et de l’histoire en Alle-
magne“, eine von kurzen kritischen Be¬
merkungen begleitete Übersicht über
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Paul Michaelis, Charles de Villers
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sämtliche in den letzten drei Jahren
in Deutschland erschienenen Werke von
wissenschaftlichem Werte. Als Dank
für sein mannhaftes Eintreten wurde
Villers am 17. Juli 1808 zum Mitglied
der Göttinger Gesellschaft der Wissen¬
schaften ernannt. —
Im Jahre 1810 brach, unter dem
Drucke der Kontinentalsperre, das Rod-
desche Handelshaus in Lübeck zusam¬
men. Villers konnte die Gastfreund¬
schaft seiner Freunde nicht länger in
Anspruch nehmen und sah sich nach
einer sicheren Lebensstellung um. Er
fand sie in Göttingen, wo er im Januar
1811 zum Professor der französischen
Literatur ernannt wurde. Seine Lehrtä¬
tigkeit begann er mit einer Vorlesung
über die wissenschaftliche Kultur der
Deutschen; später las er regelmäßig
zwei- oder dreistündig über die Ge¬
schichte der französischen Literatur.
Mit deutschen Gelehrten stand er in
lebhaftem geistigen und geselligen Ver¬
kehr. Heyne, Eichhorn, Jacob Grimm
gehörten zu seinen Freunden. Villers
war häufig in Cassel; er schätzte den
König Jerome und hatte manche
Freunde dort, besonders Jacob Grimm,
der ihn bei seiner Arbeit über die Lie-
bespoesie der Franzosen und Deutschen
unterstützte, während Villers dem
Freunde bei seinen Studien über alt¬
französische Poesie behilflich war.
Als Universitätsprofessor hat Villers
kein größeres Werk veröffentlicht; die
geplante Schrift: „Sur le döveloppe-
ment de l’esprit frangais" ist nicht zu¬
stande gekommen.
4.
Den Beginn der Freiheitskriege be¬
grüßte er freudig; über den Zusammen¬
bruch des Königreiches Westfalen emp¬
fand er keinen Schmerz. Mit Begeiste¬
rung verfolgte er die Erhebung und
den Befreiungskrieg Deutschlands, der
ihm die größte Enttäuschung seines
Lebens bringen sollte. Die nach der
Wiedereroberung Hannovers zunächst
gebildete preußische Verwaltung ent¬
fernte zwar alle Personen und Einrich¬
tungen, die mit dem früheren König¬
reich Westfalen in irgendeiner Bezie¬
hung gestanden hatten; allein Villers
erhielt die Mitteilung, daß er selbst¬
verständlich auf seinem Platze belassen
würde, nicht nur wegen seiner litera¬
rischen Verdienste um Deutschland,
sondern besonders, weil man ihn als
eine Zierde der Georgia Augusta be¬
trachtete. Nachdem aber die Universi¬
tät wieder in den Besitz des König¬
reichs Hannover gekommen war, wurde
ihm durch Ministerialschreiben vom 27.
März 1814: „An den vormaligen Kö¬
niglichen französischen Capitain von
Villers“ eröffnet, daß er seiner Stelle
entsetzt sei. Einige Tage später er¬
schien die amtliche Liste der Göttin¬
ger Universitätsprofessoren; sein Name
war darin ausgelassen. Zwar wurde
Villers eine jährliche Pension von 3000
Francs ausgesetzt; zugleich aber wurde
ihm geraten, in sein Vaterland zurück¬
zukehren.
Es ist nicht aufgeklärt worden, aus
welchem Grunde sich die hannoversche
Regierung zu diesem Schritte schnöde¬
sten Undanks entschlossen hat. Villers’
freundschaftliche Beziehungen zum Hofe
Jeromes scheinen nicht die Veranlassung
dazu gewesen zu sein; wenigstens hat die
Regierung selbst das abgeleugnet. Sie
scheint unter dem Einfluß zunftmäßiger
Professoren der Universität gehandelt
zu haben, die in dem Franzosen einen
Eindringling sahen, dessen sie sich ent¬
ledigen wollten. Immerhin bleibt es
eine Schmach für die Regierung, daß
sie einen Mann, der sich durch sein
mannhaftes Eintreten für Deutschland
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Paul Michaelis, Charles de Villers
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den Haß der französischen Gewaltha¬
ber zugezogen hatte, in so kränkender
Weise von einer deutschen Universität
ausschloß. Villers aber ließ sich nicht
so ohne weiteres von der Stelle verja¬
gen, die er ehrenvoll ausgefüllt hatte.
Gleich nach Empfang der Verfügung
machte er eine Eingabe an das Mini¬
sterium mit der Bitte, ihm die Gründe
anzugeben, die seine Absetzung veran¬
laßt hätten, damit er sich gegen seine
Ankläger verteidigen könne. Seine
Schrift zeugt von der tiefen Erregung,
in der er sich befand: „Dieses Consilium
abeundi hat mich mit zerreißendem
Schmerze durchbohrt, hat einige bittere
Tränen meinen Augen entlockt. Ich fort¬
gejagt von diesem Göttingen, das ich
mir zum letzten Asyl gewählt hatte,
das meine Schriften, meine Stimme,
meine Bemühungen so oft gegen die
Feinde der geistigen Kultur Deutsch¬
lands (de la culture intellectuelle des
Allemans) verteidigt hatten! Was soll
ich in Frankreich tun? Meine Eltern
sind tot. meine Verbindungen sind un¬
terbrochen, und die deutsche Kultur,
mit der ich getränkt bin, macht mich
dort noch fremder als 22 Jahre der
Abwesenheit. Soll ich mich dem Ge¬
lächter derer aussetzen, die dann nur
mit zu gutem Grunde meine Vorliebe
für die Deutschen, meinen Eifer sie zu
rühmen, auszischen würden? Denn
durch die ungerechte Behandlung be¬
reitet man der grausamen Ironie der
Franzosen eine süße Rache und ein
schönes Feld, sich darin zu üben.“ Die
ganze Summe seiner Lebenserfahrun¬
gen und Empfindungen faßt er in die¬
sem Briefe in die bezeichnenden Worte
zusammen: „Mon coeur est tout
allemand, et il parait qu’un Fran^ais
qui devient Allemand dans son cceur,
est ä tout prendre pr6f6rable ä un Alle¬
mand qui devient Fran^ais."
Dieses Gesuch um Angabe der
Gründe seiner Absetzung wurde ab¬
schlägig beschieden. Inzwischen hatte
sich der Freiherr vom Stein des Ge-
maßregelten angenommen; er stellte
dem König von Preußen vor, das Ver¬
fahren der hannoverschen Regierung
gegen Villers sei eine Schmach für das
deutsche Volk. Villers blieb in Göttin¬
gen, entschlossen, das Äußerste zu wa¬
gen, als er unerwartet, am 29. August,
die Nachricht erhielt, daß seine Pension
auf 4000 Francs erhöht, die Verban¬
nung aufgehoben sei, und daß er sich
an jedem hannoverschen Orte aufhal¬
ten dürfe. Aber in seine Stelle wurde
er nicht wieder eingesetzt.
Unter diesen Aufregungen der letz¬
ten Monate hatte seine Gesundheit ge¬
litten; in einem Briefe an Görres
(September 1814) spricht er von sei¬
nem zerrissenen, zerrütteten Gemüt. Er
zeigt in seinen Äußerungen jetzt oft
eine Schärfe und Bitterkeit, die ihm
früher fremd gewesen war. Einen Ruf
nach Halle als Universitätsprofessor
schlug er aus; dem Drängen von Frau
von Stael, nach Paris zu kommen, wo
er auf eine glänzende Stellung rechnen
könnte, gab er nicht nach. Trotz der
bitteren Erfahrungen wollte er in Göt¬
tingen bleiben. Mit reger Anteilnahme
verfolgte er den Gang der Kriegsereig¬
nisse, immer hoffend, daß die Zeit kom¬
men müßte, wo das Volk der Dichter
und Denker eine seiner Geistesbildung
würdige staatliche Gestaltung erringen
würde.
Zu Beginn des Jahres 1815 nahm er
seine alten Studien wieder auf; aber
schon ging es mit seinen Kräften zu
Ende; am Abend des 11. Februar wurde
er vom Schlage gerührt. Während sei¬
nes Krankenlagers langte ein Ruf von
Heidelberg an, und am 19. Februar
1815 schrieb ein Freund aus Halle:
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155
Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
1
„Wir Deutsche sind ja längst gewohnt,
Sie als unsern Landsmann zu verehren,
als einen eingebürgerten Gelehrten, der
sich in kritischen Zeiten deutscher be¬
nahm als mancher geborene Deutsche.“
Aber schon waren seine Geisteskräfte
geschwunden, und am 26. Februar 1815
machte ein neuer Schlaganfall seinem
Leben ein Ende. Seine treue Freundin
war um ihn. Am 2. März wurde er
zur Ruhe bestattet. In der Grabrede,
die ihm der Theologe Lücke hielt, heißt
es zum Schluß: „Germanien beweint
in ihm den seltenen Freund, der sich so
gern den Unsrigen nannte, der voll Ge¬
rechtigkeitsliebe das Höhere und Bes¬
sere in unserem Volke erkannte und
also festhielt, daß er verwandten Gei¬
stes bei den Fremden uns vertrat, n
Liebe für uns redend, und, ein dei
scher Mann an Geist und Herz, au
fernhin verkündete, was der Deutsc
vermag, wenn er deutsch zu sein i
Kraft hat und den ernsten Willei
Villers’ Beispiel vor allem hat Fr;
von Stael zu ihren gleichartigen fj
Strebungen ermuntert, in ihr zuerst d|
Verlangen erregt, deutsche Wisse
schaft und Kultur kennen zu lerne
Von ihm mit günstigem Vorurteil f
die Deutschen erfüllt, betrat sie di
deutschen Boden. Aus ihren Briefen i
ihn erkennt man, daß Villers die ers
und wichtigste Quelle ist, aus der s
ihre Kenntnis der deutschen Philosoph
schöpfte.
V
Eine hebräische Meistererzählung.
Von Hermann Gunkel.*)
So hat der Erzähler seine Zuhörer
jetzt da, wo er sie haben wollte, und
kann ihrer gespannten Aufmerksam¬
keit sicher sein, wenn er nunmehr, viel¬
leicht nach einer Päuse, an einer ganz
anderen und für den Zusammenhang
scheinbar gleichgültigen Stelle wie¬
der einsetzt. Es waren vier Männer als
Aussätzige iw Eingang des Tors Der
Leser weiß, welches furchtbare Schick¬
sal die Aussätzigen im alten und neuen
Morgenlande haben. Nicht sowohl die
Angst vor der Ansteckung, von der man
in ältesten Zeiten noch nichts wissen
konnte, vielmehr das unmittelbare
Grauen vor schwerer Krankheit, in der
man eine dämonische Wirkung sah,
bewirkte, daß man solche Leidende von
sich stieß. Auch können wir aus dem
Buche Hiob und den Klageliedern des
Psalters erkennen, daß sLh solche Miß-
•) Siehe Heft 1.
handlung der Allerelendsten nicht allei
auf die Aussätzigen beschränkte, wen
sich auch die Angst vor ihnen un
vor dem grausigen Anblick, den sl
darbieten, am stärksten gezeigt hi
ben wird. Kranke dieser Art, von Hau
und Hof vertrieben, sitzen etwa wi
der arme Lazarus an den Türen de
Paläste oder des Tempels 47 ) oder wi
hier am Stadttor und betteln die Voi
übergehenden um ein Almosen ai
Noch in der Mitte des 19. Jahrhundert
wohnten Aussätzige im Innern an de
Seite des Ziontors von Jerusalen
Nach unserer Geschichte hat sie nich
einmal der Krieg von ihrer Stätte vei
trieben; ein Angriff auf das Tor ha
also noch nicht stattgefunden: der Ara
mäer will die Festung durch Hange
bezwingen. Der Erzähler benutzt di
Gelegenheit, um die allgemeine Ver
47) Apostelgeschichte 3, 2.
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PRINCETON UNIVERS^j^^,
zweiflung auch an diesen Ärmsten dar¬
zustellen. Sie sprachen einer zum an¬
dern: Was wollen wir hier bleiben, bis
wir sterben? Würden wir sagen, wir
wollten in die Stadt, so ist die Hun¬
gersnot in der Stadt, und wir müßten
dort sterben! Und blieben wir hier, so
müßten wir (auch) sterben! Also der
Tod ist ihnen sicher, liier wie dort. So
lassen sie einen verzweifelten Ent¬
schluß. Kommt, wir wollen in das La¬
ger der Aramäer überlaufen! Lassen sie
uns leben, so bleiben wir am Leben; tü¬
ten sie uns, so sterberf wir. Möglich,
daß die Feinde sie als Israeliten tot¬
schlagen; möglich, daß sie sie als Aus¬
sätzige begnadigen. Schlimmer kann es
ihnen also nicht ergehen, aber vielleicht
besser. So machten sie sich in der Dum¬
merung (wo sie niemand sah) auf, ins
aramäische Lager zu gehen und ka¬
men an 'sein' eines Ende, aber — und
nun kommt die Überraschung — da
war kein Mann! Welches Staunen mag
sie erfaßt haben! Was ist denn das?
Hier sind keine Soldaten! Von der Ver¬
wunderung über dies plötzliche Ver¬
schwinden ist die ganze folgende Ge¬
schichte voll. Der Erzähler aber, der in
echt künstlerischer Bescheidenheit kei¬
nen allzu starken Effekt liebt, klärt seine
Hörer gleich an diesem Punkte dar¬
über auf, was inzwis hen geschehen war.
'Jahve' hatte das Lager der Aramäer
das Geräusch von Wagen und Rossen,
das Geräusch einer großen Heeresmacht
hören lassen; da sprachen sie unterein¬
ander: sicherlich hat der König von
Israel die Könige der Hethiter und die
Könige von Ägypten gegen uns gedingt,
wider uns zu ziehen. So machten sie
sich auf* 6 ) in der Dämmerung und
ließen* 9 ) das Lager zurück, wie es stand,
48) .und flohen“, das im folgenden noch
einmal kommt, ist wohl Zusatz.
und flohen, als gälte es ihr Leben.
In dieser äußersten Not ist Jahve
selber eingeschritten, der das Vertrauen
seines Propheten nicht beschämt und
sein Wort erfüllt: dies der Hauptge¬
danke der ganzen Erzählung. Absicht¬
lich ist dieser Zug nicht an den An¬
fang des Teiles gestellt, damit der Hö¬
rer die Verwunderung der Aussätzigen
mitempfinde. Äußerer Mittel hat Gott
sich dazu nicht bedient, sondern er hat
nur dem Ohre der Aramäer ein Geräusch
eingegeben, ein Geräusch wie von einer
großen heranrü kenden Heeresmacht,
ein Getrappel und Gerassel wie von un¬
zähligen Rossen und Wagen. Das ha¬
ben sie auf das Herannahen hethiti-
scher und ägyptischer Könige gedeu¬
tet, die jetzt Israel zu Hilfe heranziehen.
Und da ist der „Gottesschrecken“ auf
sie gefallen. Noch in der Dämmerung,
d. h. in derselben Zeit, da die Aussätzi¬
gen die Stelle betreten, haben sie sich
mit höchster Eile aufgemacht und dabei
alles stehen und liegen lassen. Von sol¬
chem wunderbaren Schrecken hören
wir im Alten Testament bei Erzäh¬
lern 50 ) und besonders bei den Prophe¬
ten 51 ) auch sonst. Auch daß die Gott¬
heit wunderbar eine falsche Kunde ein¬
gibt und den Feind so zum plötz¬
lichen Rückzuge bewegt, wiederholt
sich 52 . Vielleicht, daß die hier ge¬
brauchte Wendung, wonach die Feinde
durch das scheinbare Geräusch eines
Kriegsheeres erschreckt worden sind,
die Abblassung eines älteren, besonders
bei den Griechen oft wiederkehrenden
Motivs ist, wonach die Gottheit selbst
mit ihrem himmlischen Heere erscheint
und so einen wahnsinnigen Schrecken
Esel“ ist Auffüllung nach V. 10. Kloster¬
mann.
50) II. Könige 3. 27.
51) Vgl. besonders Arnos 2,14 ff.; Jeremia
46, 5f. u. a. 52) II. Könige 19, 7.
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■■
159 Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung 160
eingibt. Jedenfalls aber ist dieser Zug
unserer Erzählung durchaus sagenhaft.
Eben darauf führt auch die Erwähnung
der „Hethiter und Ägypter“. Diese Völ¬
ker haben allerdings einmal eine herr¬
schende Stellung in Kanaan eingenom¬
men; aber das war in einer Vorzeit, ehe
Israel im Lande Weilte, und zur Zeit, da
diese Geschichte spielt, etwa ein halbes
Jahrtausend her. Hier liegt also nicht
eine zuverlässige geschichtliche Erinne¬
rung vor, sondern eine volkstümliche
Verwechslung der Zeiten: es würde so
sein, wie wenn man den gegenwärtigen
Zusammenbruch des zarischen Rußlands
von dem Mongolensturm ableiten würde.
In Wirklichkeit aber wird der eilige
Rückzug der Aramäer durch die Kunde
von einem Einfall der Assyrer bewirkt
worden sein.
Doch nun zu den vier Männern zu¬
rück! Als nun die Aussätzigen an das
Ende des Lagers kamen, gingen sie in
eines der Zelte, aßen und tranken;
dann nahmen sie Silber, Gold und Klei¬
der daraus, gingen hin und verbargen
es. Dann kamen sie zurück, gingen in
ein anderes Zelt, nahmen daraus, • gin¬
gen fort und verbargen es. Das kleine
Stück, mit starken, dem Leben entnom¬
menen Zügen ausgemalt und einem
Auftritt im „Faust" 53 ) zu vergleichen,
stellt dar, wie sich solche Allerärmsten
bei einem großen staatlichen Um¬
schwung benehmen. Der politische Vor¬
gang als solcher geht sie sehr wenig
an. Wo die Aramäer geblieben sind,
darüber zerbrechen sie sich wahrlich
nicht den Kopf. An ihr Volk denken
sie nicht, sondern nur an sich selber.
Zuerst stürzen sie- sich auf die Vor¬
räte. denn wie lange mögen sie ge¬
darbt haben! Und da der Magen be¬
friedigt ist, meldet sich die Begehr-
53) Faust II. Teil, 4. Akt.
lichkeit: sie schaffen für die Zukunft
Kostbarkeiten, Beutestücke des aramä¬
ischen Heeres, heimlich beiseite und
vergraben sie. Nun endlich erwacht das
böse Gewissen. Sie sprachen einer zum
andern: Wir handeln nicht recht! Der
heutige Tag ist ein Tag guter Bot¬
schaft. Schweigen wir aber und war¬
ten bis zum lichten Morgen, so trifft
uns Schuld (Strafe). Gute Botschaft
rechnet man in urtümlicher Kultur dem
Überbringer wie ein persönliches Ver¬
dienst an und belohnt sie ihm reich.
Melden sie aber eine so wichtige Nach¬
richt nicht zur rechten Zeit und warten
so lange, bis es die Männer bei Tages¬
licht von der Mauer herab selber sehen
können, so können sie strenger Ahn¬
dung gewiß sein. Wohlauf, wir wol¬
len hingehen und es dem Hause des Kö¬
nigs melden.
». *
Durch diesen Entschluß der Aus¬
sätzigen aber hat der Erzähler den
Übergang zum Folgenden gefunden;
denn nun soll ein letzter Auftritt zei¬
gen, was geschah, als man im Hause
des Königs die Kunde erfuhr.
So kamen sie hin und riefen 'den
Torwächtern’ der Stadt (von draußen) zu
— in der Nacht werden sie natürlich
nicht eingelassen — und meldeten ihnen:
Wir sind in das aramäische Lager ge¬
kommen, aber da war kein Mann und
kein Geräusch von einem Menschen,
sondern nur 5i ) die Esel angebunden
und 'die’ Zelte, wie sie standen. Die
Leute melden das, was sie gesehen und
gehört haben, ohne irgend eine Vermu¬
tung über das Verbleiben des Heeres
daran zu knüpfen: also das Vorbild
genauer Berichterstattung. Die Schilde¬
rung, über der wiederum das Staunen
liegt, weicht im Wortlaut von der vor-
54) „Die Pferde angebunden“ ist Zusatz,
vgl. oben.
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161
Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
162
hergehenden ab: in solchen Fällen liebt lings auf das leere Lager stürzen wer-
der rege Geist des Hebräers die Ab- den; haben sie aber die schirmenden
wechslung, nicht, wie eine noch ältere Mauern verlassen, so werden sie auf
Kunstühung und dann wieder Homer, freiem Felde leicht gefangen werden
die Wiederholung. Im vorhergehenden können: die feindliche Übermacht, das
war berichtet worden, was die Män- steht zwischen den Zeilen, ist überwäl-
ner im Lager getrieben haben; in ihren tigend groß. Auf einen so ausgeklügel-
eigenen Worten wird das jetzt wohl- ten Gedanken verfällt der König, weil er
weislich verschwiegen. Das ganze La- den nächstliegenden nicht annehmen
ger — so melden sie — ist ohne Men- kann. Der Erzähler aber will durch diese
sehen und liegt totenstill da! Selbst die Worte darstellen, wie seltsam das ist,
Esel, d. h. die Lasttiere, stehen noch was wirklich geschehen war. Da ant-
angebunden da! Ein Späterer hat noch wortete seiner Knechte (d. h. seiner
die Pferde hinzugefügt, aber diese die- hohen Beamten) einer und sprach: So
nen zum Reiten und zum Fahren der nehme man fünf von den Rossen, die
Kriegswagen und würden sicherlich noch übrig sind : < 5 ), — man kann sie
mitgenommen worden sein. gut und gern dahingeben: es geht
Von nun an werden die Aussätzigen ihnen doch (schlimmstenfalls) nicht an-
fallen gelassen; das sind ja auch nur ders als 'dem' ganzen Haufen, der da-
Nebenpersonen und keiner weiteren Er- hin ist; die wollen wir aussenden und
wähnung würdig. Jetzt geht die über- Zusehen, wie die Sache steht 56 ). Das ist
raschende Kunde ordnungsmäßig wei- schließlich das gescheiteste, jetzt Kund-
ter. Die Torwächter 'riefen ’ und mel- schafter auszuschicken. Und so wird
deten es nach drinnen ins Haus des es beschlossen. Man nimmt (aber nicht
Königs. Es ist noch mitten in der Nacht; fünf, sondern nur) zwei 'Reiter'. So we-
aber bei so wichtiger Sache wird der nig ist von den ganzen Rossen geblie-
Herrscher selber geweckt. Der König ben, daß man mit ihnen so knausert!
stand auf in der Macht. Er erwägt, Und die Sache scheint außerordentlich
was geschehen sein mag. Daß die Ara- gefährlich: noch einmal betont der Er-
mäer nicht mehr im Lager sind, ist Zähler, daß eigentlich niemand an den
nicht zu bezweifeln. Aber daß sie end- glücklichen Ausgang geglaubt hat.
gültig abgezogen sind, und daß somit „Reiter“ sind es, nicht Wagen, weil
die ganze Not ein Ende hat, ist zu un- jene am raschesten vorwärtskommen:
wahrscheinlich, als daß man es glau- der Weg nach Osten geht von Samarien
ben könnte. So fällt ihm eine andere steil herunter. Der König sandte sie
Möglichkeit ein: Laßt euch sagen, was hinter den Aramäern her mit dem Auf-
die Aramäer mit uns Vorhaben. Sie trage: Ziehet hin und sehet zu! Und
wissen, daß wir Hunger leiden; darum nun endlich die Lösung der Spannung
haben sie das Lager verlassen, um sich für die Augenzeugen dieser Begeben-
auf dem Felde zu verstecken; denn sie heiten: sie zogen hinter ihnen drein
denken: sind sie erst aus der Stadt die ganze, lange Strecke nach Osten
heraus, so können wir sie lebendig bis an den Jordan: das ist der Weg
greifen und dann in die Stadt ein- von Samarien nach Aramäa zu, — da
dringen. Er vermutet also eine Kriegs- 55 , Text durch Varianten stark überfallt,
bst: man traut den hungernden Israeli- 56 ) B rekognoszieren“ Mose 13, 18; Josua
ten, so meint er, zu, daß sie sich blind- 2 , 1 .
Internationale Monatsschrift 6
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lag der ganze Weg voll von Kleidern
und Waffen, die die Aramcier auf ihrer
eiligen Flucht fortgeworfen hatten. Sie
sind also in sinnlosem Schrecken ent¬
wichen! Die Boten kehrten zurück und
meldeten es dem Könige. Welcher un¬
geheure Jubel, welch brausendes Froh¬
locken mag nun die Stadt erfüllt ha¬
ben! Doch dafür hat der Erzähler kein
Ohr; er hält sich mit äußerster Strenge
an sein Thema: die Hungersnot,
von der er ausgegangen war, ist nun
vorbei! Da zog das Volk aus der Stadt
heraus und plünderte das aramäische
Lager, und mit feierlich erhobener
Stimme fügt er hinzu: so reich war
die unübersehbare Beute, daß alles Geld
plötzlich den Wert verlor: da galt
' hundert ’ Maß Grieß einen Sekel und
' zweihundert' Maß Gerstenmehl einen
Sekel, wie es Jahve verheißen hatte:
das Gotteswort Elisas war erfüllt!
Aber noch einen Zusatz hatte der
Gottesmann über den Ritter des Königs
hinzugefügt, und auch der sollte Wahr¬
heit werden. Ein solches ganz kurzes
Stück pflegt auch sonst den Schluß der
ausgeführteren Geschichten zu bilden.
Der König hatte den Ritter, auf dessen
Arm er sich zu stützen pflegte, zum
Aufseher über das Tor bestellt: da
mußte er also die geschehene Wen¬
dung mit eigenen Augen schauen; aber
er sollte nichts davon genießen, denn
am Tore, aus dem sich jetzt die Menge
in wilder Gier herausstürzte, entstand
ein lebensgefährliches Gedränge: da
zertrat ihn das Volk am Tore, und er
starb, wie es der Gottesmann verheißen
hatte. Ein ähnlicher Satz als letztes
Wort steht auch in andern Elisageschich¬
ten 57 ). Hier soll uns Grauen und
Schauder anwandeln, Grauen vor dem
Propheten, der alles so genau voraus-
57) II. Könige 2, 22; 4, 17. 44.
gesehen, Schauder vor dem furchtbaren
Geschick des Ungläubigen 58 ).
♦ *
♦
Nun noch einige Worte zur Würdi¬
gung der Erzählung. Sie steht zwi¬
schen Sage und Geschichte, doch der
Sage näher als dieser. Geschichtlich ist
sicher die Belagerung und die plötz¬
liche Errettung der Hauptstadt: für bei¬
des können wir noch die Ursachen er¬
kennen. Auch die Stellung Elisas, der
zum Ausharren ermahnt, unter den
Bürgern Anhänger findet, selbst den
König eine Zeitlang bestimmt, dabei
aber freilich ein hohes Spiel um sein
Leben spielt und schließlich recht be¬
hält, wird zuverlässig geschildert sein.
Anderseits steht der Erzähler von den
Dingen schon in einer gewissen Entfer¬
nung- den Namen des Königs Israels
weiß er nicht Inehr zu nennen; auch die
anderen Personen treten sämtlich na¬
menlos auf mit Ausnahme von Benha-
dad und Elisa. Die beiden Marktpreise
sind phantastisch übertrieben; der erste
ist nicht der Wirklichkeit, sondern einer
allgemeineren Überlieferung entnom¬
men. Daher stammt auch das Zwischen¬
stück von den beiden Frauen. Die Erleb¬
nisse jener Zeit werden also dem Erzäh¬
ler aus dem Munde der Leute zugekom-
men sein und dann von ihm ihre vor¬
liegende Form erhalten haben. Daß es
sich hier nicht sowohl um Geschichte,
sondern um Sage handelt, zeigt sich
auch daran, daß der Erzähler offen¬
bar nicht als ein in das innere Ge¬
triebe der hohen Politik eingeweihter
Mann schreibt, sondern daß er die
Dinge so wiedergibt, wie sie über das
Volk dahingegangen sind, das ihre letz¬
ten Ursachen niemals erfahren hat.
58) Eine spätere Hand hat den Auftritt,
wie der Hofmann zweifelt, hier am Schluß
nochmals wiederholt: V. 17b (von ’aser
dibber an) bis 20.
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Original frcff+—
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165
Hermann Gunkel, Eine hebräische Meistererzählung
166
Darum begründet er den Rückzug des
aramäischen Heeres durch einen Got¬
tesschrecken und redet nicht von den
Assyrem, die zu seiner Zeit dem is¬
raelitischen Volke noch ferner stan¬
den, sondern von den Hethitern und
Ägyptern. Dies zeigt aber anderseits
zugleich, daß er vor dem Auftreten
der Assyrer in Kanaan, das 100 Jahre
nach diesen Begebenheiten geschehen
sollte, geschrieben hat.
Nun über die Form seiner Erzäh¬
lung. Was er selber von diesen Dingen
vernommen hat, werden einzelne zer¬
streute Züge gewesen sein. Er aber hat
aus dieser Mannigfaltigkeit eine Ein¬
heit zusammengeballt.
Die Schönheit der hebräischen Er¬
zählung besteht zu einem großen Teile
in der Straffheit ihrer Kompo¬
sition. Nun pflegen freilich die älte¬
ren israelitischen Geschichten nur ganz
wenige Personen dem Hörer vorzufüh¬
ren, zwei, drei, vier, kaum mehr. Die¬
ser Erzähler aber hat eine für seine
Zeit wahrhaft ungeheure Zahl aufge-
boten. Da ist in Samarien der König
und sein Hof, darunter der ungläubige,
spöttische Ritter, die Wächter auf dem
Tore, die Reiter auf den übrig geblie¬
benen Rossen; dazu die Ältesten der
Stadt, die sich um den Propheten scha¬
ren, vor allem dieser selber. Dann das
niedere Volk, aus dem die beiden strei¬
tenden Frauen und die vier Aussätzi¬
gen hervorgehoben werden. Der Er¬
zähler erweckt durch die Fülle der
Auftretenden den Eindruck, daß es sich
bei diesem Geschehen um das Ge¬
schick eines ganzen Volkes handelt. Im
Hintergründe der Erzählung steht als
bewegende Ursache das aramäische
Heer, an seiner Spitze der furchtbare
Benhadad. Und ganz im Dunkeln eine
geheimnisvolle Macht, die „Hethiter und
Ägypter“, von denen die Kunde denAra-
* Google
mäer zum Weichen zwingt. Alle diese
mitten im Kriege, jeder nach seiner Art
leidenschaftlich durcheinanderhandelnd.
Diesen ganzen, zunächst unübersehba¬
ren Wirrwarr hat der Künstler ge¬
lichtet durch die wunderbare Kraft sei¬
ner Komposition.
Aufs strengste hat er die Einheit
des Geschehens festgehalten; alles
einzelne, so mannigfaltig es ist, findet
seinen Mittelpunkt in der Belage¬
rung und Errettung der Haupt¬
stadt. Um diesen wunderbaren Um¬
schwung dreht sich die ganze Ge¬
schichte. Darum hat er aus dem gesam¬
ten Geschehen mit dramatischer Kraft
nur den Zeitraum eines Tages heraus¬
gegriffen: zu Anfang ist die Not auf
unerträglicher Höhe, am Ende ist die
Rettung geschehen. Kraftvoll und leben¬
dig stellt er beides an den beiden Markt¬
preisen dar, die den äußersten Gegen¬
satz gegeneinander bilden: der furcht¬
bare Teuerungspreis wird zu Beginn
angegeben, derjenige der Befreiung
wird in der Mitte geweissagt und am
Ende als eingetroffen berichtet.
Für Klarheit und Übersichtlichkeit hat
der Erzähler durch eine außerordent¬
lich strenge Anordnung gesorgt. Er
hat das Ganze in zwei Teile zerlegt, die
stark voneinander abstechen: der erste
schildert die verzweifelte Lage der
Stadt der zweite mit starkem Absatz
und mit den völlig neuen Personen der
Aussätzigen von vorne anhebend, die
unerwartete Wendung. In beiden Teilen
wird die Stimmung machtvoll heraus¬
gearbeitet: im ersten Drangsal und
Graus, wahnsinniger Hunger und er¬
bitterte Wut des Königs, die sich gar
an dem Propheten vergreifen will, im
zweiten Staunen über das rätselhafte
Verschwinden der Feinde.
Beide Teile zerfallen wieder mit
schönem Gleichmaß in je zwei Auf-
6 *
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igitized
s
tritte. Zuerst zur Veranschaulichung
der grausamen Not:
der entsetzliche Streit der beiden
Kindesmörderinnen,
der Hader des Königs mit Elisa;
dann zur Schilderung der wunderbaren
Wendung:
die vier Aussätzigen, die das Lager
leer finden,
und die nächtliche Beratung am Hofe.
Am Schluß beider Teile die kurzen
Nebenstücke vom Spott und Geschick
des Ritters.
Zum leitenden Faden hat sich der Er¬
zähler gewählt, wie es sich gebührte,
die Erlebnisse des Herrschers:
vor den König kommt der Streit der
Frauen,
dann rechtet dieser mit Elisa,
zum Schluß berät er bei Nacht mit
den Seinen.
Nur im dritten Auftritt hat er ihn fal¬
len lassen. — Aber die Hauptperson
des Ganzen ist doch nicht er, sondern
der Gottesmann. So ist es immer in die¬
sen, von Anhängern der Propheten er¬
zählten Geschichten, sooft sie von
ihrem Meister und dem irdischen Kö¬
nig zugleich zu sprechen haben. Und
diese überragende Stellung hat der Er¬
zähler dem großen Manne zu geben
gewußt, sowenig er auch von ihm
redet. Auf dem höchsten Gipfel der
Not tritt der glaubenstrotzige Mann
auf und verkündet seine wunderbare
Weissagung, und diese schwebt nun
wie ein Adler über all dem Folgenden.
Und so lautet der letzte Satz: es ge¬
schah nach dem Worte Jahves, wie es
der Gottesmann verkündet hatte.
Hinter dem Propheten aber steht
sein Gott. Auf Jahve zu harren hat
Elisa geraten. Er hat seinem Knecht
die Weissagung in den Mund gelegt.
Und er selber hat, wo kein Mensch
mehr helfen konnte, mit seiner Wunder¬
macht eingegriffen und sein Wort er¬
füllt So ist die Geschichte doch ihrer
eigenen Absicht nach eine fromme
Erzählung, wenn sie auch nicht viele
Worte davon macht. Aber die Über¬
zeugung des Verfassers ist: wer glaubt,
wird nicht zuschanden; und wenn die
Not am größten ist, ist Gottes Hilfe
am nächsten. Und zugleich: wehe dem
Ungläubigen, der über seine Weissa¬
gung höhnt! Irret euch nicht Gott läßt
sich nicht spotten! Solcher religiöser
Glaube hat aber den Verfasser nicht ver¬
hindert, das Getriebe der Welt mit schar¬
fem Auge zu beobachten, wie auch
anderseits sein Wirklichkeitssinn seine
Religion nicht in den Schatten gestellt
hat. Literaturgeschichtlich betrachtet
stellt die Erzählung also eine Verbin¬
dung von Prophetensage und volks¬
tümlicher Königssage dar, die beiden
Stoffe in vollendeter Vereinigung ver¬
schmelzend.
So saust und braust diese ganze wilde
Welt, dennoch von einem höheren, ge¬
heimen Willen gebändigt, von der Kraft
eines großen Künstlers in den engsten
Rahmen gezwängt, an dem atemlos ge¬
spannten Betrachter erschütternd vor¬
über. 5. II. 19
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Nachrichten und Mitteilungen
170
169
Nachrichten und Mitteilungen.
Ernst Robert Curtius, Die literarischen
Wegbereiter des neuen Frankreich. Gustav
Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1918. 278 S.
Geb. M. 15.
Das ist mehr als philologische Gelehr¬
samkeit, das ist ein in Liebe erlebtes, junges
und freudiges Buch, das zu Liebe und Leben
und strenger Selbstprüfung aufruft; das ist
ein Buch, matten Herzen eine Aufrichtung,
müden Seelen eine Befreiung.
Es war im Sommer 1914. Da hielt in
Bonn der damalige Privatdozent E. R. Cur¬
tius Vorlesungen über die geistigen Führer
des jungen Frankreich. Fünf Gestalten er¬
schienen ihm vor den andern als gedanken¬
schwer und formgewaltig eines Bildnisses
würdig.
Die erste war Andr6 Gide, der Dichter
der inqutttude als der rastlos weiterstreben¬
den Sehnsucht nach immer höherer Geistig¬
keit. Der zweite war Romain Rolland, der
noch während des Weltkriegs hoch über
Haß und Bitterkeit an ein europäisches
Menschentum glaubte. Ihm zur Seite trat
Paul Claudel, der eine urchristliche Mytho¬
logie und Metaphysik in dramatische Bilder
einhüllte. Daneben Andrö Suarös, der Li¬
terat, der unerbittlich gegen alle Zeitkultur
und gegen sich selber wütete. Als letzter
und menschlich größter der in der ersten
Mameschlacht gefallene Charles Pöguy, der
Bauernsohn, der nur dort Wirklichkeitsleben
anerkannte, wo ihm der - dreieinige Gott
achtbar und wirksam wurde.
Diesen allen ist das Eine gemeinsam und
hat einige von ihnen als Mitarbeiter von
P6guys .Cahiers de la Quinzaine“ zusammen¬
geführt: die Überzeugung, daß nur das
Geistige und der feste Glauben an dieses
Geistige die künftige Menschheit aus ihrer
trostlosen Zerrissenheit und Ziellosigkeit
erlösen kann; die Überzeugung, daß nicht
her Körper, sondern die Seele den Men¬
schen macht; die Überzeugung, daß nur
eine heilige Ordnung und freigewollte Bin¬
dung menschliche Gemeinschaft ermöglicht.
Vielfältige Vorzüge erheben dieses Buch,
das nun erst, nach dem Ende des Welt¬
kriegs, hervortritt, weit über die spärlichen
früher bei uns gemachten Versuche. In einer
Einleitung wird die Eigenart dieser fünf
Altersgenossen gleichmäßig gegen die Vor¬
gänger und Nachfolger herausgearbeitet auf
dem dafür einzig möglichen Wege der Ab¬
grenzung und Bestimmung nach Altersge¬
nossenschaften, wodurch allein der lebendige
Ablauf geistiger Bewegungen vor der Me¬
chanisierung und Abtötung gewahrt bleibt.
Mit wunderbarer Beweglichkeit ist der Ver¬
fasser bemüht, in seinen Bildnissen jeder
Sonderart gerecht zu werden. Dasselbe
schöpferische Sprachgefühl und den gleichen
rücksichtsvollen Geschmack betätigt er in
den sorgfältigen Übertragungen zahlreicher
Textproben, die der Darstellung einverleibt
werden. Auf jeder Seite erlebt der empfäng¬
liche und dankbare Leser, wie sehr viel
reizvoller, wie viel lohnender und wie viel
leichter im Grunde es ist, für geistige
Schöpfungen Teilnahme und Verständnis
zu wecken, die unser eigenes Dasein und
Werden ganz unmittelbar, warnend und
tadelnd, heilend und helfend, ergreifen und
uns zu sich emporziehen wollen. Ein Wort
von Pöguy abwandelnd können wir sagen:
„Es ist eine Philologie ohne Furcht. Es
ist eine Philologie, die irgendwo siegt.“
Freilich, wer als Berichterstatter gerne
tadelt, könnte dieses oder jenes auszusetzen
finden. Die vielen und langen Inhaltsan¬
gaben nehmen überwiegenden Raum ein.
Aber mit Recht sagt der Verfasser, daß er
erst einmal Tatbestände und Kenntnisse
habe mitteilen wollen; und wir haben ihm
um so mehr dafür zu danken, da unter den
gegenwärtigen Schwierigkeiten an ganz
wenigen Orten eigene Einsichtnahme der
Werke möglich sein wird. Eher könnte man
es beanstanden, daß diese Übertragungen
und Nacherzählungen da und dort stark
umfärben in die Stilart des Verfassers; aber
wenn er dem Urtext näher geblieben wäre,
hätte er die einheitliche und streng künst¬
lerische Haltung des Buches empfindlich
gestört. Oder auch könnte man wünschen,
daß die Auswahl anders getroffen und daß
statt Andrö Suarös Francis Jammes, den
ich ungern vermisse, eingereiht worden
wäre. Vielleicht hätte ein anderer überhaupt
mehr Kritik gewünscht und findet die be¬
handelten Autoren, und nicht nur Suarös,
stark überschätzt, aber der Verfasser hat
sich ja eben zur Aufgabe gemacht, die Ge¬
ringschätzung durch die französischen Lands¬
leute und die teilweise erstaunliche Un¬
kenntnis bei uns Deutschen zu bekämpfen.
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171
Nachrichten und Mitteilungen
Vielleicht bedauert ein anderer, daß diese
fünf nahezu ganz aus sich selbst gewachsen
erscheinen und nicht als Glieder einer Al¬
tersgenossenschaft, die unter sich vieles
gemein hat und auch allerlei Vorgängern
vieles verdankt: aber es bildet eben die
Schönheit und den Wert des Buchs, daß
diese fünf im innersten Kern ihres Wesens,
ihrer attitude devant la vie, gefaßt und ge¬
troffen sind, ohne daß wir allzufrüh schon
über den Umkreis dessen hinausgeführt
werden, was ihnen ihr Heiliges und Aller¬
heiligstes ist und bedeutet. Manche wie¬
derum, die sich lieber nur in entfernten
Jahrhunderten statt in der Gegenwartsfor¬
schung bewegen, entbehren hier das, was
sie geschichtlichen Abstand und wissen¬
schaftliche Sachlichkeit nennen. Als ob die
richtige Sachlichkeit erst möglich wäre,
nachdem die Vulkane erloschen und die
Feuerströme längst abgekühlt und erstarrt
sind, wenn dann der Historist mit kühlem
Kopf und langsamem Herzschlag im Edel¬
metall nach „sorgfältigster Analyse“ die
Prozente edler und unedler Bestandteile,
eigener und fremder Beimischung abzu¬
messen und abzuwägen unternimmt. Als
ob die wahre Sachlichkeit aus anderen
Kräften emporgetrieben würde als aus lie¬
bender Einfühlung in ein Lebendiges und
aus unmittelbarem Mitverstehen für dessen
Größe und Macht.
Damit soll nun freilich die Binsenwahr¬
heit nicht bestritten werden, daß es sich
erst im künftigen Ablauf französischer und
europäischer Geistesgeschichte wird erwei¬
sen müssen, ob diese Gedankengebäude
der fünf Franzosen aus der Altersgenossen¬
schaft von 1894 tragfähig sind und ob wirk¬
lich gerade diese fünf als „literarische Weg¬
bereiter des neuen Frankreich“ sich be¬
währen. Es wird sich zeigen müssen, ob
überhaupt der Literatur, ob einem welt¬
fremden Dichter wie Claudel und einem
zeitnahen Publizisten wie Suarös, solche
Wirkung beschieden sein kann. Aber durch
solche Einwendungen kann der Wert und
das Verdienst des Buches als eines ersten
ernsthaften und wohlgelungenen Versuchs
nicht im mindesten herabgedrückt werden.
Zwei Erwägungen seien hier noch an¬
gestellt, die sich in ähnlicher Richtung be¬
wegen und mehr als Anfragen denn als
Ausstellungen gemeint sind. Der Verfasser
betont zu Eingang und am Ende, daß er
die herkömmlichen in Deutschland auch
•172
bei Fachleuten verbreiteten Vorstellungen
von französischer Geistesart berichtigen
wolle. Und was er gegen solche verhäng¬
nisvoll gewordene Irrtümer sagt, ist zwei¬
fellos richtig. Aber der Nachweis bleibt noch
zu erbringen und muß einer späteren Zeit
überlassen werden, ob überhaupt und wie
weit diese neue Geistesart über die Ge¬
müter und Geister der Nachgeborenen Macht
gewonnen hat. Hier dürfte der Hinweis au!
Gaston Riou und sein Buch von der Jeune
France, das übrigens an Verschwommenheit
und Unbestimmtheit kaum zu wünschen
übrig läßt, schwerlich genügen. Tatsache
ist, daß Pöguy zeitlebens als halbverrückter
Sonderling galt und daß R. Rolland in
Deutschland und im übrigen Ausland mehr
Beachtung findet als in der Heimat. Tat¬
sache ist ferner, daß auf die nächstfolgenden
Altersgenossen von 1906 mit ihrem geistigen
Imperialismus, und mehr noch auf einen
großen Teil der Jugend aus den Jahren
vor dem Krieg, die Nationalisten Maurras
und Barrös mit anderen Führern des Roya¬
lismus und Neuklassizismus sehr viel stär¬
keren Einfluß gewonnen haben. Hier frei¬
lich ist zur Zeit, und zumal für den von
Frankreich fast ganz Abgeschnittenen, nodi
vieles ungewiß und rätselhaft.
Klarer zu sehen vermögen wir in einer
anderen, unmittelbar uns Deutsche betreffen¬
den Sache. Und hier hätte der Verfasser
vielleicht mehr geben dürfen als die kurze
Andeutung auf Seite 187, daß diese Männer
dem germanischen Geiste mehr Verständnis
entgegenbrachten als jemals das frühere
Frankreich. Das ist begründet in einer tie¬
fen, für uns Deutsche bedeutsamen Tat¬
sache. Nachdem Frankreich im 18. Jahr¬
hundert die Denker Englands bei sich
aufgenommen und auf seine Weise ver¬
arbeitet hatte, setzte es sich während des
19. Jahrhunderts auch mit unserer großen
Epoche auseinander, mit Goethe und Her¬
der, Fichte und Humboldt, Kant und Scho¬
penhauer, Schelling, Hegel, Novalis und
den andern Romantikern, zuletzt noch mit
R. Wagner und Nietzsche; um von vielen
anderen und kleineren zu schweigen. Durch
Bergson, den Führer derer von 1885 und Vor¬
gänger auch jener fünf Wegbereiter, voll¬
zog das geistige Frankreich seinen Anschluß
an unsere Heldengenerationen von der
Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Auch
wer das Allgemeinfranzösische in Bergson
und diesen andern eher zu stark als zu
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173
Nachrichten und Mitteilungen
174
gering anschlagen und ihrer persönlichen
Eigenart keineswegs zu nahe treten möchte,
dem wird und muß doch die grundsätzliche
Übereinstimmung mit jenen großen Deut¬
schen ins Auge springen. Vielleicht ist dieses
Zusammentreffen rein phänomenologisch,
und das Studium jener Deutschen in Frank¬
reich eine bloße Folgeerscheinung; viel¬
leicht aber ist es doch auch eine Wirkung
geschichtlicher Abhängigkeit, wie die Ver¬
treter älterer Denkgewohnheiten lieber an¬
nehmen werden. Hier ist uns Deutschen
eine doppelte Aufgabe geworden, in der
Wissenschaft und im Leben, die wir kaum
erst in Angriff genommen haben.
Daß der Mensch und sein Menschentum
nicht Sein ist, sondern Werden, nicht In¬
tellekt, sondern gefühlsmäßige Anschauung:
dieses und viele andere Grundüberzeugun¬
gen waren zuerst und eben damals auf deut¬
schem Geistesboden gewachsen. Wenn
Georges Sorel eine Studienreihe herausgibt
mit dem Obertitel: Etudes de devenir social,
so ist dieses Wort in dieser neuen Bedeu¬
tung eine Übersetzung unseres Werden.
Wenn Andrö Gide immer wieder von der
großen inqui&vde spricht, so scheint mir
das ein Versuch, ein unserer Sehnsucht
gleichwertiges Wort zu prägen; nachdem
dtsir, das der alte Tristandichter Thomas
von England noch als geistiges Liebessehnen
zu voloir, dem Liebestrieb, in Gegensatz
stellte, ganz in die Sphäre des Trieblebens
hinabgeglitten ist. Eines steht fest: mit dem
Gedankengut solcher Wegbereiter des jun¬
gen Frankreich kommt uns echtes deutsches
Besitztum über die Vogesen zurück. Keiner
bei uns wird das ohne freudigen Stolz, keiner
wird es ohne schmerzliche Beschämung ver¬
nehmen. Denn auch dieses steht fest: wir hat¬
ten am Vorabend des Weltkriegs mit Frank¬
reich die Rollen getauscht. Die herrschenden
und wirklich entscheidenden Kreise bei uns
hatten sich und ihr Volk einer falschen Wirk¬
lichkeit nach dem Vorbild englischer und fran¬
zösischer Vulgärphilosophie überantwortet
und waren damit von der innersten Bestim¬
mung deutscher Art treulos abgefallen. Die
künftige Geschichte Deutschlands und Frank¬
reichs wird wesentlich davon abhängen, wo
der stärkere Glaube und die stärkere Opfer¬
willigkeit an das Geistige wirksam und wirk¬
lich sein wird. Eduard Wechssler.
Banse, Ewald, Die Türkei. Eine moderne
Geographie. Mit Buchschmuck von Carlos
Tips. Mit einem farbigen Titelbild, einer
farbigen Kulturkarte und 61 Abbildungen
auf Tafeln. Braunschweig, George Wester¬
mann (1915). ln Leinwand gebunden M16
und als Auszug daraus:
Banse, Ewald, Die Länder und Völker der
Türkei. Eine kleine ästhetische Geographie,
Braunschweig, George Westermann (1916).
In Leinwand gebunden M 3.
Das stattliche Werk ist ein echt deutsches
Buch. Fast jede Seite des dicken Bandes
legt dafür Zeugnis ab, daß der Verfasser
ihn nicht aus dieser oder jener äußeren
Veranlassung niederschrieb, sondern daß
seine Arbeit als die ebenso natürliche wie
notwendige Frucht des Lebens gerade dieses
Gelehrten bezeichnet werden muß. Der
Orient ist nicht nur das Arbeitsfeld Banses,
ihm gilt auch seine warmherzige Liebe.
Von ihm hat er als Knabe geschwärmt, als
Jüngling geträumt und als Mann gekündet
und gesagt in einer Form, die uns zwingt,
ihn nicht nur als Gelehrten, sondern auch
als Künstler zu würdigen.
Was die Fähigkeit anbetrifft, eine Land¬
schaft oder einen Menschenschlag treffend
zu kennzeichnen, dürften nicht viel zeitge¬
nössische Erdkundige neben oder gar über
Banse gestellt werden. Und dennoch möch¬
ten wir einen Vorwurf nicht unterdrücken.
Banse besitzt nicht nur einen persönlichen
Stil, seine Sprache hat auch Manier, so
viel Manier, daß sie mitunter ihrer natür?
liehen Wirkung Eintrag tut. Schuld daran
ist zum Teil seine Vorliebe für Worte,
die uns anmuten, als stammten sie aus
dem Putzschrank der Großtante, und da¬
neben auch seine leider echt deutsche
Schwärmerei für Fremdwörter, die ihn bei¬
spielsweise glauben läßt, sein Lieblings¬
wort „Aspekt“ berge einen Begriffsinhalt,
für den die deutsche Sprache keine passende
Bezeichnung biete. Gerade weil wir im all¬
gemeinen die Ehrfurcht, welche dieser Ver¬
fasser seinem Stoffe entgegen bringt, dank¬
bar empfinden, fühlen wir uns an manchen
Stellen durch allzu burschikose Ausdrucks¬
weise um so mehr abgestoßen, und gerade
deshalb, weil wir seine Sprachgewalt an¬
erkennen müssen, nehmen wir ihm ein
falsches oder doch häßliches Bild — wenn
er etwa „den Block der Balkanvölker kläffend
auseinanderfallen“ läßt oder schlechterdings
wesensverschiedene Wortstämme zu schwer
erträglichen Eigenschaftswörtern zusammen¬
leimt, doppelt übel.
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175
Nachrichten und Mitteilungen
176
Vielleicht tadeln wir gerade darum etwas
ausgiebig, weil die tadelnden Worte dem
tüchtigen Kern der wackeren Leistung nichts
anzuhaben vermögen. Die politische Welt¬
lage — das Buch wie auch diese Besprechung
sind noch während des Krieges niederge¬
schrieben — hat sich mittlerweile ja von
Grund aus verändert, aber hoffentlich wird
deshalb der echte deutsche Trieb, die Fremde
kennen zu lernen und ihre Wunder zu schil¬
dern, nicht verkümmern. So dürfte denn auch
ein Buch wie diese inhaltreiche Landeskunde
noch auf Jahrzehnte hinaus ihren — durchaus
nicht nur theoretischen — Wert behalten.
Wer als Kenner türkischer Verhältnisse
immer wieder über den doch allzu rosen¬
roten Optimismus geseufzt hat, in dem un¬
gezählte Broschürenschreiber von der Zu¬
kunft Anatoliens schwärmen, weiß Banses
besonnenes Urteil desto mehr zu schätzen.
Vielen wird erst durch dies Buch so recht
klar werden, welch vielgestaltiges Land
Anatolien in Wirklichkeit ist, wenn sie
die Küstengebiete des Nordens mit „den
bärenschweren Baumfalten“ ihrer Gebirge,
die Westküste mit „ihrem Segelknarren und
ihrem Salzgeruch“, die „katzenweichen Seld-
schuckenlöwen“ der Prachtbauten Ikoniums
und die üppigen, saftstrotzenden Frucht¬
gefilde Ciliciens, des anatolischen Ägyptens,
genauer kennen lernen.
Die Aufgabe, die einzelnen Landschaften
Kleinasiens darzustellen, ist deshalb so be¬
sonders schwer, weil der Geograph einer¬
seits ihre unterscheidenden Kennzeichen
hervorheben soll und darüber doch niemals
vergessen lassen darf, daß es sich eben um
Teile eines und desselben Landes handelt,
das in den gelben Steppen des Inneren
und seinem grünen, meernahen Bergrahmen
doch auch wiederum vieles besitzt, was
ihm in seiner Gesamtheit ein bezeichnendes
Gepräge verleiht. Diese schwere Aufgabe
hat Banse unstreitig recht geschickt zu lösen
gewußt; gerade der vonKleinasien handelnde
Abschnitt muß als der wichtigste Teil seines
Buches hervorgehoben werden.
Mit besonderer Teilnahme verweilt unser
Führer bei Armenien und der armenischen
Frage und sucht nicht vergeblich nach
düsteren Worten, um der Tragik, den leider
nur allzuoft wohlverdienten Leiden des ar¬
menischen Volkes gerecht zu werden. „Über
Armenien ist ebensoviel Geschichte hin¬
weggeschritten wie über Kleinasien, aber
das Land weiß uns weniger davon zu er¬
zählen, es hat zu viel klagend erdulden
müssen, als daß es sich mit der Erinnerung
von Einzelheiten hätte beladen mögen. Und
dies ist vielleicht das Furchtbare an dem
Lande: neben dem kalten Braun seines
Aspektes, es hat eine Vergangenheit, aber
sie ist gestaltenarm, -es hat Unendliches er¬
lebt, aber es spricht rieht davon. Armenien
ist stumm, stumm wie eine tausendmal mi߬
handelte Hure.“
Die Bemerkungen Banses über den mili¬
tärischen Wert Armeniens erscheinen uns
um so beachtenswerter, weil sie bereits vor
den Kriegsereignissen niedergeschrieben
sind. Wir müssen ihm recht geben, wenn
er die Bedeutung dieses Landes sehr hoch
einschätzt. „Von seinen Pässen aus lassen
sich die angrenzenden Landschaften beein¬
flussen, und ohne den Besitz seiner Pässe
ist die Herrschaft über diese Randländer
gefährdet, solange eine starke Macht die
Höhenzugänge behauptet. Deshalb ist es
von jeher das Bestreben der Staaten Vorder¬
asiens gewesen, Armenien zu erobern. Wer
Mesopotamien und Anatolien besitzt, muß zu
seinerSicherheit Armenien haben, aber eben¬
falls kann der Gewalthaber Kaukasiens oder
Persiens nicht auf Armenien verzichten.“
Eine noch heiklere Sache als die landes-
kundlicheSchilderung der anatolischen Land¬
schaften ist die klare Kennzeichnung der
rassenmäßigen Beziehungen ihrer Bewohner,
ja, wir dürfen getrost sagen, daß wir heut¬
zutage hinsichtlich dieser Dinge über An¬
nahmen und Vermutungen schlechterdings
nicht hinauskommen. Selbstverständlich wird
ein guter Kenner des Orients seinen An¬
sichten größeres Gewicht beilegen dürfen
als ein anderer, der seine Kenntnis von
diesem Stoff der Hauptsache nach im Stu¬
dierzimmer erworben hat. Dennoch müssen
wir auch bei den Ausführungen Banses
dessen eingedenk bleiben, daß bei solchen
Untersuchungen rege Phantasie und tempe¬
ramentvolle Entschiedenheit nicht immer
der Erforschung der Wahrheit förderlich
sind. In der Hauptsache dürfen wir ihm
wohl getrost beipflichten, wenn er die un¬
geheure Lebenskraft der anatolischen Ur-
rasse, der unverwüstlichen Alarodier, her¬
vorhebt, welche alle neuen Völkerbestand¬
teile, die in Anatolien eine Heimat fanden,
sich anähnelte, so daß wir trotz aller Unter¬
schiede in Sprache und Religion, trotz
Griechentum und Galaterzügen, trotz Arme¬
niern und Seldschucken bis zu einem ge-
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177
Zeitschriftenschau
178
wissen Grade doch von einem kleinasia- Schiffer, der von der Strömung eines Flusses
tischen Menschentyp, einem Anatolier ins Röhricht eines Sees getrieben wird. Er
schlechthin, reden dürfen. blieb im Kleinkram stecken, wie jenem die
Auch bei der Besprechung Mesopotamiens Rohrhalme die Aussicht und die Fahrstraße
warnt Banse, der gerade diese Landschaft versperren. Deshalb möchten wir allen, die
durch eigene Reisen genauer kennen ge- dazu in der Lage sind, den guten Rat geben,
lernt hat, davor, die natürlichen Hilfskräfte sich beide Ausgaben zu verschaffen. Wenn
des Landes maßlos zu überschätzen. Noch sie den kürzeren Auszug gelesen haben,
viel mehr als jene Kulturpioniere, die den sind sie mit der Gliederung des größeren
jungfräulichen Boden der neuweltlichen Prä- Werkes bereits wohl vertraut und werden
rien dem Pfluge unterwarfen, werden die in den meisten Fällen gegen eine Ermüdung
Wiedererwecker Mesopotamiens dessen ein- geschützt sein, die sie vorzeitig zurückblei¬
gedenk sein müssen, daß nur der auf Er- ben lassen könnte. Denn gestehen wir es
folg hoffen darf, welcher sich den Schweiß nur aufrichtig: so sehr der Fachmann dem
nicht verdrießen läßt. Sicherlich ist Meso- Verfasserfür seine Gründlichkeit Dank wissen
potamien ein Land der Zukunft, aber trotz- muß, der Laie wird nicht immer genug
dem wird es an die Arbeitslust und Zähig- Willenskraft besitzen, um auf dem langen
keit seiner friedlichen Eroberer Anforderun- Wege bis zum Ziel auszuharren, so viel
gen stellen, von denen sich viele nichts schmucke Blumen er auch an dem Wegrain
träumen lassen, die sich seit jeher an den zu pflücken vermag.
Schilderungen seiner großen Vergangenheit Mit vollem Recht hebt die Verlagshand¬
berauscht haben. lung den Wert der farbigen Kulturkarte
Die Abschnitte, welche Syrien und Ara- hervor, die dem Buche beigegeben worden
bien behandeln, halten sich im allgemeinen ist. Sie beweist zu ihrem Teil, welch treff-
auf gleicher Höhe wie die erste Hälfte des liches Bildungsmittel die geographische Karte
Werkes, nur mußte naturgemäß der Teil selbst in solchem Falle zu bieten vermag,
über Arabien, wo die Quellen so spärlich wo der Kartenzeichner in mancher Hinsicht
fließen, etwas dürftig ausfallen. Daraus kann noch auf eine rein schematische Darstellung
man dem Verfasser selbstverständlich keinen angewiesen ist. Wer über Banses Kultur-
Vorwurf machen; im Gegenteil, wir möchten karte der Türkei ein nachdenkliches Stünd-
es ihm beinahe verargen, daß er hier, in chen vergrübeln will, kann dabei sicherlich
dem Bestreben, Stimmung zu schaffen, die mehr lernen als. aus einem halben Dutzend
Farben auch in solchen Fällen stark auf- kurzlebiger Broschüren, welche so oft den
trägt, wo eine nur ganz vorsichtig ange- Hochmut zum Vater und die Eile zur Mut¬
deutete Skizze aufrichtiger und Wissenschaft- ter hatten.
lieber wirken müßte. — Alles in allem kann man dem Verfasser
Daß sich die Verlagshandlung nach kur- für seine schöne Gabe nur aufrichtigen Dank
zer Zeit entschloß, einen Auszug aus dem wissen. Möchte bald wieder die Zeit er-
großen Werke herauszugeben, in dem dessen scheinen, da deutsche Gelehrte zwischen dem
zusammenfassende Abschnitte vereinigt sind, Pontus und dem Arabischen Meerbusen zur
hat seine guten Gründe. Dem Laien, der Ehre des deutschen Namens und zum Besten
in das ausführlichere Buch hineinlas, mochte der Menschheit wirken und forschen dürfen!
es nicht selten ergehen wie dem Kahn- Professor Fritz Braun-Dt.-Eylau.
Zeitschriftenschau.
Philosophie. sagt wurde: daß die großen Fortschritte
Eine ganz besondere Stellung im deut- fast immer außerhalb der Zeitschriften ge¬
sehen Geistesleben nehmen die „Kant- schehen, so haben sie doch einen beson-
Studien* ein. 1 ) Wenn freilich auch von deren, ja den hervorragendsten Anteil an
ihnen gilt, was im ersten Artikel von den der philosophischen Funktion der Zeit¬
philosophischen Zeitschriften überhaupt ge- Schriften als eines Ortes zu öffentlicher
1) Dieser Artikel setzt zugleich den in gegenseitiger Aussprache und Mitteilung.
Bänd XIII Heft 2 begonnenen allgemeinen ErstallmählichsinddieKant-Studienzuemem
Einleitungsartikel zu den Berichten Uber die solchen Orte geworden. Als sie Vaihinger
deutschen philosophischen Zeitschriften fort, im Jahre 1896 ins Leben rief, war ihnen
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179
Zeitschriftenschau
180
eine viel engere Aufgabe gestellt. Sie soll¬
ten ein Spezialorgan für die damals in ihrer
Hochblüte sich befindende Kantforschung
sein. Ein solches sind sie dann in der Tat
eine Reihe von Jahren hindurch gewesen,
und die Bände jener Zeit enthalten eine
Fülle vortrefflicher Einzeluntersuchungen
über die Kantische Gedankenwelt und ihre
Entstehung, die wesentlich dazu beigetra¬
gen haben, daß das historische Bild des
Königsberger Denkers heute ein klareres ist.
Eine neue Epoche der Entwicklung der
Zeitschrift datiert vom Jahre 1904. Damals
gründete Vaihinger die heute auch in wei¬
teren Kreisen bekannte „Kant-Gesell¬
schaft“. Es war nicht die erste deutsche
philosophische Gesellschaft. Aber keine der
anderen hat in der Gegenwart noch größere
Bedeutung. Sie sind alle weit überholt wor¬
den durch das rasche Wachstum der Kant¬
gesellschaft.
Im Gegensatz zu gewissen anderen Rich¬
tungen der Kantforschung der letzten Jahr¬
zehnte hat es Vaihinger seit jeher fernge¬
legen, eine Kantgemeinde mit festgelegtem
philosophischen Glaubensbekenntnis zu
schaffen. Er hat deshalb auch die Kant-
Studien wie die Kant-Gesellschaft immer
mehr ausgebaut zu Institutionen, denen der
Name Kants in letzter Hinsicht nur deshalb
zum Symbol dient, weil in diesem Namen
sich für das deutsche Bewußtsein das Stre¬
ben nach einer wahrhaft wissenschaftlichen
Philosophie ohne geistige Bindung an Au¬
toritätennamen am meisten verkörpert.
Das Wachstum der Kant-Gesellschaft und
der Kant-Studien sind unzertrennbar. Liefert
doch die Kant-Gesellschaft das materielle
Fundament für die Zeitschrift, da jedes Ge¬
sellschaftsmitglied durch seinen Jahresbei¬
trag zugleich einen Abonnenten der Zeit¬
schrift bedeutet. Ein wesentliches Verdienst
für das Steigen beider Zahlen im letzten
Jahrzehnt kommt Arthur Liebert zu. Sei¬
nem unermüdlichen Werben ist es gelungen,
die Mitgliederzahl im Laufe des Krieges
nahezu zu verdoppeln. Während alle übri«
gen Zeitschriften und Gesellschaften durch
den Krieg aufs schwerste erschüttert worden
sind, ist die Zahl der Kant-Gesellschafts-Mit-
glieder seit 1914, wo sie 800 betrug, bis
auf gegenwärtig über 1500 gestiegen, und
während die meisten übrigen Zeitschriften,
soweit sie nicht überhaupt eingingen, einer
beängstigenden Abmagerung anheimge¬
fallen sind, hat der Bandumfang der Kant¬
studien im Jahre 1918 sogar zugenommen
(550 S. statt 516 S. im vorangegangenen
Jahre), bei noch verbesserter Ausstattung.
Schon seit 1906 ergab sich indes die Not¬
wendigkeit, angesichts der Fülle der zu¬
strömenden philosophischen Arbeiten eine
besondere Erweiterung der Zeitschrift ein-
treten zu lassen. Es erscheinen seitdem Jahr
für Jahr größere Hefte als Ergänzungs¬
hefte. Bis 1917 einschl. waren es deren 40.
Auch diese Nebenhefte sind in der schwer¬
sten Zeit weitererschienen. Das Jahr 1918
brachte vier derartige Hefte.
Die Charakterisierung der Kant-Studien
wäre jedoch unvollständig, wenn nicht noch
zweier weiterer Publikationsreihen gedacht
würde, die sich ebenfalls in engster An¬
lehnung an die Zeitschrift befinden. Wie
allgemeiner bekannt, veranstaltet die Kant-
Gesellschaft seit mehreren Jahren (zunächst
in Berlin) alljährlich eine Anzahl Vorträge
mit anschließender Diskussion. Eine Aus¬
wahl derselben erscheint hinterher als be¬
sondere Beigabe zur Zeitschrift. Auch im
vergangenen Jahr kamen vier solcher Vor¬
träge heraus.
Das andere literarische Unternehmen
greift noch weiter. Im Zusammenhänge mit
der historischen Vertiefung des Studiums
der Werke Kants ergab sich die Notwen¬
digkeit einer Beschäftigung auch mit den
bedeutendsten von Kants Zeitgenossen, mit
solchen, deren Schriften auf ihn selbst tiefer
gewirkt haben, wie auch mit den ersten,
teilweise so scharfsinnigen Kritikern seiner
Philosophie. Aber diese Werke sind für
ein intimeres Studium nur schwer zugäng¬
lich, da sie aus dem Antiquariatshandel so
gut wie verschwunden sind. So entschloß
sich denn die Kant-Gesellschaft zur Veran¬
staltung von Neudrucken. Auch diesesUn-
ternehmen wuchs sich schon in den ersten
Anfängen zu dem allgemeineren Unterneh¬
men des Neudrucks seltener philosophischer
Werke überhaupt aus. Nicht weniger als
sechs, z. T. recht umfangreiche derartige
Bände erschienen in den letzten Jahren:
Aenesidemus-Schultze; O. Liebmann, Kant
und die Epigonen; Maimon, Versuch einer
neuen Logik; Tetens, Philosophische Ver¬
suche; Die Hauptschriften zum Pantheis¬
musstreit.
Es ist fast nicht glaublich, daß alle diese
Publikationen: die Kant-Studien selbst, die
Sonderhefte, die Vorträge der Kant-Gesell¬
schaft und endlich auch die so wertvol-
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I 181
Zeitschriftenschau
182
len Neudrucke vergriffener philosophischer
Werke für den Jahresabonnementspreis von
20 Mark — das ist der Mitgliedsbeitrag der
Kantgesellschaft — geliefert werden.
Einen breiten Raum nehmen in den
letzten Jahrgängen der Kant-Studien *) die
1) Kant-Studien. Band XXIII, 1918/19.
Heft 1: Herrn. Hegenwald, Johannes
Rehmkes Grundwissenschaft und die Philo¬
sophie der Gegenwart. — H. E. Timer¬
ding, Kant und Euler. — ErnstTroeltsch,
Zur Religionsphilosopie. — Siegfried
Marek. Rudolph Kjellöns Theorie des Staa¬
tes. — Ferd. Jakob Schmid und Arthur
Liebert, Adolf Lasson zum Gedächtnis.—
Besprechungen. — Mitteilungen. — Kant-
Gesellschaft.
Heft 2/3: Max Dessoir, Carl Stumpf.—
Paul Hensel, Wilhelm von Humboldt. —
Moritz Schlick, Erscheinung und Wesen.
— Paul Bommersheim, Der Begriff der
organischen Selbstregulation in Kants Kritik
der Urteilskraft.— Karl Vorländer, Goethe
und Kant. — Gustav Schneider, Erkennt¬
nistheoretischer Idealismus oder transzen¬
dentaler Realismus? — Wilhelm Reimer,
Der phänomenologische Evidenzbegriff. —
Willy Moog, Einheit und Zahl. — Fried¬
rich Lipsius, Johannes Volkelt. — Be¬
sprechungen. — Mitteilungen. — Kant-Ge¬
sellschaft.
Heft 4: Arthur Warda, Der Streit um
den .Streit der Fakultäten“. — Ernst Hor-
neffer, Der moderne Individualismus. —
Paul F. Linke, Die Minderwertigkeit der
Erfahrung. Phänomenologische Randglossen
zu Hans Cornelius’ .Transzendentaler Sy¬
stematik“. — Karl Vorländer, Eine Neu¬
begründung der Ethik auf Kantischer Grund¬
lage. — Besprechungen. — Selbstanzeigen.
Band XXIV, 1919/20. Heft 1/2: Max
Frischeisen-Köhler, Georg Simmel. —
Lucien Brulez, Delbceufs Bedeutung für
die Logik. — Clemens Thaer, Reine An¬
schauung und Idealität des Raumes. —
August Messer, Fichte und Machiavelli.
— Traugott Konstantin Oesterreich,
Karl Christian Planck. — Ernst Marcus,
Erkenntnistheoretischer Idealismus oder
transzendentaler Realismus. Eine Entgeg¬
nung. — Besprechungen. — Selbstanzeigen.
— Mitteilungen. — Kant-Gesellschaft.
Ergänzungshefte zu Band XXIII Nr. 41:
Karl Vorländer, Die ältesten Kantbio-
raphien, eine kritische Studie. — Nr. 42:
ohann Heinrich Lambert, Ober die
Methode, die Metaphysik, Theologie und
Moral richtiger zu beweisen, herausgegeben
von Karl Bopp.— Nr.43: Martin Schmidt,
Die Behandlung des erkenntnistheoretischen
Idealismus bei Eduard von Hartmann. —
Nr. 44: Aus Fichtes Leben. Briefe und Mit¬
kritischen Abhandlungen zur Philosophie
der Gegenwart ein. Nicht nur in dem ver¬
dienstlicherweise stark ausgebauten Refe¬
ratenteil (auf den oft ein ebenfalls recht
umfangreicher Anhang von Selbstanzeigen
folgt), sondern auch in dem Hauptteil des
Textes finden sich zahlreiche Aufsätze, die
kritische berichtende Auseinandersetzungen
m't literarischen Neuerscheinungen oder
Publikationen der jüngeren Vergangenheit
darstellen. In dem Jahrgange 1918/19 (Bd.
XXIII) ist von besonderem Interesse in dieser
Hinsicht eine Kritik von Troeltsch über
das bekannte 1917 erschienene Buch von
Otto .Über das Heilige“. Auch er kommt,
ähnlicherweise wie ich selbst es im Archiv
für Religionswissenschaft ausgeführt habe,
zu einer Bewunderung für die außerordent¬
lich feinfühlige psychologische Analyse reli¬
giöser Erlebnisse durch Otto, und ebenso
zu Bedenken gegen die von demselben
entwickelten erkenntnistheoretischen Ge¬
danken. Der Schwerpunkt der Kritik in
dieser Hinsicht ruht allerdings auf anderen
Punkten, als wo ich ihn selbst gelegt habe.
In demselben Heft beschäftigt sich S.
Marek mit der Staatsphilosophie der be¬
kannten Kriegsbücher Rudolf Kjellöns.
Innerhalb de r Erkenntnistheorie der Geistes¬
teilungen zu einer künftigen Sammlung von
Fichtes Briefwechsel, herausgegeben von
Hans Schulz.
Dem XXIII. Band beigegebene Vorträge
der Kant- Gesellschaft Nr.l8:AdolfLasson,
Über den Zufall (soeben in 2. Auflage er¬
scheinend). — Nr. 19: Albert Görland,
Neubegründung der Ethik aus ihrem Ver¬
hältnis zu den besonderen Gemeinschafts¬
wissenschaften. — Nr. 20: William Stern,
Grundgedanken der personalistischen Phi¬
losophie. — Nr. 21: Paul Natorp, Her¬
mann Cohens philosophische Leistung unter
dem Gesichtspunkte des Systems.
Von den Ergänzungsheften zu Band XXIV
erschien bisher Nr. 45: Erich Franz, Das
Realitätsproblem in der Erfahrungslehre
Kants. Eine kritische Studie mit besonderer
Rücksicht auf den Neukantianismus der
Gegenwart.
Bisher zu Band XXIV gelieferte Vorträge.
Nr. 22: Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist
und die Kantische Philosophie. — Nr. 23:
Ernst Troeltsch, Die Dynamik der Ge¬
schichte nach der Geschichtsphilosophie des
Positivismus. —
Die Ergänzungshefte sowohl wie die
Vorträge sind, da sie im Buchhandel selb¬
ständig erscheinen, von einer näheren Be¬
richterstattung ausgeschlossen worden.
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183
Zeitschriftenschau
184
Wissenschaften nimmt ja die Deutung der
Begriffe Staat, Sprache, Sitte usw. eine be¬
sondere Stelle ein, wenn freilich auch ge¬
sagt werden muß, daß diese Stelle noch
durchaus nicht im Hellen liegt. In seiner
letzten großen Akademieabhandlung vom
Jahre 1910 über den Aufbau der geschicht¬
lichen Welt in den Geisteswissenschaften
hat noch Dilthey diese Probleme aufge¬
worfen. Sie sind seitdem freilich noch nicht
weitergefördert worden, wenn man es
nicht bereits als Fortschritt ansehen will,
daß jetzt öfter auf diese Dinge hingewiesen
wird. Es ist unter diesen Umständen inter¬
essant, einmal an den vielgelesenen Büchern
Kjellöns näher geprüft zu sehen, welche
grundsätzlichen Anschauungen sich dieser
Schriftsteller vom Staat gebildet hat. Es
macht sich bei beiden, dem schwedischen
Autor wie dem deutschen Kritiker, das Be¬
dürfnis geltend, über den rein biologischen
Standpunkt des physischen Machtwillens
hinaus zu einer irgendwie höheren Auffas¬
sung vom Staat zu kommen, so daß dann
am Schluß das Problem der Staatsethik
sich stark aufdrängt.
In Heft 4 findet man eine Polemik Paul
F. Linke gegen Cornelius. Der letztere
hat in seinem Buch „Transzendentale Sy¬
stematik“ die Behauptung aufgestellt, daß
Kants Ansicht, daß die empirischen Fest¬
stellungen nur bedingte Gültigkeit haben,
irrig sei und daß die experimentellen Er¬
gebnisse eines Chemikers, wenn er nur
exakt arbeite, unbedingt richtig seien. Es
ist überraschend, daß eine solche Ansicht
mitten im Zeitalter der Erkenntnistheorie
erneuert werden konnte. Linke zeigt, wie
unhaltbar diese Auffassung eigentlich ist
und wie ein völliger Unterschied zwi¬
schen den apriorischen und den empiri¬
schen Sätzen besteht. Gewiß ist in dieser
Kritik nichts Neues für den enthalten, der
durch die moderne Logik Husserls hin¬
durchgegangen ist. Aber in ihrer klaren
Kürze wird die kleine Abhandlung für jeden
noch in empirischen Vorurteilen Befangenen
über die Grenzen der Erfahrung (die selbst¬
verständlich durch nichts anderes zu ersetzen
ist, wo es sich um die Erkenntnis der kon¬
kreten Wirklichkeit in ihren Einzelheiten
handelt) recht aufklärend wirken können.
Von anderen allgemeiner interessieren¬
den Artikeln sind einige biographischen
Charakters. Wir haben in den letzten Jahren
eine ganze Reihe von Erinnerungstagen,
Todesfällen und Jubiläumstagen bedeuten-
| der Denker erlebt. Ins Jahr 1917 fiel der
hundertjährige Geburtstag Lotzes. Er war
der bedeutendste Denker aus der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Nach
glänzendem Weltruhm zu seiner eigenen
Zeit war er nach seinem Tode durch etwa
zwei Jahrzehnte fast in Vergessenheit ge¬
raten. Es ist ihm ergangen, wie es bisher bei
uns noch jedem ergangen ist, der mit Leib-
niz’ Gedankenkreise verwandt ist, ja, wie
es diesem selbst ergangen ist: sie wurden
unwirksam. Seitdem jedoch Husserls Phä¬
nomenologie zur Geltung gelangte, ist auch
Lotzes Ansehen wieder gestiegen. Ja eigent¬
lich wissen wir erst heute, wie bedeutend
er war. Seinerzeit fehlte noch das Verständ¬
nis dafür. Aus diesem Grund war es von
besonderem Interesse, daß der Gedenk¬
artikel der Kant-Studien von Stumpf ge¬
schrieben worden ist, der seinerzeit sich in
Göttingen unter Lotze habilitierte und ihm
persönlich nähergetreten ist.
In demselben 22. Bande steht auch ein
Nachruf auf den anderen bedeutenden Den¬
ker vom Ausgang des neunzehnten Jahr¬
hunderts: Franz Brentano, von seinem
früheren Sekretär Utitz. Die Wirkung Bren¬
tanos war eine noch unvergleichlich größere
als die Lotzes. Eine Reihe der bedeutend¬
sten Forscher der Gegenwart sind aus sei¬
ner Schule, so Stumpf, Husserl, Mei-
nong. Sie und die übrigen sind alle aus¬
gezeichnet durch bohrenden Scharfsinn.
Fast möchte man meinen, daß auch der
Scharfsinn eine durch die erzieherische Wir¬
kung eines bedeutenden Vorbildes über¬
tragbare Eigenschaft ist, wenn man die
Fülle der Brentanoschüler überblickt und
immer wieder auf diese Eigenschaft stößt
Noch weniger als Lotzes sind die Leistungen
Brentanos allgemein bekannt. Es gehörte
zu seinen persönlichen Eigenschaften, daß
er zwar aufs stärkste nach Wirkung als
Dozent verlangte, aber in einer Art von
Überakribie sich nur sehr sdiwer zu einer
Veröffentlichung entschließen konnte, so
daß noch heute umfangreiche, ja wohl die
meisten Manuskripte ungedruckt sind und
wir vieles von seinen Anschauungen nur
aus den Schriften seiner Schüler erahnen
können, ohne es doch von deren eigenen
Ansichten reinlich sondern zu können.
In den Jahrgang 1918 fielen drei Jubi¬
läumstage. Rehmke, Stumpf und Vol¬
kelt feierten den 70. Geburtstag. Von jedem
findet man ein Bildnis nebst einem sie cha¬
rakterisierenden Artikel. Daneben steht ein
Dia
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PRINCETON UNIVERSIT
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Zeitschriftenschau
186
Todesfall: der Lassons (f 1917). Jeder,
der um die Wende des neunzehnten Jahr¬
hunderts in Berlin Kollegs gehört hat, hat
von seiner persönlichen Art Kenntnis er¬
halten. Von dem, was er geistig war, haben
nicht allzuviele einen Begriff gehabt. Den
meisten galt er nur als eine komische Figur.
Und doch, wer auch nur gelegentlich un¬
freiwillig Unter den Linden Fragmente aus
einem seiner lebhaften Gespräche auffing,
gewann den Eindruck, daß hier eine starke
geistige Individualität vorlag. Aus den zwei
Gedächtnisreden von Ferd. Jacob Schmid
und A Liebert kann jetzt jeder ein Bild
gewinnen von diesem letzten Überlebenden
des Hegelschen Zeitalters mitten in einer
ganz anders gerichteten Zeit.
Das Jahr 1918 brachte einen neuen höchst
schmerzlichen Verlust, den Tod Simmels.
DieihmgewidmeteGedächtnisarbeit Frisch¬
eisen-Köhlers ist der erste Versuch einer
Monographie in deutscher Sprache’) über
den Toten, der erst ein paar Jahre vor sei¬
nem Tode die offizielle Anerkennung seiner
Bedeutung durch eine Berufung in ein Or¬
dinariat erhielt, die, wie man sagt, auch
nur dadurch möglich wurde, daß die orien¬
tierten Straßburger Kollegen über seine
Konfessionslosigkeit peinlich schwiegen.
Der Artikel enthält zunächst eine ausge¬
zeichnete Darstellung von dem Gesamt¬
charakter der Simmelschen Werke, ihrer
eigentümlichen, höchst persönlichen und
zugleich jede positive Stellungnahme zu
den Problemen vermeidenden Denkweise.
Im zweiten Teil seiner Arbeit gibt Frisch¬
eisen-Köhler dann den Versuch einer Ent¬
wicklungsgeschichte des Denkers. Seit dem
Jahre 1900 etwa wurde durch Privatäuße¬
rungen, die Simmel getan hatte, bekannt,
daß er in einen neuen Abschnitt seines
Denkens eingetreten sei. Auch ihn, der in
seinen ersten Schriften noch als Sohn des
positivistischen Zeitalters erscheint, hatte
die neue Woge des geistigen Aufstiegs,
der durch die Welt ging, mitergriffen und
zu neuen Höhen emporzuheben begonnen.
Zunächst näherte er sich der südwestdeut¬
schen Kantschule Windelbands undRickerts,
ohne doch in sie aufzugehen, um dann zu¬
letzt noch eine neue Wendung auf die Meta¬
physik hin zu machen. Die Verwandtschaft
dieser letzten Epoche mit dem Monismus
2) Von französischer Seite liegt bereits
eine größere Arbeit über Simmel vor:
A. Mamelet, Le relativisme philosophique
cfaez Georg Simmel, Paris 1914.
des deutschen Idealismus wird fein aufge¬
deckt. Zu einem Abschluß ist Simmel frei¬
lich nicht gekommen, und man darf wohl
auch zweifeln, ob er je zu einem solchen
gekommen wäre. Seine ganze geistige Kon¬
stitution war nicht derart, daß es ihn mit
nicht nachlassender Gewalt zu einem festen
Standpunkt hindrängte.
Im gleichen Heft befindet sich auch noch
ein Gedächtnisartikel von mir über den
heute viel genannten schwäbischen Philo¬
sophen Planck aus der Mitte des neun¬
zehnten Jahrhunderts. Zu seiner Zeit so gut
wie unbeachtet, so daß er unter der Schwere
dieses Schicksals schließlich innerlich zu¬
sammenbrach, ist jetzt seine Sozialphilo¬
sophie zu einer späten Wirkung gelangt.
In seiner schwäbischen Heimat hat er übri¬
gens seit jeher eine kleine, zäh zu ihm
haltende Gemeinde besessen. Der Artikel
gibt ein Gesamtbild seiner geistigen Lebens¬
arbeit, von der die Sozialphilosophie nur
ein Teil (der wertvollste) ist. Er war ein
Systemphilosoph in umfassendem Sinne.
Von den historischen Arbeiten hat ein
kleiner Aufsatz Messers über das Verhält¬
nis Fichtes zu Machiavelli Anspruch auf
Interesse. Fichte hat bekanntlich eine jetzt
in Reclams Universalbibliothek erschienene
kleine Schrift über den Florentiner Staats¬
philosophen geschrieben, die bisher als ein
Bekenntnis zu dessen politischen Ideen auf¬
gefaßt worden ist. Messer versucht dem¬
gegenüber den Nachweis, daß die Schrift
im Gesamtzusammenhang der Fichteschen
Philosophie eine andere Bedeutung habe,
und Fichte die Idee des ewigen Friedens
nicht völlig preisgebe. Immerhin bleibt doch
die Tatsache bestehen, daß die Schrift ge¬
rade bestimmt war, auf die zeitgenössische
Politik zu wirken.
Ein, wenigstens früher, für einen weit
engeren Interessentenkreis als die Kant-
Studien bestimmtes Organ ist das Archiv
für Philosophie. 11 ) Es ist wesentlich älter
3) Archiv für Philosophie, heraus¬
gegeben von Ludwig Stein. I. Abteilung.
Archiv für Geschichte der Philoso¬
phie. XXXII. Bd., Heft I (N. F. XXV. Bd.
Heft I), Berlin 1918. Paul Sickel, Leibniz
und Goethe. — Wilhelm M. Frankl, Arthur
Schopenhauers Philosophie. — Johannes
Dräseke, Zu Descartes’ „Cogito, ergo sum“.
— Rezensionen. — Heft II (1919) Gustav
Schneider, Ed. v. Hartmann als Staats¬
philosoph und Politiker. — Peter Knudsen,
Ist Bergson ein Plagiator Schopenhauers? —
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PRINCETON UNIVERSITY
187
Zeitschriftenschau
188
f
und entstammt dem Zeitalter des Histori¬
zismus. Seine erste als Archiv für Ge¬
schichte der Philosophie bezeidinete
Abteilung war das klassische Organ der
Studien auf dem Gebiete der Geschichte
der Philosophie zur Zeit Zellers und Dil-
theys. Eine Reihe der bedeutendsten ge¬
schichtlichen Arbeiten Diltheys sind in dem¬
selben erschienen, so die Abhandlungen:
Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahr¬
hundert; Das natürliche System der Geistes¬
wissenschaften im 17. Jahrhundert; Der ent-
wicklungeschichtliche Pantheismus. Audi
Zeller wie die übrigen großen Historiker
der Zeit pflegten ihre Einzeluntersuchungen
daselbst zu publizieren. Einige Jahre nach
der Begründung des Archivs für Geschichte
der Philosophie wurden auch die damaligen
Philosophischen Monatshefte damit ver¬
schmolzen. Sie bilden unter dem Namen
Archiv für systematische Philoso¬
phie jetzt die II. Abteilung des (Gesamt-)
Archivs für Philosophie. Seit mehreren Jah¬
ren erscheinen als Ergänzungshefte größere
Arbeiten in Sonderheften unter dem Titel
„Bibliothek für Philosophie“, wie denn
überhaupt die Absicht obzuwalten scheint,
den Interessentenkreis der Zeitschrift größer
zu gestalten.
Im Archiv für Geschichte der Phi¬
losophie hat in Heft II Anspruch auf all¬
gemeineres Interesse ein Aufsatz von Prof.
Peter Knudsen: „Ist Bergson ein Plagia¬
tor Schopenhauers?“
In den letzten Jahren vor dem Kriege
war wie in der ganzen Welt, so auch bei
uns das Interesse an der Philosophie Berg-
sons ein sehr großes geworden. Kein an¬
derer als Windelband hat ihm das litera¬
rische Geleit in die deutsche Leserwelt ge¬
geben. Alle Hauptwerke Bergson waren
zuletzt in Übersetzungen erschienen. Kaum
war der Krieg ausgebrochen, so veränderte
sich das Bild. Die Bewunderung seiner
geistigen Leistung schlug ins Gegenteil
Walther Rauschenberger, Heraklit und
die Eleaten.— Rezensionen. — Zeitschriften¬
schau. Die neuesten Erscheinungen auf dem
Gebiet der Geschichte der Philosophie.
II. Abteilung. Archiv für systemati¬
sche Philosophie (Neue Folge der Phi¬
losophischen Monatshefte), XXIV. Bd. Heft I
(1918). — Adamkiewicz, die Eigenkräfte
der Stoffe, das Gesetz von der „Erhaltung
der Materie“ und die Wunder im Weltall. —
C. A. Emge, Empirismus und Rechtsphilo¬
sophie. — Ferdinand Maack, Astrosophie
(Philosophieder Astronomie).—Rezensionen.
um. Man ging gleich aufs Ganze. Das
Genie mußte zum Diebe werden. Wie
am Ende des Krieges Wilsons Ideen der
Philosophie des deutschen Idealismus ent¬
lehnt sein sollten, so hatte auch Bergson
seine Gedanken angeblich von dorther be¬
zogen. Unter den Abhandlungen, in denen
ein Nachweis dafür versucht worden ist,
ist die wirkungsvollste die Broschüre eines
Herrn Böhnke gewesen: „Plagiator Berg¬
son“. Dieselbe ist auf den ersten Blick be¬
strickend. An einer großen Zahl von Bei¬
spielen wird zu zeigen versucht, daß die
Abhängigkeit Bergsons von Schopenhauer
eine so große ist, daß ihm der Charakter
der Originalität abzuerkennen sei. Merk¬
würdigerweise erklärt Herr Böhnke die
Veröffentlichung seines Angriffs mit dem
Kriegszustände. „In Friedenszeiten hätten
wir vielleicht, dem kosmopolitischen Zuge
unseres Herzens folgend, eine derartige An¬
griffsweise verurteilen zu müssen geglaubt.“
Seltsam. Also in Friedenszeiten gebietet
der Kosmopolitismus, zu geistigem Dieb¬
stahl zu schweigen, wenn das Vergehen
einem berühmten Ausländer zur Last fällt?
Knudsen unterwirft nun eine größere
Zahl der von Böhnke vorgelegten angeb¬
lichen Parallelstellen aus Schopenhauer und
Bergson einer genaueren Analyse auf ihren
Gedankengehalt, und er kommt durchweg
zu dem Ergebnis, daß von einem Plagiat
nicht die Rede sein könne. Die Gedanken
der beiden Philosophen befinden sich durch¬
aus nicht in so engem Einklang mitein¬
ander, wie es nach Böhnkes Darstellung
scheint. Die scheinbare Übereinstimmung
ist überall nur das Ergebnis einer ober¬
flächlichen Betrachtungsweise. Besonders
interessant ist eine längere Gegenüberstel¬
lung von Kierkegaard und Ibsen (Brand),
zwischen denen ebenfalls gewisse auffal¬
lende Übereinstimmungen bestehen, ohne
daß irgendeine Abhängigkeit nachzuweisen
wäre. Ebenso deckt Knudsen eine selt¬
same zufällige Übereinstimmung zwischen
Kierkegaard und Schopenhauer auf.
Im Archiv für systematische Phi¬
losophie berichtet F. Maack unter dem
Titel „Astrosophie“ über einige außerhalb
der offiziellen Astronomie stehende Schrif¬
ten, die sich mit der Struktur des Weltalls
beschäftigen. — Da ist zunächst ein schon
vor langen Jahren auf psychologischem Ge¬
biet hervorgetretener Autor namens Ch.
Ruths, der sich mit den astronomischen
Konstanten beschäftigt und eigenartige ein-
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PRINCETON UNIVERSITY"
Dig
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189
Zeitschriftenschau
190
fache Zahlenverhältnisse zwischen ihnen |
feststellt (Neue Relationen im Sonnensystem
und Universum, Darmstadt 1915). — Seit
langem bekannt ist die sogenannte Titius-
scjje Reihe der Abstände der Planeten von
der Sonne (a = 3 • 2° -(- 4). Diesen merkwür¬
digen (allerdings nicht genauen) Zahlen¬
verhältnissen, für die bisher eine kosmoge-
netische Erklärung fehlt, fügt Ruths eine
größere Zahl anderer hinzu, von denen
Maack einige frappierende Beispiele mitteilt.
Er glaubt aus ihnen auf die Existenz einer
organisierenden Weltseele schließen zu kön¬
nen. Auf jeden Fall sind seine Feststellun¬
gen, die natürlich nur durch Divination zu
linden waren, höchst interessant.
Zwei andere Autoren, über die Maack
berichtet, kehren zum geozentrischen Stand¬
punkt zurück. Der eine ist Joh. Schlaf,
dessen Theorie bereits durch die Tages¬
presse bekannt geworden ist; der andere
ist Ernst Barthel. Für ihn ist der Welt¬
raum ein sog. hyperbolischer Raum, der
durch die Erdoberfläche halbiert werde, so
daß alle Gestirne auf der einen Seite stehen.
Der Durchmesser des Weltraums soll 40000
km betragen. Stellung zu diesen Theorien,
über die näher berichtet wird, wird von
Maack nicht genommen.
Der Umstand allein, daß eine ernsthafte
philosophische Fachzeitschrift über derartige
Auffassungen berichtet, kann als bemer¬
kenswertes Symptom dafür angesehen wer¬
den, in wie starker Weise durch die tief¬
greifenden naturwissenschaftlichen Entdek-
kungen der beiden letjten Jahrzehnte das
allgemeine wissenschaftliche Sicherheitsbe¬
wußtsein in bezug auf die Grundfakta un¬
serer Weltansicht erschüttert ist.
Wir kommen zum Philosophischen
Jahrbuch d er Goerres-Gesellschaft. 4 ) Audi
4) Philosophisches Jahrbuch. 31.
Band. 4. Heft: R. Guardini, Zum Begriff
der Ehre Gottes. — E. Rolfes, Noch ein¬
mal: Was ist der wirkende Verstand bei
Aristoteles? — Max Kreutle, Die Unsterb¬
lichkeitslehre in der Scholastik von Alkuin
bis Thomas von Aquin. — B. Jansen, Ein
neuzeitlicher Anwalt der menschlichen Frei¬
heit aus dem dreizehnten Jahrhundert: Pe¬
trus Joh. Olivi. — Rezensionen und Refe¬
rate. — Zeitschriftenschau. — Miszellen und
Nachrichten. — Philosophischer Sprechsaal.
32. Band. 1. Heft: v. Hildebrand, Zum
Wesen der Strafe. — J. Lindworsky,
Zur Psychologie der Begriffe. — J. We¬
ser, Die naturphilosophischen Begriffe Wil¬
helms von Auvergne. — M. Meier, Locke
unter den kritisch-referierenden Auseinan¬
dersetzungen dieser Zeitschrift beschäftigen
sich zwei Autoren mit Ottos Buch »Das
Heilige“: Wunderle und Lindworsky.
Auch Wunderles Kritik richtet sich gegen
alles das, was in Ottos Buch mehr ist als
psychologische Analyse, und betont die
Wichtigkeit der »rationalen“ Momente auch
innerhalb der Religiosität. Lindworsky un¬
terwirft demgegenüber Ottos Versuch, die
religiösen Gefühle als spezifische zu erwei¬
sen, einer ziemlich scharfen Kritik und be¬
schäftigt sich näher mit Ottos Gegenüber¬
stellung des .Rationalen“ und »Irrationa¬
len“ im Gottesglauben. Im Anschluß an
neuere, z. T. eigene denkpsychologische Un¬
tersuchungen entwickelt er dabei eine Lehre
von der Begriffsbildung. Ich gestehe, daß
ich mich des Eindrucks nicht enthalten kann,
daß er die Bedeutung des Experiments für
diese Fragen überschätzt. Es war nötig, um
innerhalb des erheblichen Teiles der Ex¬
perimentalpsychologie, der von naturalisti¬
schen und materialistischen Vorurteilen bis
zum Übermaß gesättigt war, dieselben we¬
nigstens bei einigen höherstehenden For¬
schern zu erschüttern. Aber was sind alle
experimentellen Untersuchungen des Den¬
kens gegenüber den ohne Heranziehung
fremder Versuchspersonen durchgeführten
deskriptiven Denkanalysen, die aus der
Schule Brentanos hervorgegangen sind!
Sie erscheinen ihnen gegenüber vielfach
als massiv und grob. Zudem sind sie sämt¬
lich durch sie bedingt. 1900 erschienen
Husserls Logische Untersuchungen. Erst
mehrere Jahre später setzten die Denkex¬
perimente ein und nun fand man im Ex-
und die Lehre von den eingeborenen Ideen.
— Th. Virnich, Geltung kausaler Denk¬
weise. — Rezensionen und Referate. — Zeit¬
schriftenschau. — Miszellen und Nachrich¬
ten. — Nekrolog (Hertling).
2. Heft: G. Gut beriet, Glauben und
Wissen. — G. Wunderle, Über das Irra¬
tionale im religiösen Erleben. — R. Stölzle,
Der Streit um das tierpsychologische Pro¬
blem. — Rezensionen und Referate. — Zeit¬
schriftenschau.—Miszellen und Nachrichten.
3. Heft: L. Lommel, Zum Erweis des
psychologischen Substantialismus. — F.
Minges, Robert Grosseteste, Übersetzerder
Ethica Nicomachea. — N. Brühl, Noch¬
mals die spezifischen Sinnesenergien. —
F. Spielmann, Kritische Betrachtungen
zur Relativitätstheorie. — Rezensionen und
Referate. — Zeitschriftenschau. — Miszel-
ten und Nachrichten.
om**»Go o gle
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PRINCETON UNIVERSITY
191
Zeitschriftenschau
>2
periment wieder, was den Versuchsperso¬
nen — aus der Lektüre jenes Buches in
Erinnerung war oder worauf sie auf Grund
der durch dieses Buch gewonnenen Ein¬
sichten aufmerksam wurden. Alles Schwei¬
gen über Husserl seitens einer Reihe von
Forschern kann diesen Tatbestand nicht
erschüttern. Damit soll natürlich nicht ge¬
leugnet werden, daß die Denkexperimente
im weiteren Verlauf wertvolle Ergebnisse
gehabt haben, gerade Lindworsky hat dar¬
an gewichtigen Anteil. Aber der Über¬
schätzung des Experiments für die Analyse
des Denkens ist entgegenzutreten, denn
das Entscheidende und wahrhaft Wichtige
war daohne schon zuvor geleistet. Nur weit
über dem Durchschnitt analytisch befähigte
Psychologen können hier Förderung bringen,
nicht durchschnittliche Versuchspersonen.
Eine Art Zusammenfassung der völlig
verändertenStellungnahme wenigstens eines
Teiles der modernen Psychologie gegen¬
über dem Ichproblem gibt Lommel. Wäh¬
rend man am Ausgang des vergangenen
Jahrhunderts das Psychische in eine Summe
von Prozessen auflösen wollte und die
Einheit des Bewußtseins als nachträglich
aus ihnen sich bildend ansah (Aktualismus),
haben sich inzwischen wieder viele davon
überzeugt, daß das nicht angängig ist, son¬
dern daß Lotze auf richtigeren Bahnen
wandelte. Wie denn überhaupt die sog.
naturwissenschaftliche Psychologie für Jahr¬
zehnte ein außerordentliches Sinken des
wissenschaftlichen Niveaus in allen grund¬
sätzlichen Fragen der Psychologie herauf¬
geführt hat. Es muß zugegeben werden,
daß die Neuscholastik, die an gewissen,
schon im Mittelalter erworbenen besseren
Einsichten dauernd (wenn vielleicht auch
teilweise aus außerwissenschaftlichen Mo¬
tiven) festgehalten hat, darin wesentlich
höher gestanden hat. Aus dieser Schule
kommt wohl auch der Verfasser. Er gibt in
seiner Arbeit eine klare Zusammenstellung
einer Reihe der Hauptargumente, auf Grund
deren man sich jetzt wieder allgemeiner
der Ansicht zugewandt hat, daß alle psy¬
chischen Erlebnisse Akzidenzen an einem
Ich sind. Von den neueren Autoren werden
allerdings nur Th. Lipps und der katho¬
lische Autor Geyser genannt, so daß der
nicht fachmäßig orientierte Leser keine Vor¬
stellung davon erhält, in welchem Umfang
der seelische Substanzbegriff im engeren
psychologischen Sinne heute anerkannt ist,
eine Stellungsänderung, an deren Durch¬
setzung wohl meine „Phänomenologie des
Ich“ (1910) wesentlichen Anteil hat. Auch
Husserl, der 1900 noch das Ich in diesem
Sinne bestritt, hat in seiner letzten Arbeit
erklärt, er habe es jetzt sehen gelernt.
F. Spielmann kommt in seinen Be¬
trachtungen über die Relativitätstheorie zu
dem Ergebnis, daß dieselbe zwar als ein
wertvolles Hilfsmittel innerhalb der mathe¬
matischen Physik anzusehen sei, daß all¬
gemeine Erkenntnisse über Raum und Zeit
aber nur von der philosophischen Forschung
erreicht werden können, die bei der Physik
zwar wertvolle Unterstützung finden kann,
aber ihr gegenüber die eigene Selbständig¬
keit wahren muß. In der Tat muß der Laie
davor gewarnt werden, gewissen allgemei¬
nen Schlagworten, die aus der Relativi¬
tätstheorie geboren worden sind, blindlings
zu vertrauen. Mit vollem Recht weist Spiel¬
mann darauf hin, daß der Zeitbegriff nicht
nur innerhalb der Körperwelt eine Rolle
spielt, sondern auch für das nichträumliche,
rein psychische Erleben gilt. Es ist das der
erste Hinweis dieser Art, der mir in der
Literatur begegnet und den ich bisher noch
stets darin vermißt habe.
Erwähnt sei noch, daß der Krieg auch
in den Kreis der philosophischen Zeit¬
schriften Lücken gerissen hat. Die Viertel¬
jahrschrift für wissenschaftliche Philosophie
und Soziologie, die Zeitschrift für Philoso¬
phie und philosophische Kritik, sowie die
ein Jahr vor dem Kriege begründete Zeit¬
schrift für positivistische Philosophie haben
aufgehört zu erscheinen. Es ist mir nicht
bekannt, ob eine Wiederherausgabe bei
Eintritt normalerer Verhältnisse beabsich¬
tigt wird.
Um so bemerkenswerter und für den
Hochstand des philosophischen Interesses
in Deutschland bezeichnend ist das Erschei¬
nen einer neuen Zeitschrift, die nicht heft¬
weise, sondern sofort mit dem ersten Bande
als Ganzes in dem starken Umfange von
fast 700 Seiten herauskam. Es sind die
Annalen der Philosophie, herausge¬
geben von Hans Vaihinger und Ray-
mund Schmidt (erscheinend im Verlage
von Felix Meiner, Leipzig). Angesichts ihres
Umfanges muß die nähere Würdigung die¬
ser Zeitschrift dem nächsten Bericht über¬
lassen bleiben. K. Oe.
Für die Sdiriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W 30, Lultpoldstrate *
Drude von B. Q. Teubncr ln Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG _ HEFT 3 _ JANUAR 1920
Julius Wellhausen.
(geb. am 17. Mai 1844 in Hameln, gest. am 7. Januar 1918 in Göttingen.)
Von Otto
Zu den in der ersten Reihe stehenden
Gelehrtengestalten des nun dahingesun¬
kenen neuen deutschen Kaiserreiches
gehört Julius Wellhausen. Der Beginn
seiner wissenschaftlichen Laufbahn und
sein Tod fallen zusammen mit An¬
fang und Ende des Reiches. Am 9. Juli
1870, unmittelbar vor dem Ausbruch
des Krieges mit Frankreich, eröffnete
ihm die Promotion zum Lizentiaten die
akademische Laufbahn, und zu Be¬
ginn des Jahres 1918 hat er die Augen
geschlossen. Fest mit seinem deutschen
Vaterland verwachsen und besonders
innig mit seiner engeren niedersächsi¬
schen Heimat verbunden, als deren
Sohn er sich immer dankbar und stolz
bekannt hat, ragt er doch seiner Bedeu¬
tung und seiner Wirkung nach weit
über Deutschlands Grenzen hinaus.
Nicht nur in der Schweiz und in Hol¬
land, nicht nur in Dänemark, Schwe¬
den und Norwegen, auch in den übri¬
gen Ländern christlicher Kultur, in
England und den Vereinigten Staaten
von Nordamerika wohl besonders, ist
sein Name in den hierfür in Betracht
kommenden Kreisen ebenso bekannt
wie in Deutschland, und auf den man¬
nigfachen Gebieten seines Forschens
kann fürs erste niemand an ihm vor¬
übergehen.
Auch als Mensch war Wellhausen
bedeutend. Er hat die Öffentlichkeit
eher gemieden als gesucht. So ist die
Eißfeldt.
Zahl derer, die ihm näher gekommen
sind, nicht allzu groß, und der gewal¬
tigen Wirkung des Forschers gegen¬
über ist die Wirkung des Mens>chen
auf einen verhältnismäßig kleinen
Kreis beschränkt geblieben. Um so
mehr ist er mit seiner großen, gütigen
Persönlichkeit denen gewesen, die zu
seinen Vertrauten gehört haben. Aus
Enno Littmanns Worten an Wellhau¬
sens Grab 1 ), nicht minder aus Eduard
Schwartz’ Rede auf Wellhausen in der
Göttinger Gesellschaft der Wissenschaf¬
ten 3 ) spricht tiefer Dank für das.
was den Rednern der Mensch Wellhau¬
sen gewesen ist, und aus Littmanns
Feder dürfen wir in hoffentlich nicht
allzu ferner Zeit eine Biographie des
verehrten Meisters erwarten, die neben
1) Gedruckt von Ad. Littmann, Olden¬
burg i. Gr. 1918.
2) Berlin 1919, Weidmannsche Buchhand¬
lung. — Weiter sei hingewiesen auf C. H.
Beckers Aufsatz .Julius Wellhausen“ in:
Der Islam, Bd. IX, 1918, S. 95—99, und auf
Johannes Meinholds Würdigung der Be¬
deutung Wellhausens (Hefte zur „Christ¬
lichen Welt“ Nr. 27), Leipzig 1897, J. C. B.
Mohr, die, weil über zwanzig Jahre zurück¬
liegend, nicht erschöpfend sein kann, aber
doch von Wellhausens alttestamentlichen
Leistungen ein anschauliches Bild gibt. Ein
bis 1914 reichendes und darum so gut wie
vollständiges Verzeichnis der Schriften Julius
Wellhausens hat Alfred Rahlfs gegeben in:
„Studien zur semitischen Philologie und
Religionsgeschichte, Julius Wellhausen zum
siebzigsten Geburtstag gewidmet.. her¬
ausgegeben von Karl Marti. Gießen 1914,
Töpelmann.
7
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197
198
Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
fen. Die Richtigkeit dieser Grundsätze
erweisen die vielen einleuchtenden
Emendationen, die ihre Anwendung auf
die Bücher Samuelis ergibt; ein gro¬
ßer Teil dieser Emendationen ist in¬
zwischen Gemeingut der alttestament-
lichen Wissenschaft geworden. 1899 hat
Wellhausen Bemerkungen wesentlich
textkritischer Art zu den Psalmen ver¬
öffentlicht und ihnen einige allge¬
mein gültige Sätze über die Textkritik
am Alten Testament vorausgeschickt,
die sehr beachtenswert bleiben.—Auch
in der Arabistik ist Wellhausen zuerst
mit einer textkritischen Arbeit hervor¬
treten; indem er Väkidis Kitäb al-
Maghäzi in verkürzter deutscher Wie¬
dergabe veröffentlichte; Übersetzung
und Noten geben viele Proben seines
textkritischen Urteils. Das gleiche gilt
von den 1899 erschienenen Noten zum
Text der Leidener Ausgabe Tabaris. —
Schließlich beruhen auch seine Arbeiten
zum Neuen Testament auf selbständi¬
ger Durchdringung des textkritischen
Materials. In dem Sich-Beschränken auf
die ältesten Handschriften und Über¬
setzungen zeigt sich auch hier der Mei¬
ster, 'der den Gegenstand in mancher
Beziehung gefördert hat.
Wellhausen ist groß als Sprachken¬
ner und Textkritiker; er ist auch groß
als Exeget. Er hat nie einen Kommen¬
tar veröffentlicht, wenigstens keinen
Kommentar der üblichen Art. Er mochte
nicht, wie das die Herausgabe eines
Kommentars mit sich bringt, wieder¬
holen was andere vor ihm gesagt. So
hat er, wo er zur Erklärung von Quel¬
len beitragen wollte, es immer in der
Form ganz kurzer, unzusammenhän¬
gender Noten getan, die nur solchen
Stellen beigefügt wurden, zu denen er
Neues zu sagen hatte. So hat er es
hei den Liedern der Hudhailiten ge¬
macht und bei den Kleinen Propheten,
bei den Psalmen und bei den Schriften
des Neuen Testaments. Aber diese
knappen Noten fördern das Verständ¬
nis mehr als mancher dickleibige Kom¬
mentar.
Die beste Erklärung eines Textes ist
eine gute Übersetzung. Wellhausen hat
auf das Übersetzen großen Wert ge¬
legt. Er hat viel übersetzt und gut
übersetzt. Seine Übersetzungen, die aus
dem Arabischen wie Väkidis Kitäb al-
Maghäzi und die Lieder der Hudhai¬
liten, die aus dem Hebräischen wie die
Kleinen Propheten und die — leider
nur englisch erschienenen —> Psalmen,
die aus dem Griechischen wie die drei
ersten Evangelien sind von vorbild¬
licher Schönheit und Kraft. Ohne sich
sklavisch an das Original zu binden,
versteht er’s doch, seinen Ton festzu¬
halten und der deutschen Wiedergabe
die gleiche Farbe und die gleiche sinn¬
liche Anschaulichkeit zu leihen, die
das Urbild hat. Hermann Gunkel über¬
treibt nicht, wenn er im Vorwort sei¬
ner Ausgewählten Psalmen 4 ) sagt: „Ge¬
wiß ist es ein undankbares Geschäft,
nach Luther die Bibel ins Deutsche zu
übertragen. Kein Moderner — es müßte
denn Wellhausen sein .. — darf hof¬
fen, Kraft und Wärme des Lutherschen
Ausdrucks zu erreichen.“
2 .
Zu den der historischen Darstellung
vorangehenden Vorarbeiten gehört wei¬
ter die literarkritische Behandlung der
Quellen; ohne ihre literarkritische Sich¬
tung ist historisches Urteil undenkbar.
Die Literarkritik ist schon eigentlich
keine Vorarbeit mehr, mit ihr beginnt
die historische Arbeit selbst. Hier ist
nun das Feld, auf dem Wellhausen
noch weit erfolgreicher gearbeitet hat
als auf den Gebieten, von denen die
4) 3. Aufl. Göttingen 1911, S. VI.
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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
200
Rede war. Wellhausen sagt einmal, es
käme nicht bloß auf die Brille an, son¬
dern auch auf die Augen. 6 ) Das ist in
Wahrheit groß an ihm, seine Augen.
Andere haben dieselbe Brille getragen
wie er, d. h. gleich gute sprachliche
Kenntnisse und gleich gute textkri¬
tische und exegetische Fähigkeiten ge¬
habt wie er, aber sie haben doch nicht
gesehen, was er gesehen hat. Einerlei,
zu welchen Untersuchungen Wellhau¬
sens man greift, zu seinen alttesta-
mentlichen, zu seinen arabistischen
oder zu seinen neutestamentlichen, im¬
mer wieder setzt der Scharfblick in Er¬
staunen, mit dem er seine Quellen be¬
trachtet. Er sieht Nähte und Risse, die
man bisher übersehen, deckt Wider¬
sprüche auf, über die man bisher hin¬
weggelesen, oder die man hinweghar¬
monisiert hat, und deutet solche Beob¬
achtungen dahin, daß das sich zunächst
als literarische Einheit darbietende Werk
in Wahrheit I aus zwei oder mehr Quellen
zusammengearbeitet sei oder nachträg¬
liche Erweiterungen erfahren habe.
Diese, zur Erklärung formeller Uneben¬
heiten aufgestellte, Hypothese, wird dann
dadurch zur Evidenz erhoben, daß in
den auf zwei oder mehr Hände aufge¬
teilten Stücken durchgehende sprach¬
liche und sachliche Verschiedenheiten
aufgezeigt werden, die eine einheit¬
liche Herkunft der Stücke ausschlie¬
ßen. Bewundernswert, diese Kunst des
Sezierens! Aber Wellhausen beruhigt
sich nicht bei diesen negativen Ergeb¬
nissen seiner Kritik. Wenn er den Not¬
bau, der aus Trümmern verschiedener
Bauwerke, eines Tempels etwa und
eines Palastes und einer Stadtmauer,
errichtet ist, eingerissen hat, so fügt
er die zu jedem Bauwerk gehörigen
Trümmer zum ursprünglichen Bau wie-
5) Skizzen und Vorarbeiten. VI. 1899,
S. VIII.
der zusammen, und wenn die Trüm¬
mer zur vollen Wiederherstellung
nicht reichen, so zeigt er doch seine
ursprünglichen Maße und Formen.
Oder aber — wenn es sich nicht um
ein aus mehreren Quellen komponier¬
tes Werk handelt, sondern um eine Ein¬
heit, die nur durch wucherungsartige
Erweiterungen vermehrt ist — er ent¬
fernt die Anbauten, die die ursprüng¬
liche Anlage verdeckten, und stellt den
Bau so wieder her, wie ihn sein Mei¬
ster geplant hat. Wellhausen ist groß
im Einreißen, größer im Aufbauen.
Am bekanntesten sind Wellhausens
literarkritische Untersuchungen des
Hexateuchs geworden, die er unter dem
Titel „Die Composition des Hexa¬
teuchs“ zuerst in den Jahrbüchern für
deutsche Theologie von 1876 und 1877
veröffentlicht hat. Es sind nicht unbe¬
tretene Wege, die Wellhausen hier geht.
Die Aufteilung des Hexateuchs auf vier
Quellen — die man heute als den
Jahvisten (J), den Elohisten (E), das
Deuteronomium (D) und den Priester¬
kodex (P) zu bezeichnen pflegt — war
schon vor ihm geschehen. Freilich
war man von einer reinlichen Analyse
des Stoffes noch weit entfernt, und
noch ungeklärter war die Vorstellung
von dem Alter dieser Quellen und
ihrem gegenseitigen literarischen Ver¬
hältnis. Immerhin war schon sehr We¬
sentliches geleistet. Dennoch hat Well¬
hausen — noch abgesehen von der
Bestimmung des Alters der Quellen —
die literarkritische Arbeit am Hexa-
teuch aufs glücklichste gefördert. An
vielen Stellen hat er die Tatsache der
Komposition neu aufgezeigt und mei¬
stens die verschiedenen Schichten rich¬
tig und reinlich ausgeschieden. Er hat
weiter das gegenseitige Verhältnis der
Quellen überzeugend dahin bestimmt
daß die jeweils jüngere Schicht die
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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
202
altere oder die älteren voraussetze
und von ihnen abhängig sei. Es hängt
damit zusammen, daß Wellhausen sich
schon durch diese rein literarkritischen
Untersuchungen zu einer bestimmten
Anschauung über die Altersfolge
der Quellen geführt sieht, eben der, die
er dann in seinen Prolegomena zur
Geschichte Israels dargelegt und be¬
wiesen hat. Wellhausens Thesen haben
sich, aufs Ganze gesehen, durchge¬
setzt und sind Allgemeingut der alt-
testamentlichen Wissenschaft gewor¬
den. Wo er aber die Arbeit nicht zu
Ende geführt hat, da haben sich seine
Aufstellungen als Grundlage für wei¬
tere Untersuchungen bewährt. Einen
solchen neuerdings gemachten Fort¬
schritt stellt besonders Rudolf Smends
Buch dar, „Die Erzählung des Hexa-
teuch auf ihre Quellen untersucht“ 0 ),
das nicht einen, sondern zwei Jahvi-
sten durch den ganzen Hexateuch ver¬
folgt (J 1 und J 2 ), auf sie und die an-<
deren Quellen den gesamten Stoff so
gut wie restlos aufteilt und so viele Er¬
scheinungen erklärt, die Wellhausen
nicht aufzuhellen vermochte. —
Anders als beim Alten Testament
liegen die Dinge in der Arabistik. Beim
Alten Testament hat. es der Historiker
mit Quellen zu tun, deren Verfasser,
Entstehungsort und Zeit unbekannt ist,
und die zu Kompilationen zusammen¬
gestellt sind, deren Herkunft nach Ort
und Zeit und Autorschaft ebenso dun¬
kel ist wie die der Quellen. Hier kann
nur innere Kritik weiter führen. Dem
Arabisten hingegen stehen im allgemei¬
nen umfangreiche Geschichtswerke be¬
kannter Autoren zur Verfügung, die —
wenigstens gilt das von den älteren und
wichtigeren — die von ihnen benutzten
ursprünglichen Berichterstatter aus¬
6) Berlin 1912, Reimer.
drücklich nennen und deutlich vonein¬
ander unterscheiden. Hier hat der Ara¬
bist weit leichtere Arbeit als der Er¬
forscher des Alten Testaments. Aber
der Arabist ist dodh nicht überall in
dieser glücklichen Lage. Auch ihm le¬
gen sich viele Hemmnisse in den Weg,
die nur mittels innerer Kritik zu besei¬
tigen sind. Da bewährt sich denn auch
hier Wellhausens literarkritischer
Scharfblick. Der Leser seiner Hudhai-
liten-Lieder sieht mit Staunen, mit wel¬
cher Sicherheit er auch in diesen schwer
verständlichen poetischen Erzeugnissen,
in denen — wie in aller Poesie und
besonders der arabischen — ein stren¬
ger Gedankengang nicht festzustellen
ist und daher Wucherungen kaum vom
Stamm zu unterscheiden sind, ausschei¬
det, was nicht in den Zusammenhang
paßt und es seinem richtigen Zusam¬
menhang zuweist. — Die in Jakuts
geographischem Lexikon gegebenen
ausführlichen Mitteilungen über arabi¬
sche Gottheiten und Kultstätten vermag
er zu sichten und das darin zu bestim¬
men, was auf Ibn al-Kalbis Götzen¬
buch zurückgeht; auch dessen Anord¬
nung glaubt er in den Grundzügen er¬
kennen zu können. — In den aus der
Sira des Ibn Sa‘d mitgeteilten beiden
Kapiteln über die Schreiben Muhammeds
und über die Besuche der Araber, die
er empfing, werden seine drei Haupt¬
gewährsmänner Väkidi, Ibn al-Kalbi
und Madäini mittels innerer Kritik aus¬
geschieden und mit ein paar Stri¬
chen treffend charakterisiert. Überall
die gleiche Schärfe des Blicks, überall
die gleiche Fähigkeit, Nichtzusammen-
gehörendes zu trennen, Auseinander¬
gesprengtes wieder zu vereinen.
Auch auf dem Felde, dem Wellhau¬
sen sich zuletzt zugewandt hat, hat
sein literarkritischer Blick viel Neues
gesehen. Das gilt von seinen Arbeiten
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204
Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
203
zur Apostelgeschichte und zur Apo¬
kalypse, vor allem aber von seinen
Untersuchungen über die Evangelien.
Hier ist es noch weniger, als es bei
der Hexateuchkritik der Fall war, Neu¬
land, das er pflügt. Seine Lösung des
synoptischen Problems: Markus der äl¬
teste Evangelist, überwiegend Erzäh¬
lungsstoff bietend; nach ihm und von
ihm abhängig die wesentlich Redestoff
enthaltende Quelle Q; dann Matthäus
und Lukas, beide eine Komposition aus
Markus und Q, und beide durch Son¬
dergut vermehrt, das als jüngste lite¬
rarische Schicht in Anspruch zu neh¬
men ist — weicht von der seiner Vor¬
gänger nur in wenigen — freilich be¬
deutsamen — Punkten ab. Aber auch
hier ist ihm manch neue Beobachtung
zu verdanken, und alles weiß er in
neue Beleuchtung zu rücken. Wie klar
werden die Dinge, wenn zu der Ein¬
schaltung der Redestücke in den Er¬
zählungsfaden des Markus bei Mat¬
thäus und Lukas bemerkt wird: „Man
kann die Einschaltung des gesetzlichen
Stoffs in den geschichtlichen Zusam¬
menhang des Pentateuchs verglei¬
chen.“ 7 )
Bewußt hat Wellhausen die nahelie¬
gende Gefahr gemieden, zu früh, vor
Erledigung der literarkritischen Arbeit,
in die Stoffkritik einzutreten. „Wilke
und Weiße fanden zunächst keinen Bei¬
fall, sie wurden von Baur und seinen
Schülern in den Schatten gestellt, die
den zweiten Schritt vor dem ersten
tun und das literarische Problem von
der Geschichte der kirchlichen Ideen
und namentlich der Parteitendenzen
aus lösen wollten“, so bemerkt er in
einem Überblick über die Geschichte
der synoptischen Forschung 8 ) und
spricht sich darin zugleich über die
7) Einleitung in die drei ersten Evangelien.
2. Ausg. 1911. S. 49. 8) Ebenda S. 37.
Grundsätze seiner Arbeit aus. Nicht
alle seine literarkritischen Ergebnisse
haben sich Anerkennung zu verschaffen
vermocht. Namentlich sind seine neu-
testamentlichen Aufstellungen teilweise
stark angefochten. Ihn selbst hat das
nicht irregemacht. Jülicher gegenüber,
der seinen Beweis dafür, daß Q auf
Markus folge, nicht überzeugend fin¬
det und darauf hinweist, daß etwa die
Gründe für die Posteriorität des Prie¬
sterkodex viel durchschlagender seien,
sagt er: „Mit besserem Recht läßt sich
aus der Pentateuchkritik eine andere
Nutzanwendung ziehen. Dieselbe ist
von de Wette begründet und von Vatke
durchgeführt. Es dauerte aber ein hal¬
bes Jahrhundert, bis sie zur offiziellen
Anerkennung gelangte, ohne daß eigent¬
lich neue Gründe hinzutraten. Das be¬
rechtigt zu der Erwartung, daß auch
die Kritik von Q durchdringen werde,
wenn sie nur erst lange genug von den
berufenen Fachmännern widerlegt
ist.“») Diese Zuversicht mag nicht in
jeder Beziehung berechtigt sein. Manche
Fragen, wie das Verständnis des Mar¬
kus-Fadens und die Erklärung der Art
des Johannes-Evangeliums, lassen eine
andere Beantwortung zu, als er sie vor¬
getragen. Aber auch da, wo sich seine
Lösungen der Probleme als irrig erwei¬
sen sollten, hat er doch die Schwierig¬
keiten, um die es sich handelt, gesehen,
oft gar als erster erkannt, und zu ihrer
endgültigen Lösung beigetragen.
3.
Wellhausens literarkritische Leistun¬
gen sind gewaltig. Sie allein schon
würden ihm einen Ehrenplatz in der
Geschichte der Wissenschaft sichern.
Aber sie sind noch nicht das Größte
in seinem Lebenswerk. Da erst zeigt
sich die ganze Kraft seines Geistes, wo
9) Einleitung S. 167 f.
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206
Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
es sich darum handelt, die Quellen
in historischer Kritik zu ordnen und sie
für den Aufriß eines Geschichtsbildes
nutzbar zu machen. In gründlichster
exegetischer Untersuchung der Quellen
Herr geworden, hat er nicht nur ihre
einzelnen Angaben jederzeit gegenwär¬
tig, sondern auch als Ganzes stehen
sie ihm lebendig vor Augen. Jede
Quelle ist eine Einheit, denn sie ist
Äußerung einer bestimmten Gesinnung,
steht im Dienst einer bestimmten Wil¬
lensrichtung. Überall sieht er in den
Quellen Willenskräfte am Werk, sie
sind ihm nicht etwa naiv zusammen¬
gestellte Sagensammlungen oder in ob¬
jektiver Unbefangenheit geordnete An¬
einanderreihungen von Tatsachen. Jede
Quelle verfolgt ihm eine Tendenz. Und
er vermag es, die Triebkräfte, die sich
in den Quellen Ausdruck verschafft
haben, zu entdecken, sie zu den Schick¬
salen des jeweiligen Volkes, der jewei¬
ligen Bewegung in Beziehung zu setzen
und so in fruchtbarstem gegenseitigen
Austausch eins aus dem andern zu
erklären. Ist die in einer geschicht¬
lichen Darstellung zutage tretende Wil¬
lensrichtung erst in einer späten
Periode des in Betracht kommenden
Geschichtsverlaufes denkbar oder aus¬
drücklich bezeugt, so wird der Histo¬
riker diese Darstellung, soweit sie die
Vergangenheit im Licht ihrer Gegen¬
wart betrachtet, als unglaubwürdig bei¬
seite lassen müssen, wobei Einzelhei¬
ten dennoch als zuverlässig verwertet
werden können. Und wertlos ist sie
auch als Ganzes nicht. Sie ist dem Hi¬
storiker Quelle für ihre Gegenwart, in¬
sofern die Tendenzen, die sie in der
Vergangenheit am Werk sein läßt, in
Wahrheit ihre Gegenwart bewegen. So
verläuft sich die — vor allem auf ara-
bistischem Gebiet '— unübersehbare
Flut der Nachrichten und wird zu
einem in scharf eingegrabenem Bette
dahinziehenden Strom, dessen Ur¬
sprung, Mittellauf und Mündung klar
erkennbar ist. Man braucht nur diesem
Strom zu folgen, so drängen sich die
wechselnden Bilder des Geschichtsver¬
laufs mit Macht dem Auge auf: ra¬
gende Berge und rauschende Wälder,
fruchtbare Felder und belebte Städte,
ödes Heideland und sumpfige Niederung.
Wellhausens erste geschichtliche Dar¬
stellung, „Die Pharisäer und die Sad¬
duzäer" vom Jahre 1874 zeigt seine
Anlage zu historischer Kritik und hi¬
storischer Intuition schon in voller
Entfaltung. Mit herzerfreuender Frische
und in einer Sprache, die erwärmt ist
von der verhaltenen Glut eines edlen
Pathos, zerreißt er, auf Josephus und
das Neue Testament gestützt, die Ne¬
belschleier, in die eine auf dem Tal¬
mud beruhende Geschichtschreibung
die jüdische Geschichte der beiden
letzten vorchristlichen Jahrhunderte und
des ersten nachchristlichen gehüllt
hatte. Die hierher gehörigen Nachrich¬
ten des Talmuds gestalten bewußt oder
unbewußt die ganze Geschichte der
Vergangenheit nach dem, was ihrer Zeit
als Ideal galt. „So wie die Zustände
damals waren, so sollten sie sein und
und so waren sie von Rechts wegen
immer gewesen. Seit Mose hat Israel
weiter nichts zu tun gehabt, als den
Talmud zu lernen.“ 10 ) Ganz anders das
Bild, das sich aus Josephus und dem
Neuen Testament ergibt. Hier „ist an
keinen Ausgleich zu denken. Liegt aber
die Notwendigkeit eines Entweder-Oder
vor, so ist kein Zweifel, daß die Ent¬
scheidung zugunsten des Josephus und
des Neuen Testaments ausfallen
muß“. 11 ) Eine große Leistung, die zur
Hoffnung auf Größeres berechtigte.
Das Größere blieb nicht aus. Die
10) S. 40.
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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
212
211
mehr oder weniger willkürliches Zei¬
chen, sie beruht also auf einem subjek¬
tiven oder objektiven Unvermögen und
ist mit den Anfängen der Poesie im¬
mer und überall verbunden. Auch in
reiferen Zeiten greift der Dichter zur
Allegorie, wenn er Vorgänge, für die
ihm die Darstellungsmöglichkeit fehlt
oder noch fehlt, darzustellen versucht.
Statt der Sache gibt er ein Bild. So ver¬
fährt Goethe in „Faust II“ und in der
„Pandora“. Die Entwicklung des Men¬
schen oder der Menschheit, also ein
rein innerlicher Vorgang, wird durch
äußere Zeichen vermittelt. Diese Zei¬
chen können und müssen wir uns ver¬
standesmäßig erklären, erst durch den
Verstand erhalten sie einen Sinn und
gewinnen die vom Dichter g.ewollten
Beziehungen zur Sache selber. Aber
die verstandesmäßige Operation hebt
die Empfindung auf und unterbricht
den Strom der Poesie. Bei der „Divina
Commedia“ sind wir dauernd gezwun¬
gen, die Lektüre abzubrechen, um in
den Kommentaren Aufschluß über die
von dem Dichter gewählten willkür¬
lichen und an sich sinnlosen Zeichen
zu suchen. Die wilden Tiere des
ersten Gesanges bleiben ohne die Be¬
lehrung der Anmerkung eine unver¬
ständliche Menagerie, und je nachdem
man im Sinne des Verfassers in dem
einsamen Wanderer einen Einzelmen¬
schen, die Menschheit selbst oder die
politische Menschheit um 1300 erblickt,
wechseln sie ihre Bedeutung. Die Viel¬
deutigkeit der Danteschen Allegorien
vermehrt die Schwierigkeit des Ver¬
ständnisses. Auf einer großen Allegorie
beruht aber das ganze Gedicht. Es ge¬
nügt nicht, das sinnlich Dargestellte zu
erfassen, sondern wir müssen den ver¬
borgenen Sinn dazu enträtseln. Auch
Michelangelo hat in sein .Jüngstes
Gericht' alle möglichen theologischen
Ideen und Spielereien hineingehehn-
nist, aber sie sind belanglos. Wir brau¬
chen uns um diese „tieferen“ Beziehun¬
gen nicht zu kümmern und können
uns ausschließlich an die sinnliche An¬
schauung halten. Anders bei Dante.
Allegorie und Poesie fallen für ihn und
seine Zeitgenossen zusammen; sie wa¬
ren gewohnt, das ganze Leben sub
specie aeterni zu betrachten. Poesie ist
Sinnlichkeit, aber die Sinnlichkeit des
Mittelalters geht in der Todessehnsucht
auf. Wie der mittelalterliche Mensch
bei seinem Tun und Lassen beständig
nach dem Jenseits blickt, so drängt es
den mittelalterlichen Dichter in Be¬
reiche, die nur durch die Allegorie dar¬
gestellt werden können. Er und sein
Publikum vermochten aber im Gegen¬
satz zu dem modernen Menschen, der
in Allegorien nur denken kann, in Alle¬
gorien zu empfinden. Diesen Seelenzu¬
stand, diese Voraussetzung für das
poetische Erfassen der Dichtung, kann
uns kein Kommentar wiedergeben, er
kann die toten Allegorien wohl erklä¬
ren, aber ihnen nicht das Leben ein¬
hauchen, das sie vor 600 Jahren be¬
saßen.
Ähnlich verhält es sich mit Dantes
Liebestheorie. Wenn wir am Schluß
der Dichtung von der Liebe lesen, die
Sonne und Gestirne bewegt, so spüren
wir den ahnungsvollen Schauer eines
amor mysticus, der das ganze ^Veltall
erfüllt und zusammenhält, aber der
heilige Schauer zerreißt, und bei nähe¬
rem Zusehen finden wir einen dogma¬
tischen Begriff, der in einen amor pu-
rus und mixtus, einen amor naturalis,
sensualis und rationalis zerklittert. In
diesen Spitzfindigkeiten verbarg sich
die unterdrückte Sinnengier des Mittel¬
alters. Die Glut ist längst erloschen
und heute sind nur tote Schlacken ge¬
blieben. Gewiß kann der Literarhisto-
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PRINCETON UNIVERSUM
213
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
riker das Wesen dieser Liebe erklären;
aber wie mit diesen scheinbar blutlee¬
ren Begriffen tief und echt geliebt wer¬
den konnte, wird aus der vollkommen¬
sten wissenschaftlichen Darstellung
schwerlich hervorgehen. Die Schwierig¬
keit der Dante-Erklärung liegt darin,
daß es beinahe unmöglich erscheint,
den gefühlsmäßigen Kontakt zwischen
der modernen und der damaligen Welt¬
anschauung herzustellen. Eine Dichtung
will aber nicht verstanden, sondern in
erster Linie empfunden und erlebt sein.
Nur durch das Gefühl läßt sich die
ideelle Einheit zwischen Verfasser und
Leser, auf die es allein ankommt, her¬
beiführen. Ist das bei Dante überhaupt
möglich? Vermag eine Erläuterung den
Laien so weit zu fördern, daß er völlig
in der Dichtung aufgeht? Ich will die
Frage nicht verneinen, aber ich selbst
habe einen derartigen Versuch, Dante
nicht historisch, sondern aus seiner
Persönlichkeit heraus zu erfassen, als
unausführbar aufgeben müssen, und
selbst die besten wie der treffliche De
Sanctis haben die Hindernisse nicht
überwunden.
2 .
Neuerdings hat Karl Voßler 1 ) den Ver¬
such gemacht, „einem weiteren Kreis
gebildeter Laien das Verständnis der
Göttlichen Komödie zu erschließen“. Es
ist anzuerkennen, daß er sich durch
die Fehlschläge oder halben Erfolge
seiner Vorgänger nicht hat abschrecken
lassen, und wenn überhaupt einer von
den Lebenden sich an diese ungeheure
Aufgabe heranwagen durfte, so ist es
Voßler. Er ist Philologe im Geist, nicht
1) Die göttliche Komödie. Entwicklungs¬
geschichte und Erklärung. Heidelberg 1807
bis 1910. Ich zitiere nach der durchgehen¬
den Seitenzählung der zwei Bände, bzw.
vier Teile.
214
im Wort, er ist nicht nur heimisch in
der Literatur und Kulturgeschichte,son¬
dern auch in seltener Weise vertraut
mit der Philosophie und der Religions¬
kunde. Er besitzt eine besondere Nei¬
gung und Fähigkeit, schwierige speku¬
lative Systeme zu entwirren und ihre
oft diskrepanten Erscheinungen auf
einen geistigen Hauptnenner zurückzu¬
führen. Es lockt ihn, die gewonnenen Er¬
gebnisse, wenn möglich in einen knap¬
pen, antithetisch zugespitzten Satz zu¬
sammenzufassen. Wenn er dabei ge¬
legentlich das Opfer dieser Vorliebe für
die Antithese wird, so erklärt sich das
aus den Grundzügen seiner Veran¬
lagung. Sie ist intuitiv. Das Beste an
seinem Werke ist nicht mühsam erar¬
beitet, sondern wie überhaupt das Beste
unseres Wissens und unserer Erkennt¬
nis geschaut. Die Kleinarbeit liegt Vo߬
ler nicht, er bewegt sich gern in großen
Zügen und Gedankengängen, und wenn
gerade das vorliegende Werk in einer
für meinen Geschmack störenden Weise
in Abteilungen und Unterabteilungen
zerteilt ist, so liegt das vor allem im
eigenen Interesse des Verfassers, der
offenbar fühlt, daß er mit solchen
künstlichen Hindernissen seinen Geist
zügeln und bei den Einzelheiten
festhalten muß. Aber abgesehen von
diesen Äußerlichkeiten schreibt Voßler
immer interessant, zumeist fesselnd, stel¬
lenweise sogar hinreißend, vorausge¬
setzt, daß der Leser in der Lage ist, sei¬
nen Ausführungen mühelos zu folgen.
Denn die klare Schreibweise kann nicht
darüber täuschen, daß der Verfasser recht
hohe Ansprüche sowohl an die Vorkennt¬
nisse wie die Auffassungsfähigkeit sei¬
ner Leser stellt. Erschwert wird das
Verständnis durch Verwendung einer
philosophischen Terminologie, die der
im Deutschen geläufigen widerspricht
und von Benedetto Croce stammen
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215
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
216
mag, soweit sie nicht eigene Schöpfung
des Verfassers ist. Voßler unterschätzt
sein eigenes Werk oder er überschätzt
das deutsche Publikum, wenn er glaubt,
daß der berühmte „gebildete Laie“ sei¬
nen Anforderungen entspricht. Was uns
hier geboten wird, ist ein wissenschaft¬
liches Werk ersten Ranges, das nur von
dem Fachmann gewürdigt werden kann.
Wenn der Verfasser als Maßstab des
Erfolges die Verbreitung seiner Arbeit
unter der Laienwelt betrachtet, so
fürchte ich, hat er mit einem Mißerfolg
zu rechnen. Man mag das bedauern, auf
der andern Seite wird man sich dar¬
über freuen, denn wenn Voßler wirklich
den Versuch gemacht hätte, den Bedürf¬
nissen weiterer Kreise entgegenzukom¬
men, so wäre es zum Schaden seines
eigenen Werkes geschehen und er hätte
uns niemals diese glänzende, in vieler
Beziehung unübertreffliche Leistung bie¬
ten können. Sie enthält viel mehr, als
der Titel verspricht, eine Einführung
nicht nur in die „Göttliche Komödie“,
sondern in die gesamten Schriften Dan¬
tes. Für den Forscher bilden diese ja
auch eine unzertrennliche Einheit, wäh¬
rend es für den Laien gerade darauf an¬
kommt, die schon schwierige Komödie
möglichst von den noch schwierigeren
philosophischen Schriften freizuhalten.
Aber auch damit ist der Inhalt des Voß-
lerschen Buches noch nicht erschöpft, es
bietet eine Geistesgeschichte des Mittel¬
alters bis zu Dante.
Es ist bedauerlich, daß der Verfasser
sich nicht mit klarer Überlegung auf
diesen Standpunkt gestellt und zu die¬
sem Ziele bekannt hat. Ähnlich wie in
der „Komödie“ selber der Dichter ge¬
legentlich in störender Weise durch
den Theologen unterbrochen wird, so
muß in der vorliegenden Einführung
der Forscher häufig das Wort an den
Popularisator abgeben. Dadurch be¬
kommt das Werk etwas Zwiespältiges.
Bald wird zu viel, bald zu wenig gebo¬
ten, je nachdem sich der Verfasser von
seiner wissenschaftlichen Neigung lei¬
ten läßt oder daran denkt, daß er ja
dem gebildeten Laien die „Komödie“
erklären will. Mit einem hörbaren
Ruck bricht er dann ab. Er sieht zu
seinem Entsetzen, daß der Eifer ihn
weit über seine angebliche Absicht hin¬
ausgetragen hat und unvermittelt
schließt er die Ausführungen mit der
Bemerkung ab, daß sie direkt keine,
indirekt nur eine recht geringe Be¬
ziehung zu Dante haben. Das ist rich¬
tig, wenn es sich um Dante, den Dich¬
ter, den Verfasser der „Göttlichen Ko¬
mödie" handelt, falsch dagegen, wenn
wir Dante als Ausdruck und Vollen¬
dung des Mittelalters ins Auge fassen.
Voßler erweist sich als guter Kenner
und temperamentvoller Kritiker der
Philosophie und der Religionssysteme
der verschiedenen Völker und Zeiten,
aber wenn er seine Ausführungen oft
auf einige spärliche Seiten zusammen¬
drängt, so hat man den Eindruck, daß
er in usum delphini, will sagen des
gebildeten Laien, schreibt, und daß er
uns das Beste, was er sagen könnte,
vorenthält, weil es über den Horizont
dieses nie und nirgends existierenden
Unglückswesens hinausgeht. In dem
literarhistorischen Teil macht sich das
am wenigsten bemerkbar. Einesteils
kommt er ja dem allgemeinen Ver¬
ständnis mehr entgegen, andererseits
hat sich der Verfasser hier nicht so
starke räumliche Beschränkungen auf¬
erlegt wie bei den philosophischen und
religionsgeschichtlichen Auseinander¬
setzungen. Die Kunst Guido Guinizel-
lis läßt sich auf fünf Seiten darlegen,
für den Jenseitsglauben der Babylonier
oder Phönizier sind, wenn er über¬
haupt erwähnt werden mußte, ein
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217
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
218
Dutzend Zeilen von konversationslexi¬
konmäßiger Dürftigkeit.
Auf vier Straßen führt uns Voßler
zu Dante, auf der religiösen, der philo¬
sophischen, der ethischen und litera¬
rischen. In diese vier großen Gruppen
teilt er die Entwicklungsgeschichte des
heiligen Gedichtes ein; eine besondere
politische Abteilung lehnt er (S. 22)
ab mit der Begründung, daß die Po¬
litik damals noch mit der Ethik in un¬
lösbarem Zusammenhang stand. Auch
nach De Sanctis war sie noch keine
selbständige Wissenschaft, sondern nur
ein Anhang der Ethik und Rhetorik.
Das ist gewiß richtig, aber es gab doch
schon Gebiete, auf denen sich der Staat
im 13. Jahrhundert mit Erfolg von der
Bevormundung der Kirche freizuma¬
chen suchte, besonders in der Jurispru¬
denz. Die Bedeutung des römischen
Rechtes für die Entwicklung des Mit¬
telalters wird von Voßler nicht gebüh¬
rend gewürdigt. Das gemeinsame Pri¬
vatrecht war das letzte Band, das das
Völkerchaos der untergehenden antiken
Welt zusammenhielt. Das „civis Roma¬
nus sum“ — und römischer Bürger war
nicht nur der Italiker, sondern auch der
Syrer, der Afrikaner und Iberer — ging
in der Rechtsgemeinschaft auf. Das
einheitliche Recht, untrennbar verbun¬
den mit der Idee der Weltmonarchie
und des universalen Kaisertums, bil¬
dete die Sehnsucht des gesamten Mit¬
telalters, und wie Thomas von Aquino
die Katholizität der Philosophie, so
stellten um dieselbe Zeit die Glossa-
toren die Katholizität des römischen
Rechtes her. In der Jurisprudenz liegt
auch eine der stärksten Wurzeln des
Humanismus. Voßler sucht dessen Ur¬
sprung in der Mystik (789 f.); ich kann
mich dieser Ansicht nur bedingt an¬
schließen, aber mag auch die Bewun¬
derung des Mystikers zum Teil den
Weg zur Antike erschlossen haben, so
sollte nicht übersehen werden, daß der
Jurist, der sich mit den Quellenschrif¬
ten vertraut machte, ganz von selber
zum Humanisten wurde. Zu Dantes
Zeit galt freilich noch der Grundsatz:
„Graeca non leguntur", aber er fiel, so¬
bald man die Fähigkeit besaß, das Grie¬
chische zu lesen. Die Bologneser Rechts¬
schule war unserem Dichter sicher nicht
fremd, und wenn er keinen ihrer gro¬
ßen Meister nennt, so dürfen wir dar¬
aus schließen, daß er ihre Bedeutung
nicht erkannte, vielleicht weil dieGlossa
schon über seine theokratische Rechts¬
auffassung hinauszuwachsen begann.
Wir müssen uns schon mit dem Ge¬
danken vertraut machen, daß Dante
nicht überall auf der Höhe des Wis¬
sens seiner Zeit steht. Auch der größte
Gelehrte des 13. Jahrhunderts, der Doc-
tor mirabilis Roger Bacon, ist ihm un¬
bekannt, oder soll man annehmen, daß
er ihn totschweigt, weil er fühlt, daß
von dessen Lehre seiner scholastischen
Grundauffassung der Untergang droht?
Wie dem auch sei, von der Idee des
römischen Rechtes ist der Dichter
durchdrungen, und wenn er gerade Ju-
stinian im Paradies einen Vortrag über
römische Geschichte halten läßt, so be¬
weist das, daß er in dem gemeinsa¬
men Recht das wichtigste Erzeugnis
der Weltmonarchie erblickte. Man kann
von einem Literarhistoriker nicht ver¬
langen, daß er Jurist ist, aber es dürfte
doch nicht Vorkommen, daß dolus mit
Verbrechen, culpa mit Vergehen gleich¬
gesetzt werden, wie es S. 295 geschieht.
Dolus und culpa sind subjektive
Schuldmomente; die aus dem Code
pönal stammende Einteilung in Ver¬
brechen, Vergehen und Übertretungen
gründet sich auf die Schwere und Art
der Bestrafung und ist objektiv. Wer
doloserweise links fährt, begeht darum
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21 »
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
220
noch lange kein Verbrechen, auch kein
Vergehen, wenn es in Fahrlässigkeit
geschieht. Auch was S. 312 über das
jus naturale gesagt wird, läßt sich
nicht halten. Ein Naturrecht, quod na¬
tura omnia animalia docuit (1. 1 § D.
1. 3), kennen erst die spätrömischen
Juristen; in älterer Zeit ist jus naturale
gleichbedeutend mit jus gentium, ein
geschriebenes Recht, das nach Gajus
die naturalis ratio inter omnes homines
constituit. Diese Natura ist aber die
Natur des Rechtes oder sogar die des
einzelnen Rechtsgeschäftes, nicht im
Sinne der späteren Rechtsphilosophie
die Vernunft.
3.
An die Spitze seines Werkes stellt
Voßler einen Vergleich zwischen Dante
und Faust. Die Zusammenstellung ist
ja keineswegs neu, sie findet sich, so¬
weit ich sehe, zum ersten Male bei Schel-
ling. De Sanctis hat sie dann benutzt,
um das veränderte Verhältnis des Men¬
schen im 13. oder 18. Jahrhundert zum
Wissen darzulegen. Der eine vertraut
ihm mit der Hoffnungsfreudigkeit eines
erwachenden Kindes, der andere stößt
es angeekelt als zwecklosen Ballast von
sich. Faust erkennt, daß wir nichts wis¬
sen können, Dante dagegen erwartet
und findet in tiefster Seelennot Trost
bei der Wissenschaft (Philosophie) und
lebt des sicheren Glaubens, daß ihn
die Erkenntnis durch die Gnade zum
Heil führen werde. Aber De Sanc¬
tis steht in keinem sehr innigen Ver¬
hältnis zur Dichtung Goethes, er gibt
selbst zu, daß ihm Mephisto inter¬
essanter als Faust ist, während sich der
Deutsche zunächst in diesem wieder¬
findet. So kann Voßler wesentlich mehr
aus der Parallele Dante-Faust heraus¬
holen. Er zeigt uns bei Gleichheit des
Problems die Verschiedenheit des Zie¬
les und der Behandlung und entwickelt
die Unterschiede zwischen Vision und
Drama, zwischen Handeln und Schauen,
zwischen der vita contemplativa und
activa. Aber über den Ähnlichkeiten
darf man die fundamentalen Gegensätze
nicht vergessen. Nach Dantes Auffas¬
sung ist die menschliche Natur schlecht,
nach der Goethes im „Faust“ gut.
Das ist von Bedeutung sowohl für ihre
Helden als deren Begleiter. An Faust
heftet sich der Versucher, denn ohne die¬
sen würde er nicht vom „rechten Wege“
abirren, der Wanderer der „Komödie“
dagegen würde sich in derri dunkeln
Walde der Leidenschaften und in der
Hölle rettungslos verlieren, wenn ihm
sein Lehrer Virgil nicht beständig zur
Seite bliebe. Dantes Pessimismus ist
der seiner Zeit, der Fausts dagegen in¬
dividualistisch. Der eine ist zum Schluß
trotz aller Empörung einig mit seinem
Jahrhundert, der andere fühlt sich von
der Mitwelt durch die ganze Kluft der
Idee getrennt. Daraus erklärt sich das
Verhältnis beider zum Staat. Kaisertum
und Papsttum sind, wie Voßler treffend
bemerkt, nur Lumpereien im Vergleich
zu dem ewigen Problem einer Men-
schenseele, aber der Staat als solcher
bildet auch ein ewiges Problem, für das
nur der staatenlose Deutsche, der Schü¬
ler Rousseaus, kein Verständnis hat. Aber
auch er muß einsehen, daß es für den
Menschen ein Heil nur mit dem Menschen,
nur innerhalb der menschlichen Gemein¬
schaft gibt, eine Erkenntnis, die der ita¬
lienische Faust von Anfang an besitzt,
mag er auch das Ideal dieser Gemein¬
schaft wie alle seine Ideale in das Jen¬
seits verlegen. Die Staatsidee ist mäch¬
tig in Dante und schafft praktisch in
seiner Dichtung; selbst in seinen außer¬
irdischen Reichen herrschen die strengste
Gesetzlichkeit und Ordnung, in dem irdi¬
schen Staatsgebilde dagegen, das sich
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221
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
222
Faust zum Schluß aufbaut, walten
Laune und gesetzlose Unbestimmtheit.
Das gleiche Thema der Goetheschen
und Danteschen Dichtung bezeichnet
Voßler mit den Worten Kuno Fischers
als „Fall und Läuterung des Men¬
schen“. Diese Formel des ehemaligen
Heidelberger Philosophen erscheint we¬
nig glücklich. Fall und Läuterung sind
theologische Begriffe, über die Faust
längst hinausgewachsen ist, und auch
für die „Komödie“ passen sie nur be¬
dingungsweise und decken sie inhalt¬
lich nicht völlig. Die Läuterung Dantes
ist am Schluß des Purgatoriums voll¬
bracht, das Paradies würde danach zu
einer effektvollen Apotheose herabsin¬
ken, es wäre ein accidens, kein essentiale
der Dichtung. An anderer Stelle spricht
Voßler von der Vereinigung des Men¬
schen mit Gott. Das bringt den Gehalt
der Wanderung durch die drei Reiche
gut zum Ausdruck. Aber war es von
Anfang an der Plan Dantes? Ich
glaube, man darf an den spärlichen
Angaben Boccaccios über Beginn, Un¬
terbrechung und Wiederaufnahme der
Dichtung nicht achtlos vorübergehen,
und aus der „Vita nuova“ geht zwei¬
fellos hervor, daß unser Dichter schon
damals, etwa 1295, an eine Verherr¬
lichung der toten Geliebten dachte. Von
diesem Jugendentwurf läßt sich so viel
mit Bestimmtheit sagen, daß er un¬
möglich den Plan des weltumspannen¬
den Lehrgedichtes enthielt, sicherlich
zielte er nur auf die Vereinigung der
beiden Liebenden ab. Der irdische, in
Sünden verstrickte Liebhaber wurde zu
der verklärten Königin seines Herzens
emporgehoben. Abgesehen von anderen
Gründen, die sich im Rahmen einer
Besprechung nicht ausführen las'sen.
drängt die verschiedene Stellung, die
Beatrice in der „Vita nuova" und in der
..Komödie“ einnimmt, auf ein derartiges
Zwischenglied und setzt eine Entwick¬
lung voraus. Gewiß ist auch die Wahl
Virgils zum Führer durch Hölle und
Fegefeuer eine eigenmächtige künstle¬
rische Tat Dantes, aber dabei konnte er
sich auf eine mehrhundertjährige Tra¬
dition stützen. Man sah in dem Römer
den Vollender des Altertums, der das
Maß von Wissen besaß, das den Men¬
schen ohne Offenbarung vergönnt war;
sub imagine fabularum totius philo-
sophiae exprimit veritatem, heißt es im
12. Jahrhundert bei Johannes von Salis¬
bury. In seinen „Bucholica“ fand man
die Darstellung des kontemplativen, in
den „Georgica“ des sensualen, in der
„Äneis“ endlich des aktiven Lebens mit
dem Ausblick auf das Christentum. Virgil
war eine berufene Persönlichkeit, Bea¬
trice dagegen, mag sie nun Portinari
oder anders geheißen haben, war eine
Florentinerin, die unzählige von An¬
gesicht zu Angesicht gekannt hatten.
Wie konnte es der Dichter wagen, diese
mit einem Schlage unter die Heiligen
erster Klasse zu versetzen? Wohl lag
es im Stil der Zeit, die Geliebte zu
sublimieren und die irdische Minne zur
himmlischen zu steigern, aber eine
Kühnheit ohnegleichen war es doch, ein
gewöhnliches Mädchen aus eigener
Machtvollkommenheit zu einer auser¬
wählten Rolle ins Himmelreich zu be¬
rufen. Nimmt man aber an, daß der
erste Entwurf einen Liebessang zur
Verklärung der Geliebten enthielt und
daß dieser allmählich zum Kampf- und
universalen Lehrgedicht ausreifte, so
wird das beinahe Unbegreifliche ver¬
ständlich. Dem Auswachsen der Dich¬
tung entsprach ein solches der Bea¬
trice und aus dem Ideal des Liebenden
entwickelte sie sich zum Ideal des Chri¬
sten und Philosophen. Demgegenüber
betont Voßler die Einheitlichkeit der
Dichtung und weist darauf hin, daß
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Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante
schon die ersten Gesänge der „Hölle“ zum krassen Materialismus; es kam so
Beziehungen auf sehr späte Zeitereig- weit, daß man die Freuden des Para¬
nisse enthalten und daß die Topo- dieses als eine ununterbrocheneSchlem-
graphie der Unterwelt der volkstüm- merei schilderte. Einzelne Lieder des
liehen Vorstellung des Himmels nach- Jaoopone da Todi, den D’Anoona tref-
gebildet ist, aber das beweist doch nur,
daß die Spuren des langsamen Wer¬
dens in der jetzigen Fassung nicht
oder schwer zu entdecken sind. Das
ist aber bei Dantes methodischer oder,
wie unser Autor sagt, pedantischer
Geistesrichtung kaum anders zu er
warten.
4.
So kühn der erste Entwurf war, so
wenig originell ist der Grundgedanke
der „Komödie“, wie sie heute vorliegt.
Voßler bemerkt: Dante war sich be¬
wußt, daß die ganze Wirkung von
dem Wie, nicht von dem Was ab¬
hängt. Man kann bezweifeln, daß der
Dichter diese Einsicht besaß, aber die
Tatsache selbst ist darum nicht weni¬
ger richtig. Das Motiv war im Sinne
des 13. Jahrhunderts, um es offen aus¬
zusprechen, geradezu trivial. Jenseits¬
visionen gab es in Hülle und Fülle; in
der vertieften Frömmigkeit der Zeit und
der franziskanischen Mystik fanden sie
einen trefflichen Nährboden. Aber nicht
nur prophetisch veranlagte Sänger, son¬
dern jeder Geistliche auf der Kanzel
schwelgte in der Ausmalung der
menschlichen Sündhaftigkeit, des hölli¬
schen Strafgerichtes und der himmli¬
schen Wonnen. Der Eingang der „Ko¬
mödie“, die Verirrung des Menschen
im Walde der Leidenschaften, klingt
er nicht wie der erbauliche Text einer
Sonntagspredigt? Und vielleicht ist
Dante auf diese Weise dazu gekom¬
men. Je tiefer diese Vorstellungen ins
Volk drangen, desto gröber und sinn¬
fälliger wurden sie ausgeführt. Was
oben spiritualistisch war, wurde unten
fend als Bänkelsänger des Herrn be¬
zeichnet, mit ihrem vermenschlichten
Gott und ihrer verweltlichten Fröm¬
migkeit sind ganz im Stile der Heils¬
armee, die ja auch die grobsinnlichen
Instinkte der Masse in den Dienst einer
vertieften Religiosität zu stellen sucht.
Das visionäre Erschauen der drei Jen¬
seitsreiche mit ihren Qualen und Freu¬
den war im besten Sinne populär. Vo߬
ler verkennt das nicht, aber er würdigt
es nach meinem Empfinden nicht ge¬
nügend, wenn er (S. 799) die Allegorie
als gleichberechtigten Faktor neben
diese volkstümlichen Vorstellungen
stellt. In ihnen liegt die Wurzel von
Dantes Kraft, nur aus dem Empfinden
eines gesamten Volkes, ja wir können
sagen, aus dem Empfinden der Masse
heraus vermag der große Dichter Ewig¬
keitswerte zu schaffen. Diese kindischen
Fabeleien von Hölle und Fegefeuer mit
all ihren Albernheiten und Geschmack¬
losigkeiten enthalten den Keim der
„Komödie“ wie die Radau- und Prü¬
gelstücke der alten englischen Volks¬
bühne den des „Hamlet“. In beiden
lebten die starken volksmäßigen Kräfte,
die nur auf die Bindung durch die
überragende Persönlichkeit warteten,
um sich zum Kunstwerk zu gestalten.
Als wesentlichsten Vorzug des Bu
ches möchte ich betrachten, daß der
Verfasser immer bemüht ist, dem Dich¬
ter zu geben, was des Dichters ist, und
dessen Persönlichkeit in den Vorder¬
grund zu stellen sucht. Wenn sie trotz¬
dem zuweilen in dem Übermaß von
philosophischen und religionsgeschicht¬
lichen Auseinandersetzungen verschwin¬
det, so liegt das an der angewandten
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225
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante“
226
Methode, die sich, von der Allgemeinheit
ausgehend, allmählich auf Dante kon¬
zentriert. Ich verweise als Beispiel auf
das Individuationsproblem (S. 157 f.). Es
wäre eine Lücke in der Darstellung,
wenn Voßler es nicht behandelt hätte;
und doch spielt es für den Dichter gar
keine Rolle. Der Künstler, sei es des
Wortes, sei es der Farbe, kann nur Indi¬
vidualseelen verwenden, die bis zu einem
gewissen Grade im Besitz ihrer Körper¬
lichkeit sind. Mit abstrakten Geistern
kann die Kunst nichts anfangen, und
wenn Dante selbst sich Gedanken über
den Zustand seiner abgestorbenen Seelen
macht, so ist das einer von den vielen
Fällen, wo der Theologe an den Grund-
lagen'der Dichtung rüttelt und den Leser
ausderIHusionherausreißt.\Theologisch
betrachtet, mögen, die körperlichen Stra¬
fen der Hölle und des Fegefeuers nur
Symbole sein, in der Dichtung sind sie
Realitäten, die ein Einzelwesen mit
Einern empfindlichen Leibe vorausset¬
zen. Wenn Voßler die Frage aufwirft,
mit welchem Recht Dante seinen Cha¬
rakter, seine Leidenschaften usw. ins
Jenseits mitnimmt, so gibt es darauf
nur eine Antwort: mit dem Recht des
Dichters! Ein persönliches Recht des
Dichters ist auch seine Mystik. Gewiß
ging damals eine mystische Woge über
die Menschheit, aber das besagt doch
nur, daß Zeit und Umstände auf eine
vertiefte Frömmigkeit drängten und
daß die Religion als Dogma einer Er¬
neuerung durch das Gefühl bedurfte.
Mystik, Religion als Gefühl, läßt sich
überhaupt nicht lehren, sondern muß
erlebt werden. Jeder Versuch, die Re¬
ligion poetisch zu behandeln, führt zur
Mystik. Die Bedeutung der franziskani¬
schen Bewegung für Dante soll nicht
unterschätzt werden, aber in erster Linie
war er aus dichterischer Notwendigkeit
Mystiker, der sich natürlich bis zu
Internationale Monatsschrift.
einem gewissen Grade der Ausdrucks¬
mittel seiner Zeit für die Unendlichkeit
des Gefühles bediente. Bei Voßler er¬
scheint die Mystik zu stark als Lehre,
während wir gerade in ihr das eigenste
Erlebnis Dantes erblicken müssen.
Im allgemeinen gehören aber die
Teile, die der Persönlichkeit des Dich¬
ters gewidmet sind, zu den besten des
gehaltreichen Werkes. Die Ausführun¬
gen 512—570 möchte ich besondersemp¬
fehlen. Freilich das Bild, das Voßler von
seinem Helden entwirft, darf nicht auf
allgemeine Zustimmung rechnen. Es will
mir nicht einleuchten, daß Dante nach
der „Vita nuova“, also etwa im Alter
von dreißig Jahren, „für den Himmel
und die reinste Beschaulichkeit gewe¬
sen war“. Der Florentiner mit dem
glühenden Haß, der selbst im Paradies
noch gegen seine Landsleute wettert
und sich rühmt, wenn er in der Hölle 2 )
auf einen Schurken anderthalben setzt?
Zur Beschaulichkeit hat sich dieser
rastlose, ungestüme Geist wohl nie¬
mals, allenfalls in seinen spätesten Le
bensjahren, nachdem das Maß der Ent¬
täuschungen voll war, durchgerungen.
Gewiß empfindet er eine starke Nei¬
gung zur stoischen Lebensauffassung,
aber besaß er sie selber? Wir dürfen
wohl auf Shakespeare verweisen. Bei
ihm sind die Helden Temperaments-
menschen, die Freunde Stoiker, die von
den leidenschaftlichen Protagonisten
um ihre Seelenruhe beneidet werden.
So auch Dante. Die kühle Geschlossen¬
heit des Stoikers, geheiligt durch die
römische Tradition, war ein Ideal, das
er um so tiefer ersehnte, je weiter sein
ungestümes, leidenschaftlich zuckendes
Dichterherz davon entfernt war. Da
zeigt uns De Sanctis einen anderen
Dante, einen „heldenmütigen Barbaren,
2) Inf. t. 33. 150.
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227
Max J. Wolff, Karl Voßlers „Dante'
228
stolz, rachsüchtig, leidenschaftlich, eine
freie energische Natur“. Auch dieser
mag verzagte Stunden gehabt haben,
aber die Beschaulichkeit, nach seiner
Auffassung die Tugend der Mönche,
war nicht seine Sache. Trotz der Größe
seines Unglücks! dachte er nicht daran,
ins Kloster zu gehen wie andere Dich¬
ter seiner Zeit, wie Guittone d’Arezzo
oder der von ihm bewunderte Folquet
de Marseille, sondern er aß lieber das
Brot der Verbannung, um ein Kämpfer
bleiben zu können. Er fühlte sich zum
Politiker und Staatsmann berufen. Sein
Weltkaisertum gehörte zwar rettungs¬
los der Vergangenheit an, aber „un¬
beschadet seiner allgemeinen Grund¬
sätze“ vermag dieser Italiener recht
praktisch zu handeln. Das hat er in
Florenz und gegen Florenz bewiesen.
Selbst die Wiederaufnahme des Kamp¬
fes zwischen Kaiser und Papst war nicht
so utopisch, wie Voßler sie hinstellt.
Die Erneuerung des römischen Reiches
war freilich ausgeschlossen, aber die
Rache an den Welfen, der Kurie und
Florenz lag im Bereich des Möglichen
und hätte dem Dichter zunächst wohl
genügt.
5.
Was die Beurteilung des Werkes an¬
betrifft, so hat Voßler den erfreulichen
Mut, sich völlig auf den Boden der
ästhetischen Kritik zu stellen. Vor allem
begeht er nicht das Unrecht an Dante,
ihn mit dessen eigner Poetik zu mes-
sen. Die historische viergegliederte Ent¬
wicklungsgeschichte dient dem Verfas¬
ser nur als Unterlage für das ästhe¬
tische Werturteil. Die Bedeutung der
„Komödie“ kann nicht historisch, sondern
nur ästhetisch erschlossen werden; ist
Dante der große Dichter, so muß er es
auch für uns, die heute Lebenden, sein.
Dieser Maßstab führt dazu, daß Voß-
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ler das „Inferno" am höchsten stellt,
dem „Purgatorio“ eine Zwischenstellung
einräumt und das „Paradies“ für grund¬
sätzlich verfehlt hält. Dante hat hier
den mißglückten Versuch gemacht, das
Absolute, das über menschliche Worte
und Gedanken hinausgeht, darzustel¬
len. Der Vorwurf ließe sich gegen das
ganze Gedicht erheben. Auch die Hölle
ist nach des Dichters Auffassung ewig,
also außerhalb von Zeit und Raum, und
doch hat er sie in der Erde unterge¬
bracht und wenn auch nicht behaglich,
so doch recht menschlich eingerichtet.
Bei ihr hält er sich an volkstümliche
Vorstellungen, bei dem Paradies an
kirchliche und philosophische Begriffe.
Eine Darstellung des dritten Reiches
war als Abschluß der Dichtung uner¬
läßlich, poetisch wirksam konnte sie
nur werden, wenn der Dichter so ver¬
fuhr wie bei dem „Inferno“, wenn er auf
den Glauben des Volkes zurückgriff.
Ob freilich eine solche Schilderung den
Geboten -der damaligen Kirche ent¬
sprochen hätte und ob mit diesen volks¬
tümlichen Vorstellungen auch der alle¬
gorische Sinn der „Komödie" zu einem
befriedigenden Ausgang zu bringen
war, das sind Fragen, auf die wir
keine Antwort zu geben haben. Aber
prinzipiell verschlossen ist die Dar¬
stellung des Himmelreiches der Dich¬
tung so wenig wie der Malerei, nur
muß der Dichter auch dieselben Wege
wie der Maler wandeln und mit We¬
sen, nicht mit Begriffen, arbeiten. Im¬
merhin war auch dieser dritte Teil für
die Zeitgenossen weniger abstrakt als
für uns und inniger mit dem Leben
und der Wirklichkeit verknüpft. Wenn
z. B. Franziskaner und Dominikaner
gegenseitig ihr Lob verkünden, so
mochten die damaligen Italiener, die
das Gezänk der beiden Orden täglich
vor Augen hatten, dies mit einem iro-
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PRINCETON UNIVERSIJj^^J
Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie • 230
229
nischen Lächeln aufnehmen, und wenn
sie von den entsagungsvollen Mönchen
im Saturnhimmel lasen, so klang das
in ihren Ohren wie eine bittere Satire.
Selbst der Haß von Guelfen und Ghi-
bellinen ist inmitten der Seligkeit noch
nicht geschwunden. Je übler es in der
Welt aussieht, desto mehr ist die
Menschheit geneigt, von der Zukunft
Trost auf Vorschuß zu beziehen. Die
Völker träumen, die Dichter entwerfen
dann Bilder eines Zukunftsstaates, der
den gegenwärtigen negiert, in Wirk¬
lichkeit aber nur dessen gereinigtes
Spiegelbild und verbesserte Auflage
ist. In diesem Verhältnis steht das
Paradies zur Welt. Dort sind alle Män¬
gel der Gegenwart beseitigt, dort
herrscht der gerechte Kaiser, dort ist
die Kirche frei von irdischem Gut, dort
sind die bedürfnislosen Geistlichen, die
weisen Lehrer, die gerechten Richter,
die Krieger, die ihre Waffen für Gott
und nicht im Bürgerkriege schwingen,
kurz alles ist vorhanden, was man auf
Erden vermißte. Das Paradies ist eine
Utopia. Dante hat eine solche zweimal
entworfen, in seiner „Monarchie“ und
in der „Komödie“. Das erstemal er¬
wartet er ihre Verwirklichung auf Er¬
den, das anderemal verlegt er sie als
entsagungsvoller Christ ins Jenseits.
Goethes Arbeiten zur Morphologie. 1 )
Von Adolph Hansen.
Seit dem Jahre 1904, wo ich einige
k'eine Aufsätze im Goethejahrbuch
(1904 und 1906) erscheinen ließ, habe
ich mich stets von neuem mit Goethes
Naturforschung, besonders seinen bo¬
tanischen Arbeiten beschäftigt und im
Jahre 1907 eine größere Arbeit über
Goethes Metamorphose der Pflanzen
veröffentlicht. 2 ) Ich verdanke die¬
ser Beschäftigung nicht nur die be¬
friedigendsten Stunden stiller Tätigkeit,
sondern eine so vielseitige Förderung
des geistigen Ausblickes durch die Hin¬
führung auf andere Gebiete, daß ich,
ohne jede Schwärmerei für Goethe, die¬
sen Umgang mit seiner Hinterlassen¬
schaft mit dem Gefühl geläutertster
Dankbarkeit empfinde. Diese Stimmung
1) A.Hansen, Goethes Morphologie. (Meta¬
morphose der Pflanzen und Osteologie.) Ein
Beitrag zum sachlichen und philosophischen
Verständnis und zur Kritik der morphologi¬
schen Begriffsbildung, Gießen 1919, A. Tö-
pelmann.
2) Goethes Metamorphose der Pflanzen
mit 9 Tafeln von Goethe und 19 Tafeln
vom Verfasser. Gießen 1907, A. Töpelmann.
und der Austausch darüber mit den
Gelehrten des Goethehauses und Goethe¬
archivs in Weimar hat es dann gefügt,
daß ich mich mit an der Aufstellung
von Goethes naturwissenschaftlichen
Sammlungen dort beteiligen durfte, und
dadurch in längst gewünschter Weise
einen realistischen Einblick in die Art,
wie Goethe naturwissenschaftlich zu ar¬
beiten pflegte, empfing.
Wenn ich, um Goethe als Natur¬
forscher zu beleuchten, nochmals Aus¬
kunft üb'er ein schon früher behandel¬
tes Thema zu geben mir erlaube, so ist
das damit zu begründen, daß trotz
früherer sorgfältiger Untersuchung de¬
ren Resultate noch immer nicht in die
botanischen Fachkreise eingedrungen
sind, weil bei diesen die Beschäfti¬
gung mit historischen oder philosophi¬
schen Arbeiten fast ganz aus der Mode
gekommen ist und dem uneinge¬
schränkten Empirismus Platz gemacht
hat. So findet der Goethefreund und
-forscher auch in der neueren Botanik
8 *
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PRINCETON UNIVERSITY
1
231 Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie 232
immer noch die für den Einsichtigen
längst abgedroschenen Meinungen über
Goethes Metamorphose, weil man dort
den Wandel der Kritik gar nicht beach¬
tet hat. Durch den störenden Eindruck
des immer wieder sich vordrängenden
Veralteten und nach der Regel, daß
kein Baum auf den ersten Hieb fällt,
wurde ich gedrängt, noch einmal Goe¬
thes Morphologie, welche die Meta¬
morphose der Pflanzen und die Osteo¬
logie enthält, kritisch zu behandeln,
noch nicht völlig gelösten Fragen nach¬
zugehen und ihre Lösung endgültig
zum Abschluß zu bringen. Man wird,
wenn man jene beiden oben bezeichne-
ten Aufsätze mit der jetzigen Arbeit
vergleicht, keine Änderung der Beur¬
teilung, wohl aber eine befriedigende
Klärung bemerken. Es wurde dabei aber
auch ein allgemeineres Ziel erstrebt,
nämlich über in der heutigen Botanik
übliche morphologische Anschauungen
und Begriffe und deren Berechtigung
Aufklärung zu geben. An die Bearbei¬
tung der Pflanzenmetamorphose schloß
sich ein Ausblick auf Goethes osteolo-
gische Arbeiten, namentlich seine Un¬
tersuchung über den Zwischenkiefer,
über die, wegen der geringen Beteili¬
gung der heutigen Anatomen an Goethe¬
studien, gleichfalls noch immer wider¬
sprechende Meinungen umlaufen. 3 ) Diese
Untersuchungen Goethes mit*in mein
Bereich zu ziehen, wurde ich wesent¬
lich veranlaßt durch ein merkwürdiges
Buch eines Holländers namens Kohl-
brugge, welches an Goethes naturwis¬
senschaftlichen Studien kein gutes
Haar läßt, Goethes Charakter in der
auch sonst von seinen Gegnern geüb¬
ten Weise verdächtigt und den leben-
3) Auch hier madit sich ein ganz beson¬
ders erfreulicher Umschwung durch die Ar¬
beiten von W. Lubosch bemerkbar. (Vgl.
Goethejahrbuch 1919.)
den Goetheforschern so anzügliche Be¬
hauptungen vorsetzt, daß eine Ignorie¬
rung dieses bedauerlichen Literatur¬
denkmals nicht gut möglich erscheint.
Da Herr Kohlbrugge Metamorphose
und Osteologie nebeneinander kritisiert,
um die gänzliche Wertlosigkeit dieser
Leistungen zu beweisen, konnte ich
nicht umhin, für beide Themata die ge¬
genteiligen Beweisstücke vorzulegen.
Das Interesse an Goethes Metamor¬
phosenlehre und an der Feststellung,
welche Bedeutung ihr zukommt, er¬
klärt sich sehr einfach daraus, daß
diese Hypothese noch heute, um den
Ausdruck des angesehensten botani¬
schen Morphologen der Gegenwart
K. Göbel zu benutzen, „die wichtigste
Grundlage der Morphologie bildet".
Über die Notwendigkeit und Bedeu-
deutung der Metamorphosenlehre
herrscht daher heute kaum ein Streit,
was daraus erhellt, daß auch didak¬
tisch jedes moderne Lehrbuch der Bo¬
tanik von dieser Hypothese, zur Er¬
läuterung und Übersicht der Pflanzen¬
organisation, ausgeht. (Vgl. z. B. K. Gö¬
bel, Organographie der Pflanzen,
2. Auflage.) 4 )
Meinungsverschiedenheiten sind da¬
gegen vorhanden über Goethes Origi¬
nalität und Eigentumsrecht an dieser
Hypothese sowie über deren philo¬
sophische Grundlagen, denn es behaup¬
tet, seitdem Schleiden diese Frage zu
erst auf die Tagesordnung setzte, eine
spätere Literatur wiederholt, der Ge¬
danke stamme von Kaspar Friedrich
Wolff und von Linnö und sei keine
4) Nur ganz selten trifft man noch auf
die Ansicht, daß es keine Metamorphose
äbe und z. B. die Teile der Blüte von vorn¬
erein als solche angelegt würden, also
Staubgefäße und Fruchtblätter aus Anlagen
eigener Art hervorgingen. Diese Ansicht
ist aber durch Tatsachen leicht abzufertigen
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PRINCETON UNIVERSI
233
234
Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie
naturwissenschaftliche, sondern eine
bloß transzendentale Idee.
Würde es sich nun um eine auch nur
geringe Anteilnahme jener beiden For¬
scher an dem Goetheschen Gedanken
handeln, so wäre eine Einigung sehr
leicht, denn bekanntlich sind auch an¬
dere große Gedanken in der Wis¬
senschaft bei mehreren Forschern auf¬
getaucht. Erinnern wir nur an das Ge¬
setz der Erhaltung der Energie, dem
Robert Mayer, Joule und Helmholtz
zur Anerkennung verhalfen, oder an
WaJIace und Darwin, an die Begrün¬
der der Pflanzenanatomie Malpighi
und Grew und andere, immer zusam¬
men in der Geschichte der Wissen¬
schaft genannte Namen. Aber dießehaup-
tung, K. F. Wolff und Linn6 hätten die
Metamorphosenlehre vor Goethe aus¬
gesprochen, womit Linn&s Priorität von
selbst hinfällig würde, da Wolff ihm
vorausging, sind gänzlich falsch und
unhaltbar, und vollständigen Irrtum
kann die Wissenschaft nicht bestehen
lassen. Bei K. F. Wolff handelt es sich
um eine nur scheinbar ähnliche Ansicht,
denn Wolffs Gedanke der Organbil¬
dung ist ein ganz anderer wie der
Goethes, ist vielmehr als Gegensatz
zu Goethes Ansicht von einigen Ver¬
tretern der neueren Botanik wieder auf¬
gefrischt worden, ohne jedoch in sei¬
ner Notwendigkeit bestätigt zu werden.
Goethe faßt, wie auch die neue Bo¬
tanik fast allgemein, die Entstehung
gewisser Pflanzenorgane, z. B. der Blü¬
tenteile, und solcher Organe, die man
nicht bei allen Pflanzen findet, wie die
Ranken des Weinstockes und der Legu¬
minosen u. a., die Knospenschuppen, die
knolligen Wurzeln und Stämme (z. B.
Kohlrabi) usw. als Umwandlungen
(Metamorphosen) von Laubblättern,
Sprossen und Wurzeln auf, d. h. von in
dieser ursprünglichen Form bei allen
höheren Pflanzen angelegten Grund-
organen. Dadurch wird es verständ¬
lich, wie eine Pflanze, die im Samen nur
einen aus Wurzel, verkürzter Sproß-
achse und Keimblättern bestehenden
Keim (Embryo) besitzt, während von
allen später auftretenden Organen, na¬
mentlich auch den Blüten, im Samen
keinerlei Anlage zu sehen ist, dennoch
alle diese Organe später, oft erst, wie die
Blüten bei vielen Bäumen, nach vielen
Jahrzehnten, dennoch erhalten kann, um
ihren Lebensaufgaben nachzukommen.
Die Pflanze ist also bei ihrem ersten Er¬
scheinen ein noch ganz unvollkommen
ausgerüstetes Lebewesen. Sie entfaltet
zuerst die wenigen ihr im Keim ver¬
liehenen Ernährungsorgane und wenn
sie später Fortpflanzungsorgane (Blü¬
ten), Kletterorgane (Ranken), Speicher¬
organe (Wurzel- und Stammknollen.
Zwiebeln) braucht, so gewinnt sie diese
durch Umwandlung ihrer primären
Organe: Stengel, Blatt, Wurzel.
Dem Leser mag die Hypothese zu¬
nächst gar nicht als ein so umwäl¬
zender Gedanke erscheinen, weil sie
bei dem heutigen Bildungsstande so
überaus einleuchtend ist. Ihre Bedeu¬
tung tritt aber sogleich besser hervor,
wenn man sie mit den damals über
die Organbildung herrschenden Ansich¬
ten vergleicht. Tatsachen über Aus¬
bildung der Organe kannte man so gut
wie gar nicht, Linn6 wußte nichts dar¬
über, wie ein Blatt, wie eine Blüte an
der Pflanze entsteht. Man stellte
sich bloß vor, daß alle Pflanzen
schon für unendliche Generationen vom
Schöpfer im voraus geschaffen (prä-
formiert) seien und in unsichtbarer
Kleinheit ineinander geschachtelt schon
im Samen steckten und sich nun in
Äonen als Pflanzen auseinander ent¬
wickelten, also nach und nach zum
Vorschein kämen. Diese „Präforma-
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236
Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie
235
tionstheorie“ war eine reine Erdich¬
tung und wurde durch keine einzige
Tatsache gestützt, daher konnte sie
denn K. F. Wolff durch bloße mikro¬
skopische Beobachtung widerlegen, die
ergab, daß die Organe anfangs gar
nicht vorhanden waren, sondern durch
völlige Neubildung, nach seiner Mei¬
nung aus ungeformter Substanz, ent¬
stünden. Eine Neubildung war zwar
richtig, aber nicht im Sinne der Theoria
generationis von Wolff, die sich als
unrichtig erwiesen hat, Goethes Hypo¬
these dagegen gab den Anstoß zu ge¬
nauerer Beobachtung, nachdem man
auch bessere Mikroskope, als sie K. F.
Wolff zu Gebote standen, hergestellt
hatte. Man entdeckte dabei, daß die
Neubildung in der Weise stattfindet,
daß die Organe, Blätter, Sprosse, Blü¬
tenteile usw., nicht aus ungeformter
halbflüssiger Masse, wie Wolff sich
vorgestellt hatte, sondern aus Zel¬
len oder einfach gestalteten Zellgrup¬
pen, die man Anlagen nennt, ihren
Anfang nehmen. Auf diesem Wege be¬
obachtete man nicht nur die Bildung
der Anlagen zu den verschiedenen Or¬
ganen, sondern auch in manchen Fällen
eine vollständige Umwandlung der Form
während ihrer Entwicklung: die Meta¬
morphose. Später wurde dann außerdem
die Metamorphose auch auf experimen¬
tellem Wege von Göbel und anderen
Forschern künstlich hervorgerufen und
damit Goethes Hypothese besser bewie¬
sen. Das eingehendere Studium von
K. F. Wolffs kaum mehr gelesener la¬
teinischer Abhandlung hat ergeben,
daß die in der Botanik verbreitete Mei¬
nung, es käme Wolff eine Priorität in
der Metamorphosenlehre zu, vollständig
unhaltbar ist. Der Gedanke, den er an
seine Beobachtungen knüpfte, ist ein
ganz anderer wie der Goethesche, so
daß eine Priorität Wolffs nur existiert
für eine heute von wenigen Botanikern
vertretene Ansicht, die man als Diffe¬
renzierungstheorie bezeichnet hat.
Wolff, von seiner mechanischen
Theorie der Entwicklung, die er erdacht
hatte, ausgehend, glaubte mit dem Mi¬
kroskop beobachtet zu haben, daß die
Blätter und Blütenteile der Pflanzen
anfangs zähflüssige Tropfen wären, die
erst später zu Organen gewissermaßen
erstarrten; eine vom heutigen Stand¬
punkt der Kenntnisse ganz unvollkom¬
mene Vorstellung, die niemals recht
angenommen, heute ganz verlassen ist.
Wolff hatte nun wohl bemerkt, daß die
Blütenteile an derselben Stelle ent¬
stünden, wo sonst Blätter entstehen
können, und nahm an, daß der zähflüs¬
sige Bildungsstoff in diesem Falle
durch freilich unbekannte Umstände
so modifiziert werde, daß an
Stelle von Blättern Blütenteile dar¬
aus würden. Da er nicht angeben
konnte, worin die Modifikation bestehe,
suchte er die stoffliche Verwandtschaft
beider Organkategorien dadurch ver¬
ständlich zu machen, daß er die Blü¬
tenteile „modifizierte Blätter“ nannte,
was eine bloß logische Bezeichnung,
aber keine Hypothese ist. Es war also
nach seiner Meinung an der Stelle von
Blättern aus einem veränderten Stoff
etwas ganz anderes entstanden. Von
einer Umwandlung von Organen
ist bei Wolff keine Vorstellung vorhan¬
den, weshalb er auch den Begriff der
Metamorphose gar nicht benutzt. Es
handelt sich auch bei Wolff nicht um
eine Umwandlung, sondern von vorn¬
herein um einen vollständigen Ersatz
eines Organs durch ein anderes: nicht
um Metamorphose, sondern um Stell¬
vertretung (Substitution). Ursache der¬
selben war eine vorausgehende, aber
bloß hypothetisch angenommene Än¬
derung der Zusammensetzung des Bil-
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PRINCETON UNIVERSIT
dungsstoffes, der einmal zu Blättern,
das andere Mal zu Blütenteilen unter
Bläschen- und Gefäßbildung erstarrte.
Es ist also leicht einzusehen, daß der
Gedanke Wolffs ein ganz anderer ist
als der Goethes, der annimmt, daß von
Anfang an als Blätter angelegte Or¬
gane bei der Blütenbildung allmählich
eine Zustandsänderung erleiden, welche
zu einer Formänderung, und zwar zum
Zwecke einer Funktionsänderung führt.
Ein Blatt bildet sich z. B., nachdem es
als Blatt entstanden, wenn es die an¬
dere Aufgabe, als Klammerorgan zu
dienen, übernehmen soll, zu einer fa¬
denförmigen Wickelranke um. Auch
Goethe setzt als Ursache dieser Umbil¬
dung stoffliche (chemische) Verände¬
rungen voraus, die aber innerhalb der
schon determinierten Organanlage statt¬
finden, nicht bloß vorhergehende Ände¬
rungen einer Bildungsflüssigkeit be¬
deuten.
Wollte man nun auch einen leisen
Anklang an Goethes Metamorphosen¬
lehre mit Mühe herausfinden, indem
man hervorhebt, daß nach Wolff die
Sproßachse ursprünglich blattbilden¬
den Saft aus scheidet 5 ), aber auch blü¬
tenbildenden Saft ausscheiden k a n n, so
stimmt das nur überein mit der von
einigen heutigen Botanikern noch geteil¬
ten Ansicht, daß die Organe von vorn¬
herein picht determiniert sind, aber nicht
mit dem Gedanken einer nachträglichen
Metamorphose. Auch wäre Wolffs An¬
sicht immer noch eine ganz unvoll¬
ständige Hypothese, denn er hat sich
außer mit der Begründung der Ent¬
stehung der Blütenteile an Stelle von
Blattern, mit den anderen ebenso wich¬
tigen Organmetamorphosen gar nicht
5) Wolf bezeichnet die Organbildung am
Vegetationspunkt ausführlich als „Excre-
tion“.
befaßt, was Ursache von Widersprü¬
chen geworden ist. Goethe hat sich von
Anfang an auch mit der Metamorphose
der Vegetationsorgane befaßt. Auch
hat Goethe seine Lehre durch Aus¬
dehnung auf die Kryptogamen zu einer
umfassenden, für die heutige Botanik
brauchbaren Hypothese gemacht. Davon
finden sich bei Wolff keine Andeutun¬
gen.
In der Prioritätsfrage scheidet also
Wolff vollständig aus, und die Meta¬
morphosenlehre, wie wir sie heute ha¬
ben, ist Goethes alleiniges Eigentum.
Goethe selbst ist aber der Möglichkeit,
daß man einen Anklang an seinen Ge¬
danken bei Wolff finden möchte, da¬
durch mehr als ausreichend gerecht
geworden, daß er Wolff als seinen
trefflichen Vorarbeiter bezeichnet hat,
nachdem er ihn nachträglich kennen
gelernt hatte. Goethes Kritik der
Wolffschen Ansichten ist außerordent¬
lich treffend.
Daß auch Linnö einen Anteil an der
Metamorphosenlehre haben sollte, ist
wesentlich darauf zurückzuführen, daß
Linnö das Wort Metamorphose benutzt
hat, aber in einem ganz anderen Sinne.
Seine diesbezüglichen Ansichten sind
längst als völlige Erdichtungen von
der Wissenschaft verlassen worden.
Trotzdem glaubte man einige inLinnös
Schriften zerstreute aphoristische latei¬
nische Sätze so deuten zu dürfen, daß
sie zu Goethes Metamorphose passen.
Diese Deutungen sind aber irrtümlich
und willkürlich und neuerlich z. T. von
Dilettanten in der Botanik, z. B. dem
Schriftsteller Chamberlain, ausgegan¬
gen, der zur Begründung dieser An¬
sicht einige leicht zu widerlegende Au¬
toritäten anführt. Da schon früher von
mir im Goethejahrbuch 1904 Linnfes
Anspruch ausführlicher besprochen ist,
sind die Wiederholungen Chamber-
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239
240
Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie
lains ganz überflüssig und fallen vor
einer fachmännischen Kritik zusammen,
was ich in der hier zugrunde liegen¬
den Arbeit nochmals ausgeführt habe. 6 )
Bei der übertriebenen Einschätzung
Linnfes wurde es eine Zeitlang Mode,
bei ihm in zweideutigen Sätzen mo¬
derne Gedanken aufzuspüren, sogar
sollte er endlich ein Vorläufer Darwins
sein, obwohl dieser wie Lamarck sich
gerade gegen Linn6s Ansicht von der
Entstehung der Pflanzenarten gerichtet
hatte. Solche Versuche finden unter
wissenschaftlichen Dilettanten gern An¬
hänger, die sie dann vertreten. Schon
1870 hat der hervorragende Botaniker
Hugo von Mohl gegen solchen Verderb
ernster Forschung Protest eingelegt.
Linn6s Talent und Verdienste liegen
auf einer ganz anderen Seiten dem Ge¬
biet der Nomenklatur und Systematik,
und diese werden ihm bleiben. Der Ver¬
such, ihn nachträglich auch zum Bio¬
logen zu machen, beruht darauf, daß
man nicht eingesehen hat, daß da, wo
Linn6, z. B. in seinen Dissertationen, bio¬
logische Tatsachen behandelt, es sich
gar nicht um biologische Forschung,
sondern um bloße Klassifikation be¬
kannter biologischer Tatsachen handelt.
So klassifiziert er die Gallen, die Knos¬
pen, ohne im mindesten biologische Be¬
obachtungen zutage zu fördern. Der von
Linn6 für die ihm unerklärliche Ent¬
stehung der Blüten an der belaubten
Pflanze benutzte Ausdruck „Metamor-
phosis“ hatte einen ganz anderen Sinn.
Er war ein bloßes Bild, indem Linnfe die
Blütenentstehung mit der Metamorphose
der Insekten verglich und dabei die
Pflanze als Larve, die Blüte als das
Insekt auffaßte, eine ganz künstliche, die
6) Vgl. auch Naturw. Wochenschrift N. F.
Bd. 18 Nr. 47. „Die Lebenswege H. St. Cham-
berlains und die Naturwissenschaft.“
Erkenntnis in keiner Weise fördernde
Meinung. 7 )
Daß die Metamorphosenlehre Goethes
nicht, wie von einigen philosophisch
ungeschulten Autoren behauptet wurde,
eine bloße leere Begriffskombination
von rein logischer Bedeutung, sondern
eine sachlich und erkenntnistheoretisch
wohl begründete naturwissenschaftliche
Hypothese ist, habe ich in meiner Ar¬
beit ausführlich begründet. Hier würde
eine Wiederholung zu viel Raum erfor¬
dern, statt deren führe ich lieber die aus
der Untersuchung mit unumstößlicher
Sicherheit erlangten Resultate in eini¬
gen kurzen Sätzen an:
1. Goethes Metamorphose ist eine
wissenschaftliche Hypothese, die zu
einer richtigen Auffassung der Bedeu¬
tung der Organbildung im Pflanzen¬
reich geführt hat. Wäre sie eine bloße
Fiktion, so könnten durch sie keine neuen
Erfahrungstatsachen aufgefunden wor¬
den sein, was in umfassendem Maße
der Fall gewesen ist.
2. K. F. Wolff kann zwar mit Goethe
als ein trefflicher Vorarbeiter bezeich¬
net werden, aber eine Priorität in be¬
zug auf die Metamorphosenlehre nicht
in Anspruch nehmen. Seine Beobach¬
tungen der Blattanlagen sind unrichtig,
da er die Anlagen für flüssige Tropfen
hielt. Außerdem ist er nur auf die Blü¬
tenteile eingegangen und hat sie als
7) Geradezu weltfremd klingt die Be¬
hauptung in einem 1919 erschienenen Buche
von H. Glück (Blatt- und Blütenmorpholog.
Studien), daß unsere derzeitige Auffassung
der Blüte als Metamorphose einer Laub¬
knospe auf Decandolles Örganographie Bd. I
S. 489 zurückgehe. Daß ein deutscher Bota¬
niker Goethes Metamorphose und die Lite¬
ratur darüber ganz unbeachtet läßt, ist um
so auffallender, als Decandolle an der zi¬
tierten Stelle (Bd. I S. 488 deutsche Obers.
1828) ausführlich genug angibt, daß ihm
Goethe, Röper, Tujpin und R. Brown in
der von ihm selbst „teilweise angedeu¬
teten“ Auffassung vorangegangen seien.
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241
Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie
„modifizierte Blätter" bezeichnet, was
eine bloße logische Beziehung bedeu¬
tet. Auch hielt er die Staubgefäße irr¬
tümlich für veränderte Knospen. Goe¬
thes Hypothese nahm die reale Um¬
wandlung der Organe an und be¬
schränkte sich nicht nur auf die Blüte,
deren Teile er alle als veränderte Blät¬
ter ansah, sondern umfaßte auch alle
Vegetationsorgane, Sprosse, Wurzeln
und Blätter, und er dehnte auch seine
Ansicht auf die Kryptogamen aus, stellte
also die Hypothese in demselben Um¬
fange auf, wie sie heute noch gilt.
3. Falsch ist die Behauptung einiger
Schriftsteller, Goethe habe den Gedan¬
ken der Metamorphose und die Be¬
zeichnung von Linn6 übernommen.
Linn6 hat den Ausdruck selber aus dem
17. Jahrhundert anderen Forschern ent¬
lehnt. seine eigene Metamorphosen¬
theorie, die ausschließlich für die Blüte
Geltung haben konnte, ist eine bloße
Erdichtung einer Ähnlichkeit von Pflan¬
zen mit Insekten und hat mit Goethes
Lehre von der Umbildung der Organe
zu anderen Lebenszwecken nicht das ge¬
ringste gemein.
4. Es gibt nur eine Metamorphosen¬
lehre, die von Goethe, welche die heu¬
tige Botanik fast unverändert übernom¬
men hat, die Differenzierungstheorie
mancher Botaniker ist überhaupt keine
Metamorphosenlehre.
5. Die Notwendigkeit der Metamor¬
phose im Pflanzenreich kann man da¬
mit begründen, daß durch bloße Um¬
wandlung Energie erspart wurde und
außerdem absolute Neubildung für uns
unbegreiflich wäre. Wenn uns ein
Haus oder eine Maschine nicht mehr
genügen, reißen wir sie nicht ein, son¬
dern bauen sie um und verändern sie,
wodurch Energie und Material gespart
wird. Sind audh Naturvorgänge und
menschliche Handlungen nicht das¬
242
selbe, so können wir doch nach diesem
Prinzip das Vorhandensein der Meta¬
morphose verständlich machen.
Wenn man sich nun in Goethes Meta¬
morphosenlehre vertieft, so ergibt sich,
daß das Interessante nicht nur in der
historischen Beziehung liegt, sondern
in dem Zusammenklang von Goethes
grundlegenden Gedankengängen mit
den Begriffsschöpfungen und -Opera¬
tionen der heutigen Botanik. Hat sich
auch die Sprache der Naturwissen¬
schaft stark geändert und sich in einer
nicht immer erfreulichen Terminologie
von dem Mittel des Symbolisierens un¬
abhängiger gemacht, so finden wir bei
Goethe nicht nur einen Maßstab des
Fortschrittes* sondern auch einen An¬
trieb zur stets erneuerten Kontrolle un¬
serer Erkenntniskräfte und unserer Aus¬
drucksweise, um zu erkennen, daß wir
dennoch gar nicht von ihm so verschie¬
den verfahren, wie es den Anschein
haben könnte. Wie sollte es auch an¬
ders sein, da die Probleme, welche
dieser merkwürdige Geist selbständig
oder mit anderen zusammen angriff,
noch immer dieselben und noch im¬
mer ungelöst sind. Ich konnte nachwei-
sen, wie wenig man in der Metamor¬
phosenlehre in 129 Jahren über Goethe
hinausgekommen ist. Es sind zwar na¬
mentlich von Göbel und Klebs eine
Reihe interessanter neuer Tatsachen der
Metamorphose entdeckt worden, aber
theoretisch und in bezug auf eine che¬
mische Kausalität ist man nicht weiter
gelangt als Goethe. Wenn man in mo¬
dernen botanischen Handbüchern liest,
man fasse die Metamorphose jetzt im
Gegensatz zu Goethe real auf, so han¬
delt es sich in dieser Darstellung um
einen erkenntnistheoretischen Irrtum.
Daß die Umwandlung eines Organs
in ein anderes zum Zwecke neuer Funk¬
tion eine reale ist, war Goethe ebenso
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. PRINCETON UNIVERSITY
243
244
Adolph Hansen, Goethes Arbeiten zur Morphologie
klar wie den heutigen Botanikern,
denn dieser Vorgang verläuft in vielen
Fällen vor unseren Augen. Daß aber
das Substrat der Umwandlung, die An¬
lage, ein schon determiniertes Organ
ist, ist heute noch genau so Hypothese
wie bei Goethe. Das kann auch nicht
anders sein, weil z. B. ein Blatt als An¬
lage noch gar nicht als solches be¬
stimmt an konstanten Merkmalen zu er¬
kennen ist. Daß aber eine Blattanlage
schon Blattcharakter hat, ist dennoch
keine willkürliche, sondern eine berech¬
tigte hypothetische Voraussetzung, weil
bei manchen anderen Organanlagen, z. B.
Wurzeln und Sprossen, schon frühzeitig,
d.h. in der Anlage, der bestimmte Organ -
Charakter hervortritt. Damit wird die
Ansicht, daß alle Organanlagen indiffe¬
rent seien, und sich aus ihnen bald dies,
bald jenes entwickeln könne, ohne daß
eine Metamorphose stattfände, gänzlich
unwahrscheinlich und kann auch nicht
für die Blätter besonders gelten. Goethe
hat diese Ansicht schon als unwahr¬
scheinlich abgevviesen. Ebendeshalb, weil
auch die Umwandlung der Organe in¬
einander noch immer einen hypotheti¬
schen Charakter besitzt, braucht man da¬
für lieber das Wort Metamorphose, als
Ausdruck für eine wissenschaftliche
Hypothese, welche die realen Tatsachen
zusammenfassen soll. —
Goethes Osteologie und seine Bedeu¬
tung als Naturforscher sind in einem
zweiten Abschnitt des hier angezeigten
Buches behandelt in der Form einer
gründlichen Widerlegung der 1913 er¬
schienenen Schrift des Holländers J. H.
F. Kohlbrugge: „Historisch-kritische
Studien über Goethe als Naturforscher.“
Der Raum verbietet, dies umfangreiche
Kapitel hier auch nur im Auszuge wie¬
derzugeben. Das Resultat ist eine völlig
begründete Ablehnung der Ansichten
und leeren Behauptungen Kohlbrugges,
was auch mit einer von Lubosch erschie¬
nenen Antikritik zusammenstimmt. Ich
kann hier auch nicht auf die umfangrei¬
chen kritischen und historischen Zu¬
sätze eingehen, welche meiner Arbeit
beigefügt sind und zur Klärung von Fra¬
gen über Begriffsbildung in der Botanik
und von geschichtlicher Auffassung der
Entwicklung der Morphologie beitragen
können. Doch möchte ich, um den Cha¬
rakter der Arbeit noch hervorzuheben,
das Schlußwort hier abdrucken.
„Es handelt sich hier nicht darum
schließlich auszurufen: „Zurück zu
Goethe!“ O. Meyerhoff stellt am Schluß
eines Vortrages (über Goethes Methode
der Naturforschung 1910, S. 49) die
Sache so dar, als ob ein solcher Ruf
von Naturforschern ausgegangen sei.
Nachweise fehlen. Mir ist davon nichts
bekannt. Wir sind in der Tat in der
Technik der Untersuchungsmethoden
wie in theoretischer Behandlung in den
Naturwissenschaften so weit über
Goethe hinausgekommen, daß jener Ruf
nur ein Lächeln hervorrufen könnte.
Andererseits glaube ich für die Meta¬
morphose deutlich gemacht zu ha¬
ben, daß man in der logischen und
theoretischen Behandlung dieser Frage
nicht über Goethe hinausgekommen ist.
Man könnte nun meinen, Goethes Be¬
deutung und sein Ruhm seien so groß,
daß es nicht darauf ankomme, ob auch
seine naturwissenschaftlichen Studien
Bedeutung besitzen und ob er auch Na¬
turforscher zu nennen sei. Aber darum
handelt es sich hier nicht, sondern um
die Bekämpfung einer Literatur, die zu
falschem Denken erzieht. Was Natorp
am Schluß seines Vortrages „Uber Pla¬
tons Ideenlehre“ (S. 32) von der fal¬
schen Beurteilung dieses Genius sagt,
gilt fast wörtlich von der Beurteilung
Goethes durch unklare Geister. Wie
Natorp sehe auch ich in der Geistesge-
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PRINCETON UNIVERSI^j^
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
246
schichte nicht „den Kirchhof, wo auf
jedem Stein zu lesen steht: Gewesen
— verwest!“, sondern erblicke gleich¬
falls in ihr das Mittel zur „Aufer¬
weckung des Geistes, der lebt und le¬
bendig macht“.
So glaube ich hier nicht bloß eine
Literaturkritik geliefert zu haben, son¬
dern vor allem den Beweis, daß das
Studium Goetheschen Denkens auch
für unser heutiges wissenschaftliches
Urteil fruchtbringend ist und eine „Auf¬
erweckung des Geistes“ zum Aufsu¬
chen richtiger Wege der Erkenntnis
bedeutet. In seltener Weise hat Goethe
die Gabe besessen, das Problem der
Allgemeinheit zu erfassen und Allge¬
meines und Einzelnes in Einklang zu
bringen. Hier liegt auch eine Haupt¬
schwierigkeit in der Naturwissenschaft,
zumal in der Biologie, und so kann
Goethe in der Lösung „des Konfliktes
des Denkens und der Anschauung"
wenn nicht Lehrer, doch Führer und
Befreier sein, wie er sich einmal selbst
genannt hat. Denn er hat in allen sei¬
nen theoretischen Schriften nicht bloß
als Metaphysiker, sondern immer an der
Hand der Erfahrung seine Schlüsse ge¬
zogen (vgl. W. A. II 6, S. 348 ff.). Wer
sich mit Goethes Naturforschung be¬
schäftigt, wird das Befreiende seines
Einflusses nicht leugnen können.
Könige und Skalden in der Heimskringla.
Von Felix Niedner.
• l.
Die Heimskringla, die Geschichte der
norwegischen Könige, von dem islän¬
dischen Staatsmann, Gelehrten und
Skalden Snorri Sturlassohn ist für die
Kenntnis der Kultur des alten Nordens
von ebenso großer Bedeutung wie die
etwas ältere Geschichte des SaxoGram-
maticus über die dänischen Könige
Weit aber übertrifft Snorri jenen Histo¬
riker durch die Gediegenheit seiner wis¬
senschaftlichen Forschung und die pla¬
stische Gestaltungskraft seiner Darstel¬
lung. Der weite Blick und die beson¬
nene Kritik, mit der dieses Werk ent¬
worfen, der frische Wirklichkeitssinn
und die strenge Wahrheitsliebe, mit der
es ausgeführt ist, sichern Snorri seinen
Rang als Historiker. Als Künstler zeigt
ihn der schmucke isländische Sagastil,
in dem er sein Königsbuch schrieb.
Durch ihn wirkt es im Vergleich mit
der Lateinschriftstellerei der mittelal¬
terlichen Geschichtsliteratur wie eine
unterhaltende Lektüre.
Snorri lebte von 1178—1241, also
zur Zeit der staufischen Kaiser in
Deutschland. Daß er als Isländer da¬
mals ein norwegisches Königsbuch ver¬
faßte, ist kein Zufall. Beide Länder,
Norwegen und Island, waren, nachdem
ein Teil des Norwegervolkes am Ende
des 9. Jahrhunderts sich abgezweigt und
auf Island einen neuen Staat gegründet
hatte, stets in Fühlung miteinander ge¬
blieben. Das Mutterland hatte sich, als
Harald Schönhaar dort nach Karls des
Großen Muster den Einheitsstaat ge¬
gründet, etwa vierthalb Jahrhunderte
lang unter großen Königen neben den
Nachbarreichen Schweden, Dänemark
und England zu einer politischen Macht
entwickelt. Das Isländervolk hatte es im
gleichen Zeiträume zu hoher geistiger
Kultur gebracht. Es war zum ersten
Literaturvolk des alten Nordens gewor¬
den. Die wechselvollen Vorgänge, un-
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247
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
248
ter denen sich die Ansiedler auf der
fernen Insel zum selbständigen Volke
auswuchsen, die mannigfachen für die
Isländer oft ruhmvollen Ereignisse auf
ihren häufigen Kriegs- und Handels¬
fahrten ins Ausland hatten ihr Selbst¬
gefühl mächtig gesteigert. Alle diese
Erlebnisse klangen wider in der klas¬
sischen Prosaerzählung ihrer Saga und
in den kunstvollen Liedern ihrer Skal¬
den.
Der norwegische Königshof behielt
für die Isländer eine dauernde Anzie¬
hungskraft. Von dort kamen die neuesten
und interessantesten Nachrichten aus der
Welt. Dort verdiente sich der junge Is¬
länder mit Vorliebe im Königsdienst die
ersten kriegerischen Sporen. Dort end¬
lich fand der Skalde den ausgiebigsten
Stoff und Lohn für seine Preislieder. So
spielten die norwegischen Könige auch
frühzeitig eine große Rolle in der hei¬
mischen Sagaerzählung. Umgekehrt war
der vornehme Isländer in Norwegen
stets eine willkommene Erscheinung. Sie
wurde zum Ereignis, wenn ein berühm¬
ter Skalde dort eintraf, denn diese Män¬
ner, die oft zu Freunden und Ratgebern
des Königs auf stiegen, trugen in der von
ihnen damals ausschließlich gepflegten
Liedkunst den Ruhm Islands in alle
nordischen Lande. Das norwegische
Interesse am Isländervolk, das sich bei
einigen Herrschern fast zu einem per¬
sönlichen Freundschaftsverhältnis stei¬
gerte, hatte indes doch auch einen po¬
litischen Hintergrund. Man hoffte auf
die Wiedervereinigung der Insel mit
dem Mutterlande. So eng sich aber die
Isländer auch sonst in allem mit diesem
verbunden fühlten, jeden Angriff auf
seine staatliche Selbständigkeit hatte
das freiheitliebende Volk, selbst einem
so angesehenen Herrscher wie Olaf dem
Heiligen gegenüber, stets abgelehnt.
Zu Snorris Zeiten hatten sich die Ver¬
hältnisse in Norwegen und auf Island
wesentlich geändert. In Norwegen
herrschte nach dem Aussterben des alten
im Königsbuch behandelten Königsge¬
schlechtes der aus Ibsens Kronpräten¬
denten bekannte König Hakon der Alte.
Unter ihm schien das Reich in engerer
Fühlungnahme mit den andern damals
im Zeichen des Rittertums stehenden
europäischen Ländern vor einer neuen
Blüte zu stehen. Island aber, dessen
Literatur damals durch die schriftliche
Inventarisierung seiner alten Sagas und
Skaldenlieder Weltruf bekam, ging po¬
litisch seiner Auflösung entgegen. Die
vornehmsten Geschlechter des Freistaa¬
tes, die oligarchisch die Gewalt an
sich gerissen hatten, befehdeten sich ge¬
genseitig im Bürgerkriege und mach¬
ten es König Hakon leicht, die alten
Ansprüche der norwegischen Könige
auf Island zu erneuern.
Snorri entstammte dem angesehen¬
sten und geistig regsamsten jener Ge¬
schlechter, dem der Sturlunge, in des¬
sen kriegerische Händel der friedfertige
Mann zeit seines Lebens verwickelt
war. Dies und seine langjährige ver¬
mittelnde politische Tätigkeit für die
Unabhängigkeit seines Vaterlandes am
Hofe König Hakons und daheim als
Gesetzessprecher der Insel verhüteten
schon, daß er, der gelehrteste Mann sei¬
ner Zeit, Buchgelehrter blieb.
Den Grund zu seiner umfassenden
Gelehrsamkeit hatte Snorri in dem al¬
ten Gelehrtensitze Odde in Südisland
gelegt. Er hatte dort vor allem die
Schriften des ein Jahrhundert älteren
Vaters der isländischen Geschichte, Ari
Thorgilssohn, kennengelernt, die später
den Ausgangspunkt und den ständigen
kritischen Gradmesser für sein Königs¬
buch abgaben. Auf Borg in Westis¬
land, dem Sitz seines Ahnen, des grö߬
ten Skalden aus der Blütezeit des Frei-
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249
250
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
Staates, Egil Skallagrimssohns, hatte er
dann dessen Geschichte aufgezeichnet.
Sie führte ihn schon in die Anfänge der
norwegischen Königsgeschichte, hatte
ihn aber auch die Bedeutung der alten
Skaldenlieder als historische Quelle er¬
kennen lassen. Er hatte dann in sei¬
nem Skaldenlehrbuch, der sogenannten
jüngeren Edda, die Eigenart dieser
Gedichte, die in einer formprächti¬
gen mythendurchtränkten Bildersprache
wahre und lebensvolle Gegenwart spie¬
gelten, bis in ihre kleinsten Finessen
aufgedeckt und, obwohl selbst ohne
tiefere dichterische Anlage, durch sein
formvollendetes Preislied auf König
Hakon und dessen Mitregenten, Jarl
Skule, den Ruhm des besten Skalden
seiner Zeit erworben. Seine staatsmän-
nische Wirksamkeit am Königshof und
später daheim, obwohl sie auf die
Dauer nicht von Erfolg gekrönt war
und dem vaterlandsliebenden Manne
schließlich sogar das Leben kostete,
hatte doch seinen politischen Blick für
die alte Königsgeschichte und die Ver¬
gangenheit seines Volkes; die vielfach
ähnliche Verhältnisse wie die Gegen¬
wart zeigten, geschärft. In ausgedehn¬
ten an den Königsbesuch angeschlos¬
senen Reisen in Norwegen und Schwe¬
den hatte er den Schauplatz seines
Werkes genau studiert und sein histo¬
risches Wissen an Ort und Stelle aus
mündlichen Informationen ergänzt.
Dies alles kam ihm zustatten, als er
endlich in der ruhigsten und glücklich¬
sten Zeit seines Lebens, in den Jahren
1220—1230, auf seinem Herrensitz
Reykjaholt, wo er damals das Leben
eines begüterten gastfreien bäurischen
Grandseigneurs führte, seinen Schrei¬
bern in die Feder diktierte.
Aus den kunstlosen Biographien über
einzelne Könige und den reizlosen
chronikarti^en Gesamtdarstellungen der
Königsgeschichte in Schriften vor und
zu seiner Zeit hat Snorri sein einheit¬
lich gegliedertes und künstlerisch ab¬
gerundetes Werk geschaffen. So sehr
er aber auch, hierin unterstützt durch
seine politischen Erfahrungen, in der
nüchternen Wertung von Menschen und
Zuständen der Vergangenheit den oben¬
erwähnten Ari sich zum Muster nahm,
in der Technik seiner Darstellung ist
er, nach dem Vorbild der alten Saga,
weit über jenen hinausgegangen. Un¬
beschadet der zielsicher angelegten und
pragmatisch durchgeführten Haupthand¬
lung hat er es verstanden, in oft weit¬
abschweifenden Episoden durch fes¬
selnde Kulturgemälde das allgemeine
Zeitbild zu beleben und zu vertiefen.
Er hat die auftretenden Personen nicht
nur in ihrem Handeln klar und sicher
gezeichnet. Er vervollständigt ihr Cha¬
rakterbild gern durch scharfzuge-
spitzte Dialoge, ja weitausgesponnene
Reden in ihrem Munde, so daß sie le¬
bendig. als wären sie Kinder der Ge¬
genwart, vor uns erscheinen. Einen ähn¬
lichen künstlerischen Eindruck ruft die
oft wörtliche Einfügung der alten als
historische Quelle verwerteten Skalden¬
strophen in uns hervor.
Im Gegensatz zu den nordischen
Ländern und England fehlt es bei uns
an einer vollständigen Übertragung von
Snorris Werk. Diesem Mangel will das
Sammelwerk Thule 1 ) abhelfen. Im fol¬
genden soll nur an dem Bilde des König¬
tums und des Skaldentums, wie es
Snorri in der Heimskringla zeichnet,
eine Vorstellung von ihrer Eigenart und
der ihres Autors gegeben werden.
2 .
Als erste festumrissene Gestalt tritt
im Königsbuch der Begründer des Ein-
1) Altnordische Dichtung und Prosa.
Jena 1911 ff., Eugen Diederichs. Snorris
Königsbuch, Bd. 14—16.
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
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heitsstaates, der aus Fontanes schöner
Ballade bekannte Harald Schönhaar,
hervor. Auf dem Siegeszuge dieses
südnorwegischen Kleinfürsten durch
das ganze Land sehen wir seine selbst¬
bewußte Energie, aber auch, besonders
in den fesselnden Kämpfen in Hardan-
ger und Sogne den zähen Widerstand
der einzelnen Landschaften, deren
Kleinkönige sich dem neuen Joch nicht
beugen wollen. Schon nach der Un¬
terwerfung der mächtigen Drontheimer
Gaue im Norden aber hatte Harald in
der Verfassungsänderung den zweiten
entscheidenden Schritt zum Einigungs¬
werk getan. Ein festgefügter Lehnsstaat
entsteht. Die größeren und kleineren
Gaufürsten, die Jarle und Hersen, wer¬
den Vasallen des Königs. Die bis dahin
freien Groß- und Kleinbauern dürfen
ihre Erbgüter nur als königliches Lehen
behalten. Auf dem neuen Feudalwe¬
sen baut sich die Heeresverfassung
auf. Allerorten im Lande entstehen kö¬
nigliche Herrensitze, und Königsvögte
ziehen überall auf diesen Krongütern
Steuern und Abgaben ein. Haralds See¬
sieg im Bocksfjord bei Stavanger im
Jahre 872 vollendet das Einigungswerk.
Die widerstrebenden Elemente verlas¬
sen das Land. Islands Geschichte be¬
ginnt. Der König aber erweitert die
Macht des Reiches auch nach außen.
Er zieht ostwärts bis Schweden und
nach Westen bis zu den britischen Ei¬
landen.
Der Staatsgründer ist jedoch kein
Staatserhalter. Des Königs zahlreiche
Söhne, deren Mütter den verschieden¬
sten norwegischen Landschaften ent¬
stammen, blieben, in den Sonderinter¬
essen ihrer Heimat aufgewachsen, dem
Einheitsgedanken fremd. Ihr Hader mit
dem Vater, untereinander und mit den
Lehnsleuten des Königs schafft unun¬
terbrochene innerpolitische Wirren.
Ihrem Machthunger nachgebend, ver¬
leiht ihnen der König den Königstitel
und beschränkte königliche Rechte. So
entsteht aus Haralds eignem Ge-
schlechte das Kleinkönigtum, das der
Einheitsstaat überwinden sollte, aufs
neue, und der Grund wird gelegt zu
dem verhängnisvollen Kronprätenden-
tentum, das fortan das ganze Königs¬
buch hindurch dem Staatsgedanken
entgegenwirkt.
Keiner von des Königs Nachfolgern
wahrt die unbestrittene Königsmacht.
Der kriegstüchtigste, Erich Blutaxt, fin¬
det die Anerkennung seiner zahlreichen
Brüder nicht und endet als Verbannter
nach langwierigen Wikingerkämpfen in
England. Glücklicher ist Harald Schön¬
haars Lieblingssohn. Hakon der Gute.
Aber auch er kann die Zufriedenheit
des Volkes nur durch Wiederfreigabe
der von seinem Vater beschlagnahmten
bäurischen Erbgüter erkaufen, und nur
die Vermittlung des ihm befreundeten
klugen Drontheimer Jarls Sigurd schützt
ihn vor offener Opposition des Vol¬
kes gegen seine Christianisierungspläne.
Vollends kritisch wird die Lage, als
nach seinem Tode in der Schlacht bei
Fitje die Königsherrschaft an Erich
Blutaxts Sohn Harald Graumantel über¬
geht. Sein und seiner Brüder grausames
und engherziges Regiment, dessen Pä-
den die staatskluge, aber ränkesüchtige
Königin-Mutter Gunnhild leitet, und
dem der volksfreundliche Jarl Si¬
gurd zum Opfer fällt, lassen den Wi¬
derstand gegen die neue Lehre und die
Selbständigkeitsbestrebungen der Dront¬
heimer Gaue, wo das Heidentum am
tiefsten wurzelte, ständig wachsen.
In dieser Zeit, wo der Glanz von
Harald Schönhaars Königshaus zu ver¬
bleichen schien, stieg der Stern von
des ermordeten Jarl Sigurds Sohn, Ha-
kons des Mächtigen, leuchtend empor.
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
Zwanzig Jahre des Interregnums hin¬
durch ist dieser kriegstüchtige, vor al¬
lem aber staatskluge und verschlagene
Mann, ohne den Königstitel zu führen,
tatsächlich -der Herrscher in Norwegen
gewesen. Am Königshofe in Dänemark,
bisher dem Halt und der Stütze Harald
Graumantels und seiner Brüder, wo
Hakon nach dem Tode seines Vaters
in der Verbannung lebte, bereitete er
durch fast machiavellistische Umtriebe
seinen schrittweisen Aufstieg vor. Ha¬
rald Graumantel, unter der Maske der
Freundschaft an den Königshof ge¬
lockt, findet dort durch Hakon seinen
Untergang. Die andern Brüder besiegt
dieser in Norwegen. Er selbst nimmt,
formell als Vasall des Dänenkönigs,
Besitz vom Reiche. In Wirklichkeit
vertritt er kraftvoll nach außen die
Interessen seiner Heimat. Noch einmal
muß er die widerwillige Rolle des Va¬
sallen spielen, als er im Gefolge des
Dänenkönigs am Danewirke gegen Kai¬
ser Otto II. von Deutschland ficht. Ob¬
wohl selbst siegreich, muß er, da der
Feldzug ungünstig für den Dänenkö¬
nig endet, mit diesem das Christen¬
tum annehmen. Aber schon auf der
Rückkehr nach Norwegen setzt er in
den götländischen Schären die mitge¬
nommenen christlichen Priester aus.
Das Volk jubelt ihm zu. Er gebietet da¬
heim über sechzehn Jarle. Den Höhe¬
punkt seines Ruhmes erreicht er, als
er die gefürchteten Seekrieger von Joms-
burg, die von ihrem Wikingernest an
der pommerschen Küste zur Eroberung
Norwegens ausgesegelt waren, in einer
glänzenden Seeschlacht schlägt und den
Ruf ihrer Unbesiegbarkeit vernichtet.
Diese Popularität hat sich, der allmäch¬
tige Mann durch Willkürherrschaft im
Lande später selbst zerstört, ja er fand
durch die erbitterte Bevölkerung, deren
Frauen er zu ^nahe trat, schließlich
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selbst den Tod. Snorri läßt sich durch
das allgemeine Verdammungsurteil
über Hakon wegen dieser letzten Zeit,
das kirchlicher Eifer sicher förderte,
seinen unparteiischen Blick als Forscher
nicht trüben. Er läßt in seinem Urteil
der Bedeutung dieses ungekrönten Kö¬
nigs von Norwegen, der in seiner real-
politischen Anlage von keinem späte¬
ren Herrscher übertroffen wurde, alle
Gerechtigkeit widerfahren.
Der eigentliche Held in diesem ersten
Bande des Königsbuches ist doch Olaf
Tryggvissohn. Mit der ihm eigenen
Kunst, gegensätzliche Erscheinungen
auch in der Darstellung scharf und n -
wirksam zu kontrastieren, hat Snorri
ihn, den Urenkel Harald Schönhaars
aus einer südnorwegischen Linie des
Geschlechtes, schon wiederholt im Hin¬
tergründe von Jarl Hakons Geschichte
auftreten lassen. Ohne seinen Vorgän :
ger in der Herrschaft zu kennen, focht
Olaf gegen jenen als Wikinger auf sei¬
ten Kaiser Ottos II. Während dann Ha¬
kon nach Aussetzung der christlichen
Priester den alten Heidengöttern im
Lande prächtige Opferfeste veranstal¬
tet, empfängt Olaf nach Wikingerfahr¬
ten in Frankreich und England auf den
Sdllyinseln die Taufe und die Weis¬
sagung seiner künftigen Herrschaft in
Norwegen. Und in der Zeit, wo der
große Jarl in einem Schweinestall, wo¬
hin er sich vor seinen Verfolgern ge¬
flüchtet, ein unrühmliches Ende findet,
landet Olaf Tryggvissohn als König im
Lande seiner Väter.
Während Olaf Tryggvissohn die po¬
litische Zusammenfassung des Rei¬
ches, nachdem die Sympathie des Vol¬
kes für seinen großen Vorgänger auf
ihn übergegangen war, verhältnismä¬
ßig geringe Schwierigkeiten bereitete,
mußte er für die Christianisierung Nor¬
wegens alle Kräfte seiner energischen
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
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und weltklugen Persönlichkeit einset-
zen. Am leichtesten gelang ihm im Sü¬
den, wo er an dem alten Königtum sei¬
nes Vaters einen Anhalt hatte, durch
harte Strafen der Widerspenstigen das
Bekehrungswerk, am schwersten im
Norden bei den Drontheimer Bauern,
wo schon früher weder Hakons des
Guten Milde noch Harald Grauman¬
tels Schroffheit Erfolge erzielt hatten.
Erst nachdem er durch weit angelegte
listige Machinationen die Schürer der
Aufstände dort als Geiseln in seiner
Hand hat, kann er es ohne Widerstand
wagen, auf dem Opferfeste der Bauern
deren Rädelsführer Eisenskeggi nieder¬
hauen zu lassen und die heidnischen
Götterbilder eigenhändig zu stürzen.
In Snorris Charakteristik von Olaf
Tryggvissohn treten seine körperlichen
und geistigen Vorzüge, die den Zeit¬
genossen imponierten, scharf hervor.
Ein eigentümlicher Zauber, der in sei¬
nem Wesen lag, kam ihm, namentlich
bei der Behandlung der freiheitlieben¬
den Großen im Lande und der vorneh¬
men isländischen Besucher, die er für
das Christentum gewinnen wollte, oft
zustatten. Anderseits! schufen ihm die
Schattenseiten seines Charakters, Hang
zur Grausamkeit und gelegentliche Un¬
fähigkeit, sich im Jähzorn zu meistern,
manchen Mißerfolg in seiner Herrscher¬
tätigkeit und manche persönliche Feind¬
schaft. Die brutale Art, wie er gegen
die stolze Schwedenkönigin Sigrid,
weil diese das Christentum nicht an¬
nehmen wollte, in deren eignem
Lande auftrat, zerstörte nicht nur das
so geschickt im Interesse Norwegens
eingefädelte Projekt einer Heirat mit
dieser. Sigrid bringt später nach ihrer
Vermählung mit dem Dänenkönig
Svend Gabelbart die gefährliche feind¬
liche Koalition gegen ihn zustande, der
pr im Jahre 1000 in der Seeschlacht
l>ei Svold an der pommerschen Küste
erlag.
Als äußeres Zeichen seiner Macht er¬
richtet Olaf Tryggvissohn unfern Lade,
dem Sitz der Drontheimer Jarle, die
Königsburg am Nid. Aus dem Han¬
delsplatz dort blüht die spätere Stadl
Nidaros, das heutige Drontheim, em¬
por. Des Königs größter Stolz aber
ist der „Langwurm“, das prächtigste
Drachenschiff seiner Zeit. Wir sehen
es unter Hand eines kunstfertigen Bau¬
meisters entstehen. Wir erfahren alle
Einzelheiten seiner Einrichtung und Be¬
mannung. Um dies Königsschiff und
später auf ihm spielt sich der Entschei¬
dungskampf bei Svold ab, bis es nach
König Olafs Fall eine Beute des grö߬
ten seiner Feinde, des aufsässigen Dront¬
heimer Jarls Erich, wird. Die Schilde¬
rung dieser Schlacht ist eine Perle
Snorrischer Erzählungskunst. In einer
Art Teichoskopie werden uns die Geg¬
ner des Königs vorgeführt. Aus ihren
bewundernden Gesprächen entfaltet
sich vor unsern Augen das heranse¬
gelnde prächtige Geschwader König
Olafs. Dieser selbst mustert vom Lang¬
wurm aus die Gestalten seiner Feinde
Spott und Hohn fällt aus seinem Munde
auf die ruhmredigen Schweden- und
Dänenkönige, die auch tatsächlich spä¬
ter im Angriff versagen. Höchst an
erkennend äußert er sich über den spä¬
teren Sieger, Jarl Erich, und dessen
Leute. „Das sind Norweger wie wir
Die werden uns zu schaffen machen.“
Wie schon in der Geschichte Hakons
des Mächtigen, so ist auch hier in des¬
sen Sohn Erich der Widersacher des
Königtums von Snorri unparteiisch ge¬
würdigt. Unvergleichlich lebensvoll tritt
uns dann der König auf seinem Flagg¬
schiff kämpfend und kampfanfeuernd
entgegen. Ein ergreifendes Bild ist es,
wie er nach dessen Enterung durch die
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Übermacht mit den letzten Getreuen
über Bord springt und in den Wellen
versinkt. Man versteht danach die
Volksstimmung, die, im Angedenken
eines solchen Herrschers den legendä¬
ren Fabeleien von seiner wunderbaren
Rettung Vorschub leistete. Der Histori¬
ker Snorri hat sie verworfen, gestützt
dabei hauptsächlich auf die gleichzei¬
tige Skaldendichtung, die auch in man¬
chem Einzelzuge Licht und Farbe für
seine Darstellung abgab. Aber mit Olafs
Tod stirbt für Snorri nicht der Königs¬
gedanke. Seine Auferstehung erfolgt in
Olaf dem Heiligen. Von Olaf Tryggvis-
sohn getauft und in wichtigen Momen¬
ten seines Lebens von ihm in Traum¬
erscheinungen beraten, ist dieser auch
im geistigen Sinne sein Nachfolger.
3.
Das Skaldentum, dessen Kunst schon
seit Anfang des 9. Jahrhunderts in Nor¬
wegen blühte, stand schon bei Harald
Schönhaar in hoher Gunst. Seine Ver¬
treter hatten einen Ehrenplatz in der
Königshalle. Sie fochten auf dem Vor¬
dersteven des Königsschiffes in der
Schlacht. Einen hohen Rang nahm
Thjodolf von Kvinnsdalen am Königs¬
hof ein. Als eine Art dichterischer Hof¬
historiograph sang er das Lied von den
Ynglingen, den sagenhaften Vorfahren
des Königsgeschlechtes in Schweden,
das für Snorris Schilderung dieser
Vorgeschichte im Eingang der Heims¬
kringla eine wesentliche Quelle abgege¬
ben hat. Als politischer Berater des
Königs erscheint er in einer für die
innere Geschichte des Norwegerrei¬
ches kritischen Stunde. Durch des Dä¬
nen Holger Drachmann Dichtung ist
das Liebesabenteuer des Königs mit
dem schönen Finnenmädchen Snäfrid
aus der Heimskringla weiter bekannt
geworden. Nachdem ihr Zauber ihn
Intemntionale Monatsschrift
den Regierungsgeschäften lange ent¬
fremdet hat, will Harald, wieder zur
Besinnung gekommen, aus Zorn über
das Geschehene seine Söhne von ihr
verstoßen. Durch seine Vertrauensstel¬
lung am Königshofe gelingt es Thjo¬
dolf, den König von diesem Schritt
zurückzuhalten und zu verhüten, daß
der Zwist im Königshause noch durch
einen besonders gefährlichen vermehrt
wird. Die Kämpfe des Königs zur
Einigung Norwegens leben für die
Nachwelt fort in den Liedern Thor¬
björn Homklofis. Sein schönstes feiert
den entscheidenden Sieg im Bocksfjord,
den der Skalde, auf dem Königsschiffe
kämpfend, selbst mit erfochten hat.
Man fühlt das Selbsterlebnis, denn von
dem ersten Erscheinen der prächtigen
Drachenschiffe und der beim Angriffe
brüllenden und die Speere schüttelnden
wolfpelzumhüllten Berserker bis zur
jähen Flucht der Feinde ist hier alles
Leben, Szene, Bewegung. Eine kühne
Realistik des Ausdrucks zeigt das Lied
In der Verhöhnung der Gegner, die sich,
den Steiß in der Luft, unter die Ruder¬
bänke verkriechen und nach der bösen
Flucht sich auf die heimische Metbank
freuen. Das dramatische Leben im Ge¬
dicht ist erhöht dadurch, daß der Skalde
die Schlachtschilderung einem von der
Wahlstatt daherfliegenden Raben in
den Mund legt, der sie im Wechselge¬
spräch mit einer ihn um Auskunft bit¬
tenden Walküre berichtet. Aber auch
bei den Gegnern des Königs blüht die
Skaldendichtung. Um seinen Vater zu
rächen, hat der Orkadenjarl Torfeinar
Halfdan Hochbein, einen Sohn des Kö¬
nigs, erschlagen. Dieser Fürst, der sei¬
nen Bauern auf den waldarmen Ei¬
landen das Torfstechen zur Feuerung
beibrachte, ein Sohn von Haralds treu¬
stem Gehilfen beim Einigungswerk,
dem Jarl Rögnvald von Möre, war
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selbst eine organisatorische Natur. Er
gab den Orkaden, nachdem der König
sich au! seinem Rachezug gegen ihn
gütlich mit ihm geeinigt, eine dem Nor-
vvegerreiche ähnliche Verfassung. Den
seelischen Eindrücken bei seinen Hän¬
deln mit dem Königsgeschlecht, dem
Zorn über seine in der Vaterrache säu¬
migen Brüder, der Genugtuung über die
Erschlagung des übermütigen Halfdan
und seiner Furchtlosigkeit vor König
Haralds Rache hat er in formschönen
epigrammartigen Strophen eine für das
Krieger- und Rechtsgefühl jener Zeit
charakteristische Fassung gegeben.
Die sonnige Zeit Hakons des Guten
und die schlimmen Tage Harald Grau¬
mantels spiegeln sich wider in den
Gedichten des mit dem norwegischen
Königsgeschlecht und isländischen Fa¬
milien verwandten letzten großen Skal¬
den in Norwegen, Eyvind Finnssohns.
Es kann kaum eine bissigere Satire
auf die Notlage des Reiches unter Ha¬
rald Graumantel geben, als wenn die¬
ser einflußreiche Mann, der noch jüngst
für ein auf alle isländischen Großen ge¬
dichtetes Preislied vom ganzen Volk
dort eine silberne Spange als Ehrenge¬
schenk erhalten hatte, im Liede klagt,
daß er dieses für Schlachtvieh und
seine Kriegspfeile für Heringe habe
veräußern müssen. Vergebens sucht Ha¬
rald Graumantel den aufrechten Mann
nach Hakons des Guten Tode in seine
Dienste zu ziehen. Sein Herz hing an
diesem Könige, den er durch sein Lied
zum Sieg bei Fitje angefeuert hatte,
dem er aber, da der Herrscher der in
der Schlacht empfangenen tödlichen
Wunde erlag, zugleich sein Totenlied
dichten mußte. Dieses schildert das
Zwiegespräch des Königs mit den hoch
zu Rosse um ihn haltenden Walküren,
die ihn zu Odin holen wollen, dann
seinen Einzug in Walhall und seinen
Empfang bei den Göttern. Trefflich ist
der kampffrohe und leutselige Herr¬
scher geschildert. Es ist gewiß Ab¬
sicht, daß ihn vor Odins Halle nicht
nur der Kriegsgott Hermod, sondern
auch der Skaldengott Bragi empfängt.
Der Gedanke ist, daß auch in Walhall
der Nachruhm dieses guten Königs von
Dichtermund gepriesen werden soll.
Inzwischen hatte schon der erste große
isländische Skalde Egil Skallagrimssohn
in einem statuaren Preislied den Ruhm
von Hakons kriegerischem Bruder
Erich gesungen, und sein Freund Einar
Schalenklang ward Herold der Taten
Jarl Hakons des Mächtigen. AuchKor-
mak ögmundssohn taucht in der Heims¬
kringla am Hofe von Hakons Vater,
dem volksfreundlichen Jarl Sigurd, auf,
Aus einer stimmungsvollen Novelle
des dänischen Dichters J. P. Jacobsen
ist jener Skalde uns in neuerer Zeit
durch seine von rastlosen Wikinger¬
kämpfen durchflochtene Liebesge¬
schichte mit der isländischen Bauern¬
tochter Steingerd nähergetreten. Hier
beleuchtet seine Dichtung die heidni¬
schen Opferfeste des freigebigen
Drontheimer Jarles.
Als geschlossenste Gestalt unter den
Skalden erscheint doch hier Hallfred
Ottarssohn aus dem nördlichen Island.
Auch dieser hatte, wie Kormak, in feu¬
rigen mit kriegerischem Spott auf sei¬
nen Rivalen durchwürzten Liedern eine
Isländerin, die schöne Kolfinna, besun¬
gen. Er hatte in der Jugend am Hofe
Hakons des Mächtigen auf diesen ge¬
dichtet. Aber das blieb alles Episode
im Leben des rastlosen Mannes. Bei
der ersten Begegnung erliegt er dem
Zauber von Olaf Tryggvissohns Per¬
sönlichkeit, der ihn schon vorher un¬
erkannt in einem gefährlichen Seesturm
aus Lebensgefahr befreit hatte. Jenes
Zusammentreffen fand auf der Straße
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Nachrichten und Mitteilungen
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in des Königs Hauptstadt Nidaros
statt. Hallfred will Skalde des Herr¬
schers werden, von dem er auf Island
so viel gehört hat. Dieser fordert ener¬
gisch sein Christentum. In scharfge¬
schliffenem Dialog, dessen Worte wie
Pfeile treffen, prallen diese eigenwil¬
ligen Charaktere aufeinander. Aber die
Einigung gelingt. Und doch hat Olaf
Tryggvissohn seinem Dichter ahnungs¬
voll richtig den Beinamen „Schlimmer
Skalde“ gegeben. Trotz der sofortigen
Taufe durch den König selbst bleibt
Hallfred innerlich Heide. Er führt die
königlichen Aufträge im Dienste des Chri¬
stentums lau aus, freit in Schweden ein
heidnisch Weib und opfert nach wie
vor heimlich den alten Göttern. Feier¬
lich muß er vor dem aufgebrachten
König in selbstgedichteten Strophen
sein Bekenntnis zum neuen Glauben
ablegen. Aber erst die letzten finden
den Beifall des Herrschers. Kein Wun¬
der, denn der Schalk hat auf die heid¬
nischen Äsen, denen er abschwört, auf
Odin, Thor und Freyja, allen Glanz
der Dichtersprache gehäuft, das Lob
Christi, zu dem er gezwungen ist, klingt
bestimmt, aber dürr und mager.
Sein Treugelöbnis als Skalde hat
Hallfred dem Herrscher doch bis zum
Tode gehalten. Er hat seine Taten ge¬
feiert von den Jugendwikingfahrten
des Königs in Ost- und Nordsee bis zu
seinem tragischen Ende in der Schlacht
bei Svold. Ein ganz persönliches Ver¬
hältnis zu Olaf trägt sein Totenlied
auf ihn. In dessen mit einer üppigen
Bildersprache geschmückten und durch
kunstvolle Stab- und Binnenreime ge¬
zierten Strophen haben sich wahrheits¬
getreuer Chronist und individuell emp¬
findender Dichter in seltsamer Weise
zusammengefunden. Nüchterne Wirk¬
lichkeit spiegeln die fesselnden Augen¬
blicksbilder aus Olafs letztem Helden¬
kampfe, kritisch werden die Gerüchte
von seiner wunderbaren Rettung ge¬
mustert. Man versteht die hohe Würdi¬
gung, die Snorri gerade der Dichtung
dieses Skalden als historische Quelle
zuteil werden läßt. Aber des Gedichtes
Seele sind doch die Gefühle des Dich¬
ters für Olaf, der Stolz über seine Ta¬
ten, die Dankbarkeit für seine Wohlta-
1 ten, der Schmerz um seinen Verlust.
1 „Sein“ König ist es, den er im Liede
I preist. Die Gestalt „seines“ Königs
stand ihm wohl auch in der Stunde
des eignen Todes vor Augen, wenn er,
der einst eifrige Heide, dort dichtete:
Nicht jäh’ End’ mich jammert’,*)
— Jung war ich scharf von Zunge —
Säh’ ich meine Seele
Sorglos nur geborgen.
Wo dereinst ich weile,
Walt's, Herrl — mflssen sterben
Doch all’ — fürcht', sonst furchtlos
Völlig, nur die Hölle. (Scbius foiRt.)
Nachrichten und Mitteilungen.
Deutsche Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts.
Fortschritte der Forschung 1914 bis 1918.*)
Die deutsche Kunstgeschichte ist nicht
in der Erforschung heimischer Kunst er-
*) Für die Überschau der jeweiligen Fort¬
schritte kunstgeschichtlicher Forschung ist
es zwedkmäßig erschienen, Zeitschriften-
und Buchliteratur, nach Gebieten und Zeit¬
abschnitten geordnet, verbunden zu be¬
sprechen. Die Red.
stärkt: sie suchte ihre Anregungen im
Ausland, sie begeisterte sich an der Kunst
Italiens und der Niederlande, und ihre
klassischen Werke — die Arbeiten Karl
Justis und Jakob Burckhardts — gelten dem
Spanier Velasquez, dem Florentiner Michel¬
angelo, der italienischen Renaissance in
2) - bedeutet den Stab-,
reim.
den Binnen-
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Nachrichten und Mitteilungen
264
ihrer Gesamtheit. Die Erkenntnis, um die
schon das 17. Jahrhundert gewußt hat, daß
„gleich Italien Teutschland sich kann sehen
lassen, kunst-bebauet, kunst-bebildert, kunst-
vermahlt“ (Quadt von Kinkelbach), die von
der Romantik mit erneuter Intensität auf-
gegrifien wurde, hat im Zeitalter eines
wägenden Historizismus vergleichsweise
spät Nachfolge gefunden. Einzelforschungen
über deutscheThemata gab es freilich immer,
obwohl sich auch hier ein deutliches An¬
schwellen während der letzten Jahrzehnte
bemerkbar macht. Dagegen fehlte es lange
an zusammenfassenden Darstellungen, die
das Phänomen der altdeutschen Malerei in
seiner allgemeinen Bedeutung zu begreifen
suchen.
1 .
Janitschek in seiner „Geschichte der deut¬
schen Malerei“ (1890) und vor ihm Wolt-
mann-Wörmann hatten sich mit im wesent¬
lichen kompilatorischen Arbeiten beschie-
den. Den ersten Versuch einer Darstellung
dessen, was die Existenz einer hochent¬
wickelten deutschen Malerei im 15. und
16. Jahrhundert für unser Volk bedeutet,
wie sich die Geschichte dieser Malerei in
den allgemeinen europäischen kulturellen
und geschichtlichen Zusammenhang ein¬
ordnet, unternahm mit glücklichem Gelingen
Ernst Heid rieh in seiner bei Diederichs
erschienenen „Altdeutschen Malerei* (1909).
Es folgt 1914 Curt Glaser („Zwei Jahrhun¬
derte deutscher Malerei“, München, Bruck¬
mann), der nicht als Kompilator arbeitet,
auch nicht als Historiker, dein die Kunst
nur eine Auswirkung des menschlichen
Geistes neben anderen ist, sondern als Kri¬
tiker, der die Monumente, die als abgelöste
verselbständigte Wesenheiten gefaßt sind,
prüft und aus ihnen den Gang der Ent¬
wicklung abliest. Die Fortschritte in der
Kenntnis der Denkmale, Daten, Tatsachen
seit der Zeit Janitscheks und Wörmanns
sind verarbeitet, neue Einzelbeobachtungen
zu bringen lag nicht im Rahmen der Auf¬
gabe. Meister und Monumente werden vor
allem als Vertreter ihrer Zeitstufe betrach¬
tet unter Hintansetzung der landestümlich
beschränkten Grenzen; durch diese neue
Art der Schichtung rücken Dinge, die sonst
fern voneinander stehen, zusammen, schein¬
bar Fremdes enthüllt gemeinsames Wollen.
Es ergibt sich jedoch aus der Art der
Fragestellung, daß das Buch mehr eine Ge¬
schichte der Kunstformen als der Persön¬
lichkeiten werden mußte, daß die Bedeu¬
tung des schöpferischen Einzelindividuums
öfters dem allgemeinen Zeitcharakter ge¬
opfert wurde. Erst im 16. Jahrhundert werden
den Gestalten porträthafte Züge eingezeich¬
net; zu Dürer und Grünewald fügen sich
Cranach, Altdorfer, Baidung; das Ganze
klingt aus in einer eindrucksvollen Gestal¬
tung des jüngeren Holbein.
Als Voraussetzung wie als Kontrolle zu¬
sammenfassender Werke dieser Art bleibt
die Notwendigkeit sorgsamer Einzelfor-
schung bestehen. Ein gutes Beispiel der
Behandlung eines räumlich abgegrenzten
Bezirks der deutschen Kunst bietet Carl
Georg Heises „Norddeutsche Malerei*
(Kurt Wolff, 1908). Der Stoff ist lokal¬
historisch gegliedert: vier etwa gleich große
Abschnitte behandeln die Tafelmalerei in
Köln, Westfalen, Niedersachsen und Ham¬
burg. Während das Kölner Kapitel sich
auf Kompilation beschränken konnte, auch
in Westfalen eine tüchtige Lokalforschung
den Weg bereitet hatte, war Heise für
Niedersachsen und Hamburg im wesent¬
lichen auf eigene Beobachtung angewie¬
sen. In Niedersachsen erschien die Schwie¬
rigkeit besonders groß: hier waren zu¬
nächst die unpräzisen, nach Heises über¬
zeugender Polemik geradezu irreführenden
Forschungen Habichts beiseite zu räumen,
ehe ein erfolgreicher Neuaufbau in Angriff
g enommen werden konnte. Die eigentliche
berraschung des Heiseschen Buchs aber
ist für das letzte Kapitel aufgespart: die
Einführung einer ganz unbekannten Künstler-
Persönlichkeit in Hinrik Funhof, dem Meister
der Flügelbilder der Lüneburger Johannes-
kirche, der in der Folge die deutsche
Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahr¬
hunderts neben dem Meister des Sterzinger
Altars und dem Meister des Marienlebens,
neben Herlin und Pleydenwurff in erster
Linie zu vertreten berufen ist. Die neuere
Literatur über norddeutsche, vor allem
hamburgische Kunst ist bei Heise lückenlos
aufgeführt.
Einen zweiten Versuch einer Gesamt¬
darstellung der Malerei des deutschen Nor¬
dens und Westens bietet der Band „Nieder¬
deutschland“ von Hermann Schmitz, er¬
schienen in dem von Burger begründeten
„Handbuch der Kunstwissenschaft* (1918).
Ober der „Deutschen Malerei“ des Hand¬
buchs steht ein Unstern. Burger starb dar¬
über fort. Nach seinem Tode wurde das
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Nachrichten und Mitteilungen
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Material in Nieder- und Oberdeutschland
gespalten; der Bearbeiter der oberdeutschen
Hälfte, J. Beth, starb gleichfalls, nachdem
er ein Heft herausgegeben hatte. So liegt
bisher nur der niederdeutsche Teil fertig
vor. Sorgsames Zusammentragen des Ma¬
terials, gewissenhafte Berücksichtigung der
Literatur, möglichst vollständige Aufreihung
der Künstler und ihrer Werke ist der
Arbeit nachzurühmen, doch scheint Schmitz
an scharfsichtiger Beobachtung und selb¬
ständigem Urteil Glaser wie Heise unter¬
legen. Es ist zu bemerken, daß, während
die beiden genannten Forscher sich in
ihrer Darstellung auf das Tafelbild be¬
schränken, Schmitz Glasmalerei und Weberei
als nahezu gleichwertige Dokumente mit¬
berücksichtigt. Neue Beiträge zur nieder¬
deutschen Kunstgeschichte bringt die „Sun-
dische und Lübecker Kunst“ von Max Paul
(Berlin 1914, B. Paul). Von fünf Altären
des Lübecker Malers Hermann Rode, die
für Schweden ausgeführt wurden, handelt
Andreas Lindblom, Nordtysk Skulptur
och Mäleri i Sverige I./II, Stockholm 1916.
Auf dem Gebiet der oberdeutschen Ma¬
lerei des 15. Jahrhunderts betätigte sich
vielfach und wenig erfolgreich MelaEsche-
rich. Ihre Studien gipfeln in dem 1916
erschienenen Buch über Konrad Witz (Stu¬
dien zur deutschen Kunstgesch. Nr. 183),
dessen Gestalt sie schon früher in allerlei
Aufsätzen umkreist hatte. Es ist das trau¬
rige Ergebnis solcher Bücher, daß sie der
ernsthaften Forschung für lange Zeit die
Lust nehmen, sich mit dem verfahrenen
Thema neu zu befassen, so daß wir auf
das korrigierende Witz-Buch voraussicht¬
lich lange werden warten müssen. Zur
Nürnberger Malerei gibt einen interes¬
santen Beitrag Hans Buch heit (Jahrb.
d. Vereins f. Christi. Kunst IV. München
1919): er weist nach, daß das Pleyden-
wurff zugeschriebene Bildnis des sog.
Kanonikus Schönbom im Nürnberger Germ.
Museum vielmehr den Grafen Georg von
Löwenstein, Domherrn zu Bamberg, dar¬
stellt (gest. 1464). Die österreichische Alpen-
kunst des späten 15. Jahrhunderts findet in
zwei Aufsätzen der Monatsh.') Beachtung:
R. W est (X, 1917, S. 238) äußert erneute
1) Die Kunstzeitschriften werden in fol¬
gender Weise abgekürzt:
Pr. Jhb. = Jahrbuch der König), preuß.
Kunstsammlungen;
Zweifel an der Identität des sog. Meisters
von Großgmain mit Rueland Frueauf, wie
mir scheint mit Recht (ich hatte im Frueauf-
Artikel des Thieme-Beckerschen Lexikons
1915 die Identitätstheorie vertreten, ohne
noch die Großgmainer Flügel zu kennen);
Heinz Braune (VIII, 1915, S. 249) bringt
wertvolle Beiträge zur Pacherforschung.
2 .
Die Bibliographie des größten Deutschen
der ausgehenden Gotik, Matthias Grünewald,
ist noch nicht alten Datums. Die Äußerun¬
gen der älteren Literatur sind spärlich und
verständnislos; erst als die neuere Kunst
bei ihrem Bemühen, sich aus der Vergangen¬
heit Ahnen zu wählen, auf den großen
Aschaffenburger „Impressionisten“ traf, trat
der Umschwung des Urteils ein. Und kaum
war die Erkenntnis von der hohen und
einsamen Stellung des Meisters uns selbst¬
verständliches Allgemeingut geworden,
kaum hatten wir geistig ganz Besitz von
ihm ergriffen, als uns das äußere Eigen¬
tumsrecht strittig gemacht wurde: der
Isenheimer Altar, das Hauptwerk Grüne¬
walds, steht nicht mehr auf deutschem
Boden. Es kann nicht wundernehmen,
daß die Abschiedsstimmung des letzten
Jahres, die leichtere Schaubarkeit der Altar¬
flügel, die für diese Zeit in der Münchener
Pinakothek ausgestellt waren, ein beson¬
deres Anschwellen der Grünewaldliteratur
zur Folge hatte: drei neue Grünewaldbücher
sind allein für 1919 zu verzeichnen, obwohl
das Tatsachenmaterial seit dem abschließen¬
den Werk von H. A. Schmid kaum Zuwachs
erhalten hat. 0. Hagen, der schon früher
durch einzelne Grünewaldartikel in der
Kunstchronik eingehende Beschäftigung mit
dem Meister bekundet hatte, sucht in
seiner temperamentvollen, liebevoll vertief-
Amtl. Ber. = Amtliche Berichte aus den
Königl. preuß. Kunstsammlungen;
Wiener Jhb. = Jahrbuch der Sammlungen
des Allerhöchsten Kaiserhauses;
Z. f. christl. K. = Zeitschrift für christliche
Kunst;
Z. f. b. K. = Zeitschrift für bildende Kunst;
Kstchr. = Kunstchronik;
Monatsh. = Monatshefte für die Kunst¬
wissenschaft ;
Rep. = Repertorium für Kunstwissenschaft;
Burl. Mag. = Burlington Magazine;
Graph. Mitt. *= Mitteilungen der Gesell¬
schaft für vervielfältigende Kunst (Graphi¬
sche Künste, Wien).
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Nachrichten und Mitteilungen
268
ten Darstellung (München, Piper) die Form
Grünewalds neu zu ergründen, die Persön¬
lichkeit zu fassen, die hinter dem Werk
steht, und kommt dabei dem historischen
Roman öfters bedenklich nahe. Aus kühnen
Ketten von Kombinationen, vor allem einer
äußerlich verblüffenden Ähnlichkeit der
Münchener .Verspottung“ mit einem Pre¬
dellenbildchen Pesellinos in Florenz, folgert
er eine italienische Reise Grünewalds und
weiß sogar die Etappen der Reise — Man¬
tua, Florenz, Rom — lückenlos aufzuführen.
Neuartig ist weiter Hägens Deutung der
meisten Handzeichnungen und der Versuch,
sie zu Gruppen zusammenzufügen und
unter verschollene Gemälde aufzuteilen.
Stark betont wird ein Zusammenhang der
Kunst Grünewalds mit der Glasmalerei. Die
zweite neue Grünewaldbiographie von A. L.
M ay er (München, Delphin-Verlag), weniger
tief schürfend, doch die allzu problema¬
tischen Kombinationen Hägens auf ein ver¬
ständiges Maß zurückschraubend, scheint
mit ihrem anregend lehrreichen Text be¬
sonders geeignet, das Verständnis des
Meisters in weitere Kreise des kunstlieben¬
den Volkes zu tragen. Ein dritter .Grüne¬
wald“ von Hausenstein (München, W.
Hirth) gibt eine Paraphrase des Isenheimer
Altars in dichterisch gehobener Sprache.
Von Einzelforschungen sei genannt ein
Aufsatz von Friedländer (Pr. Jhb. XXXIX
1918, S. 261), der neues Material beibringt:
die bedeutende Zeichnung einer Magdalena,
die aus der alten Savignysammlung in Ber¬
liner Privatbesitz überging, und die bild¬
nisartige Studie eines Mannes im National¬
museum zu Stockholm.
3.
Quantitativ ungleich reicher als die Grüne¬
waldliteratur stellt sich die Dürerliteratur
dar. Doch während die Wertung des
rätselhaften Aschaffenburgers in stetigem
Steigen begriffen ist, macht sich ein Ab¬
rücken von Dürer fühlbar; das Problema¬
tische seines Wesens wird — vornehmlich
nach Wölfflins grundlegendem Dürerwerk —
erkannt, das von der Tradition überkom¬
mene Material einer neuen kritischen Sich¬
tung unterworfen. Gute Übersicht über die
neueste Dürerbibliographie bietet ein Auf¬
satz von Pauli (Rep. XLI, N. F. VI, 1918,
Heft 1/2); erschöpfende Auskunft über die
gesamte Literatur sowie den Stand der
heutigen Forschung gibt in knappster Form
Friedländlers Dürerartikel in Thieme-
Beckers Lexikon. Von zusammenfassenden
Darstellungen seien die drei Waldmann-
schen Dürerbändchen im lnselverlag ge¬
nannt, die zu Abbildungen der Gemälde,
graphischen Arbeiten und Handzeichnungen
des Meisters einen gefällig belehrenden
Text bringen: Band 1 berichtet in fließen¬
der Erzählung von Dürers Leben, Band 2
sucht die Zwiespältigkeit seiner geistigen
Wesensart zu ergründen, das Ausmaß und
die Grenzen seiner künstlerischen Begabung
zu fassen, Band 3 gilt Dürers Form: dem
Gotiker, seiner Auseinandersetzung mit
Italien, dem bewußten Aufstieg zur neuen
Form, zum neuen Bildinhalt. Man darf
den Angaben Waldmanns auch im ein¬
zelnen trauen, die umfangreiche Literatur
ist treulich durchgearbeitet, die lästigen
Spuren des gelehrten Apparats sorgsam ge¬
tilgt. Um Neudeutungen aller Art bemüht
sich F. Haack (Funde und Vermutungen zu
Dürer und zur Plastik seiner Zeit, Erlangen
1916).
Als wichtigste Dürerpublikation der
letzten Jahre muß Panofskys Unter¬
suchung über das Verhältnis Dürers zu den
italienischen Kunsttheoretikern hervorgeho¬
ben werden (Berlin 1915, G. Reimer), eine
Grimmpreisarbeit der Berliner Universität,
die sich zu einer Gesamtdarstellung der
Dürerschen Kunstlehre auswuchs. Der
Problematiker Dürer wird mit den minder
problematischen italienischen Zeitgenossen
Lionardo und Raffael konfrontiert, und
seine praktische, dann seine theoretische
Kunstlehre eingehend untersucht. Die
perspektivischen Kenntnisse werden im
einzelnen auf Piero della Francesca, Lio-
nardo, Vincenzo Foppa zurückgeführt, das
Schönheitsproblem der Proportionsstudien
behandelt. Im Teil II des Buches wird
die theoretische Kunstlehre Dürers nach
den Problemen der Richtigkeit, der Schön¬
heit und des künstlerischen Wertes er¬
örtert. Im Schlußkapitel führt Panofsky
aus, wie Dürer von der anfänglichen An¬
nahme einer unbedingten Schönheit zur
Theorie einer bedingten Schönheit gelangt.
Der Begriff „Kunst“ wird zwanglos als
„Kenntnis“ gedeutet d. h. als theoretische
Einsicht gegenüber dem „Brauch“, der
bloßen künstlerischen Praxis. Klaiber
(Rep. XXXVIII 1916, S. 238) stellt Panofsky
gegenüber fest, daß Dürers Theorie nicht
immer konsequent geblieben sei, sondern
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269
270
Nachrichten und Mitteilungen
sich seiner Praxis öfters habe anpassen
müssen. Die Perspektive in der Kunst
Dürers im besonderen behandelt Schuritz
(Frankfurt 1919). Wätzold bringt in seiner
Untersuchung der Dürerschen Befestigungs¬
lehre (Berlin 1918, Bard) einen wertvollen
Beitrag zur Erkenntnis der Universalität des
Meisters und zeigt auf, wie Dürers bauende
Phantasie auch hier der Praxis voraus¬
geeilt ist. Die „Lehre“ enthält neben den
eigentlichen Befestigungsplänen den Ent¬
wurf einer idealen Stadtanlage innerhalb
des Mauergürtels, einen Plan, den Wätzold
prüft und in ergebnisreicher Vergleichung
mit ähnlichen Vorschlägen der italienischen
Literatur zusammenbringt. Ein abseitiges
Gebiet der Dürerforschung erzählte Gieh-
low in der „Ehrenpforte Maximilians“
(Wiener Jhb. XXXII 1915, S. 1), die ihn zu
Untersuchungen über die Hieroglyphen¬
kunde der Renaissance veranlaßt.
Die Frage nach des jungen Dürer Wan¬
derjahren ist Gegenstand einer lebhaften
Polemik geblieben: die Unsicherheit unserer
Forschung der Handschrift unseres größten
Meisters gegenüber, die sich im Hin und
Her der Meinungen äußert, kann erschrecken.
Selten hat eine kunstgeschichtlich kon¬
struierte Gestalt so viel Verwirrung ange«
richtet wie der sog. „Meister der Berg-
mannschen Offizin“ („Benediktmeister“), der
rätselhafte Doppelgänger Dürers, der wie
Dürer in Nürnberg für Koberger arbeitet,
mit Dürer zugleich in Basel und Straßburg
auftaucht, dort seinen ganz persönlichen,
vom landesüblichen abweichenden Stil ein
paar Jahre ausübt, um vor 1500 mit Dürer
nach Nürnberg zurückzukehren; das spätere
Werk des meteorhaft auftauchenden
Künstlers bleibt verschollen. In der Dar¬
stellung Stadlers (Straßburg 1913, Heitz),
die Pauli in dem zitierten Repertoriums¬
aufsatz gebührend zurückweist, hat dieser
Doppelgänger während seiner Baseler Tätig¬
keit sogar wieder einen Doppelgänger
inspiriert, auch von scheinbar kurzer Le¬
bensdauer, den sog. „Meister der hl.
Brigitte“, um dessen willen eine stattliche
Menge der Jugendzeichnungen vom Dürer¬
werk abgespalten wurde. Mit Campbell
Dodgson, der Gebetbuchholzschnitte von
1503 zuerst als Arbeiten des Benedikt¬
meisters publiziert, dann 1917 im Burl. Mag.
(XXXI, S. 46) mit vornehmer Offenheit als
möglich zugibt, „that the missing name
is »Dürer« after all“, hat die Doppelgänger¬
theorie einen ihrer gewichtigsten Ver¬
treter verloren. Es bleibt schmerzlich,
auf dieser Seite noch immer Wölfflin zu
sehen, der seine Stellung 1918 in einer
Sitzung der Münchener kunsthistorischen
Gesellschaft dargelegt hat. Um Klärung
der Frage hat sich vor allem Friedländer
bemüht (Vortrag in der Berliner kunst-
gesch. Gesellschaft vom 3. Dez. 18; Kstchr.
N. F. XXIX 1918, S. 385), um Verunklärung
u. a. Hans Cürjel (Kstchr. N. F. XXIX,
S. 417 und 504). Auch der weitere Verlauf
der Dürerbiographie ist Gegenstand von
Streitfragen geworden. Hagen (Z. f. b. K..
N. F. XXVIII 1917, S. 255) konstruiert mit
schweifender Phantasie einen Aufenthalt
Dürers in Rom und Mailand auf seiner
ersten italienischen Reise 1495 — eine Hy¬
pothese, die von Haseloff in einem über¬
zeugenden Vortrag der Berliner kunstgesdi.
Gesellschaft (14. Februar 1919) abgelehnt
wird. Dürers niederländischer Reise gilt die
prächtige Monumentalpublikation von Jan
Veth und Müller (Berlin und Utrecht 1918).
Band I stellt die Urkunden über die Reise
zusammen: das Tagebuch, die Briefe, die
Stellen bei van Mander usw., die die Reise
betreffen, werden abgedruckt und mit Noten
versehen, das Skizzenbuch und die übrigen
Arbeiten Dürers während des niederlän¬
dischen Aufenthaltes trefflich reproduziert.
Band II befaßt sich mit der Geschichte der
Reise, sucht Dürers Charakter aus dem
Tagebudi abzulesen, behandelt seine Tätig¬
keit in den Niederlanden als Künstler und
Sammler, sein Verhältnis zur niederlän¬
dischen Kunst (wobei der Einfluß, den der
Nürnberger auf die niederländischen Zeit¬
genossen geübt hat, leider ein wenig zu
kurz kommt), seine Beziehungen zu nieder¬
ländischen Gönnern und Freunden (Statt¬
halterin Margarete, Erasmus von Rotter¬
dam usw.).
Zu der Reihe der Selbstporträts Dürers
fügt Roh (Rep. XXXIX 1917, S. 10) mit
scharfer Beobachtung die Federzeichnung
eines Männerakts im Weimarer Mus. (um
1499). Pauli stellt in der Z. f. b. K. (N. F.
XXVI 1915, S. 69) die Bildnisse der Dü¬
rerin zusammen. Die Porträts von Dürers
Vater behandelt Conway im Burl. Mag.
(XXXIII 1918, S. 142). Dürers Porträtzeich¬
nung im British Mus., die bisher „Hof¬
haimer“ hieß, wird nach Analogie mit dem
weisenden Mann auf dem Provostdiptychon
des Brügger Museums, in dem Conway das
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271
Nachrichten und Mitteilungen
172
Selbstportrat Provosts erkennt, gleichfalls
als „Provost“ gedeutet.
Von Einzelstudien Ober DQrersche Ge¬
mälde sei zuerst Friedländers Publikation
eines neuen Dokuments erwähnt (Z. f. b. K.
N. F. XXV1I1 1917, S. 131): das Bild, eine
hl. Familie, tauchte in Lissabon auf und
gelangte in Berliner Privatbesitz; es trägt
volle Bezeichnung und das Datum 1509.
Für den Kopf der Maria lag eine Natur¬
studie vor, die Dürer später noch einmal
für die Wiener .Madonna mit der Birne“
verwandt hat. Von negativen Resultaten
der Gemäldeforschung seien die Darlegun¬
gen von Kehrer und Zimmermann (Z. f.
b. K. N. F. XXVII 1916, S. 163 u. 228,
XXVIII 1917, S. 204) genannt, die noch ein¬
mal bestätigen, daß das einst so populäre
Kruzifixustäfelchen der Dresdener Galerie
endgültig aus dem Dürerwerk gestrichen
werden muß. Mit allzu strenger Krilik
scheint die neuere Forschung dagegen die
.grüne Passion* zu verfolgen. Cürlis’
Attacke gegen die Echtheit der Blätter (Rep.
XXXVII 1915, S. 183) wird durch Pauli
(Rep. XXXVIII 1916, S. 97) überzeugend
entkräftet. Neue Funde auf dem Gebiet
der Dürerzeichnungen waren — in
Anbetracht des scheinbar zum letzten
durchsiebten Materials — nicht selten:
Friedländer publiziert (Pr. Jhb. XXXVII
1916, S. 99) eine übersehene Zeichnung aus
den Beständen des Berliner Kupferstich-
kabinetts, ein Urteil Salomonis aus der
venezianischen Periode zwischen 1506 und
1508, und läßt dabei die Möglichkeit offen,
daß es sich um eine flüchtige Notiz nach
dem Fresko Giorgiones am Fondacho dei
Tedeschi handelt. Pauli (Z. f. b. K. N. F.
XXV1914, S. 105) führt die Federzeichnung
eines Pferdes von 1503 im Kölner Wallraf-
Richarz-Mus. vor, die als Kopie eines
lionardesken Entwurfs an die Spitze der
Dürerschen Proportionsstudien zum Pferde¬
körper zu stellen ist. Andere Funde bringen
Seck er (Z. f. b. K. N. F. XXIX 1918, S. 177),
Baumeister (Pr. Jhb. XXXV 1914, S. 224),
Römer (Rep. XXXIX 1917, S. 219). Eine
Reihe von Blättern, meist Neuerwerbungen
des British Mus., zeigt im Burl. Mag.
Dodgson, dessen erfolgreiches Bemühen
um die Erkundung altdeutscher. Kunst sich
weder durch Krieg noch durch Propaganda
aller Art hat beirren lassen. Am wichtigsten
erscheint die Knabenzeichnung eines Tur¬
niers von 1489 (Samml. Sir Th. Lawrence;
XXVIII 1915/16, S. 7); weiter das Studien¬
blatt der niederländischen Reise in Wilton
House (XXX 1917, S. 231). Die reiche Kom¬
position der .ehernen Schlange“ (XXVIIJ.
S. 213) dürfte hie und da auf leise Zweilei
stoßen; auf deutlicheren Widerspruch die
Kostümstudie (ebd. S. 49). Eine Zusammen¬
stellung von Dürerzeichnungen (München,
Piper) wird durch die Einleitung Wölfl¬
lins auf ein ungewohntes Niveau ge¬
hoben; Jaro Springer begleitet 50 Bild¬
niszeichnungen mit wehrhaften Worten
(Berlin 1915, Bard). Ober die Graphik wurde
insonderheit viel gehandelt: den Stand¬
punkt unserer Zeit zu .Dürers Bilddruck*
erläutert zusammenfassend ein Vortrag
Friedländers (kunsthistor. Gesellsch.
Nürnberg, Sept. 1918). E. Tietze-Conrat
gibt Beiträge zur Deutung einiger Stiche
(Z. f. b. K. N. F. XXVII 1916, S. 263), beson¬
ders einleuchtend die Kombination des
sog. .Meerwunders“ mit der Ovidischen
Fabel von Achelous und Perimela. Hagen
(Kstchr. XXVIII 1916/17 Sp. 453) vermutet,
daß der Schlafende im .Traum des Doktors*
Dürers Freund Pirkheimer wiedergeben
soll. Ähre ns handelt vom magisches
Quadrat der .Melancholie“ (Z. f. b. K. N. F.
XXVI 1915, S. 291), Schillings vom Stich
der .vier Hexen“ (Rep. XXXIX1917, S. 129).
Völliges Verkennen künstlerischer Arbeits¬
weise verrät M. Escherich in dem Ver¬
such, das Vorbild Dürers zum .christlichen
Reiter“ in einem handwerksmäßigen Ala¬
basterrelief des Germ. Mus. zu entdecken;
(Z. f. Christi. K. XXIX 1916, S. 61). Ober die
tatsächlich vorhandenen Beziehungen Dürers
zur Plastik seiner Zeit handeln Stierling
(Monatsh. VIII 1915, S. 366) und Fr. Tr.
Schulz (Mitt. d. German. Mus. 1918,S. 187).
4.
Der Dürernachfolge gilt vergleichsweise
geringeres Interesse. Hans Baidungs Werk
wurde um zwei neue Bildnisse bereichert
(Friedländer, Pr. Jhb. XXXIX 1918, S.86);
das eine, das den Sohn des Kurfürsten
Friedrich I. von der Pfalz, Ludwig zu
Löwenstein, darstellt, bedeutet eine wich¬
tige Neuerwerbung des Berliner K.-Friedr.-
Museums. Eine brauchbare Baldungbiblio-
graphie, nur leider verunziert durch die phan¬
tastisch blumenreiche Einleitung, gibt M.
Escherich; ihre Zusammenstellung wird
ergänzt durch Terey (Kstchr. N. F. XXX
1918/19, S. 257).
Insonderheit gefördert wurde unser
Dia
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3
Nachrichten und Mitteilungen
274
Wissen über den Meister, der trotz ver¬
schiedenster Identifikationsversuche vorläu¬
fig noch am sichersten nach seinem Haupt¬
werk, dem ehern. Hochaltar der St. Mar¬
tinskirche von Meßkirch, benannt wird.
Paul Ganz (67. Jahresbericht der öffentl.
Kunstsamml. in Basel, 1916) erkennt den
Entwurf zu dem Gehäuse eben dieses
Altars in einer Zeichnung des Baseler
Museums; er rekonstruiert die gesamte An¬
lage. die eine der glänzendsten derdcutschen
Renaissance gewesen sein muß, aus den
zersprengten Teilen in Meßkirch, Donau-
eschingen, München und Berlin (ehemalige
Samml. von Kaufmann); das Monogramm
M. W., das Ganz auf einem Glasscheiben-
entwurf des „Meßkirchers“ findet, löst er in
Marx Weiß auf, den Namen eines Stadt¬
malers von Balingen (vgl. auch Sauer und
Feurstein, Z. f. christl. K. XXVIII 1915/16,
S. 49 und 154; Feurstein, Monatsh. X 1917,
S. 265).
Spärlich war die Ausbeute der Cranach-
forschung; nur Friedländer publizierte
eine Anzahl unbekannter Werke des
Meisters (Amtl. Ber. XXXVII 1915/16 Nr. 7
u. Z. f. b. K. N. F. XXX 1918/19, S. 81):
ein vom Berliner K.-Friedr.-Museum erwor¬
benes Männerbildnis, ein Männerporträt in
amerikanischem Privatbesitz, eine Frau in
niederländischer Tracht in der Samml.
Chillingworth zu Nürnberg, alle aus den
Jahren 1508 bis 1510, in denen Cranachs
Stil noch beweglich und schwerer zu er¬
kennen ist, als in der späteren, mehr
starren Periode. Einen in Lübeck arbei¬
tenden Cranachschüler, Hans Kemmer,
führt K. Schaefer ein (Monatsh. X 1917,
S. 1).
Beiträge zur Kunst der Donaulande
bringen Tietze (Pr. Jhb. XXXVIII 1917,
S. 95), der die sog. „ Quirinuslegende“
von St. Florian als Florianslegende um¬
deutet, und Ph. M. Halm in einem Vortrag
der Münchener kunstgesch. Gesellsch. vom
8. April 1919 über Wolf Huber. Die Darm¬
städter Madonna Hans Holbeins d. J. deutet
neuartig Ollendorf (Rep. XXXVII 1915,
S. 292) und kommt dabei auf die alte ro¬
mantische Idee von Tieck zurück, daß das
Kind auf dem Arm Mariae nicht Christus,
sondern ein krankes Kind des stiftenden
Bürgermeisters Meyer darstellt. Jessen
publiziert einen Pokalentwurf Holbeins in
der Berliner Gewerbemus. - Bibliothek (Pr.
Jhb. XXXVII 1916, S. 103).
Von Künstlern des bisher von der For¬
schung arg vernachlässigten ausgehenden
16. Jahrhunderts fanden Behandlung: der
Danziger Stadtmaler Anton Möller durch
Gyssling (Studien zur deutschen Kunst¬
geschichte Nr. 197, Straßburg 1917), die
Familie Lautensack durch Otto Zoff (Graph.
Mitt. 1917, Heft 1—3) und der heutigem Ge¬
schmack von neuem besonders entspre¬
chende Hirschvogel durch Karl Schwarz
(Berlin 1918, Bard).
5.
Mit Lautensack und Hirschvogel kommt
die Forschung bereits im wesentlichen auf
das Gebiet der Graphik. Im folgenden
seien die wichtigsten Publikationen über
die deutsche Graphik der früheren Zeit
(mit Ausnahme Dürers) aufgeführt. 1915
bringt Lehrs den dritten Textband zu
seiner grundlegenden „Geschichte des
deutschen und niederländischen Kupfer¬
stichs im 15. Jahrhundert“ heraus (Gesellsch.
f. vervielf. Kst.). Die darin behandelten
Künstler — am wichtigsten die Gruppe des
sog. „Erasmusmeisters“, den Lehrs in vier
verschiedene Persönlichkeiten spaltet —
sind insgesamt am Niederrhein um 1450
tätig. Die Berliner Graph. Gesellsch. repro¬
duziert 1914 als 19. und 20. Publikation die
deutschen Holzschnitte der Guildhall Bibi,
zu London und die Illustrationen Cranachs
zu Adam von Fulda (zuerst gedruckt 1512
in Wittenberg), 1915 als 21. Publikation Holz¬
schnitte des Berliner Kupferstichkabinetts
(Text von Kristeller). Als Jahresgabe des
Deutschen Vereins für Kunstwissensch. kom¬
mentiert 1918 Friedländer die Illustra¬
tionen zur Lübecker Bibel von 1494, das
Werk eines Niedersachsen, den man sich
als vom Süden befruchtet zu denken hat.
Schongauers graphisches Werk wird durch
Friedländer erneut besprochen und gruppiert
(Z. f. b. K. N. F. XXVI1915, S. 107): die erste
Gruppe der Stiche offenbart bei starkem
niederländischen Einfluß die Entwicklung
Schongauers vom frühen malerischen Stil zum
stecherischen, Gruppe 2 enthält die Haupt-
blätter, am originellsten in der Erfindung,
doch an stecherischer Qualität den Arbeiten
der dritten, letzten Gruppe unterlegen. Eine
Kreuzigungszeichnung des Baseler Meisters
D. S., die Vorlage zu einem Holzschnitt,
publiziert Koegler (Rep. XXXIX 1917, S. 1).
Hildegard Zimmermann bringt im Pr.
Jhb. (XXXVI 1915, S. 39 und Beiheft) wich-
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275
Nachrichten und Mitteilungen
tige Beiträge zur Kenntnis von Burgkmairs
Bilddruck: sie fand in der Bibliothek zu
Wolfenbüttel und in Stuttgart Abdrücke
aus der seltnen Burgkmairschen Holzschnitt¬
folge zur Genealogie Maximilians I. Einen
weiteren bisher unbekannten Satz der
gleichen Serie im Ashmolean Mus. zu Oxford
beschreibt Dodgson (Burl. Mag. XXVII
1915/16, S. 138); Garber (Wiener Jhb. XXXII
1915, S. 1) veröffentlicht das Haller Heiltum-
buch mit den Unika-Holzschnitten Burgk¬
mairs. Mit einem seltenen Nürnberger Druck
von 1526, den Holzschnittillustrationen von
Hans Sebald Beham zieren, macht Glaser
bekannt (Amtl. Ber. XXXVII1915/16 Nr. 12).
Eine wesentliche Bereicherung der Kenntnis
des deutschen Holzschnitts der Reforma¬
tionszeit bringt Röttinger mit dem Nach¬
weis, daß ein der Forschung seit langem
geläufiger, tüchtiger, wenn auch nicht über¬
ragender Holzschnittzeichner mit dem be¬
kannten Maler und Kupferstecher Georg
Pencz zu identifizieren ist (Leipzig 1914).
Im 186. Band der Studien zur deutschen
Kunstgesch. (Straßburg) durchprüft Röttinger
kritisch das figurale Holzschnittwerk des
Peter Flettner (Flötner) und fügt 10 neue
Nummern, zumeist Illustrationen zu Flug¬
blättern, bei. Flötners Möbelentwürfe und
darüber hinaus den maßgebenden Einfluß,
den er auf die süddeutsche Tischlerei aus¬
übte, behandelt 0. von Falke (Pr. Jhb.
XXXVII 1916, S. 121).
6.
Ein Grenzgebiet zwischen Graphik und
Kunstgewerbe wird im vergangenen Jahr
zuerst zur Diskussion gestellt: die Ton- und
Steinmodeln aus der ersten Hälfte des
15. Jahrhunderts. Bode und Vollbach
führen die von der Forschung bisher über¬
sehene Gattung in einem grundlegenden
Aufsatz des Pr. Jhb. ein (XXXIX 1918, S. 90);
die Beziehungen zwischen den Modeln und
dem Bilddruck der Zeit werden aufgezeigt
und so gedeutet, daß die Originalität des
Modelbildners gegenüber dem Stecher ge¬
wahrt bleibt: entweder erscheint die Model
als das Primäre, nach dem der Stecher ent¬
lehnt hat, oder beide stammen von dem¬
selben Urheber, der das Motiv zuerst in
Ton formte und dann auf die Platte stach.
E. Tietze-Conrat schließt sich in einer
Besprechung der Modeln in der Sammlung
Figdor (Kstchr. XXX 1919, S. 689) der Auf¬
fassung Bode-Vollbachs an. Dagegen sehen
276
H. Zimmermann und Lehrs das Ab¬
hängigkeitsverhältnis in umgekehrtem Sinne
(ebd. S. 471 und 529): nach ihnen sind die
Modeln vielmehr Kopien nach frühen Kupfer¬
stichen und entbehren jeder geistigen
Selbständigkeit. Über das kunstgewerb¬
liche Interesse hinaus zu den wesentlichen
Zusammenhängen führt ein Aufsatz von
O. von Falke: „Die Neugotik im deutschen
Kunstgewerbe der Spätrenaissance“ (Pr. Jhb.
XXXX 1919, S. 75). Um 1600 taudien in
Deutschland von neuem gotische Formen
auf, die keineswegs, wie man anzunehmen
pflegte, ein Nachschleppen alter Reminis¬
zenzen durch rückständige Elemente be¬
deuten, sondern einen bewußten neuer¬
wachenden Willen zur Gotik. Die Träger
der neuen Formen sind keine zäh am
Alten hängenden Handwerker, sondern
Künstler auf der Höhe ihrer Zeit, die am
Renaissancekönnen voll teilhaben, und
hier absichtlich archaisieren. Die Strömung
tritt gleichzeitig im Norden und Süden,
Osten und Westen Deutschlands hervor
und betrifft vor allem die Goldschmiede¬
kunst, daneben die Teppichwirkerei u. a.
* *
*
Die Fortschritte in der Erforschung
deutscher Kunst auf den Gebieten der
Malerei und Graphik sind damit in den
wesentlichen Etappen berührt, die Er¬
rungenschaften für Architektur und Skulptur
müssen einer anderen Zusammenstellung
Vorbehalten bleiben. Es sei nur kurz an¬
gemerkt, daß die Erkundung der deutschen
Bildwerke immer noch hinter der des ma¬
lerischen Materials zurücksteht; eine Ge¬
schichte der deutschen Plastik wurde seit
dem Werk Bodes (Berlin 1885, Grote) nicht
in Angriff genommen, zusammenfassende
Arbeiten über einzelne Gebiete brachten
u. a. Habich (Die deutschen Medailleure
des 16. Jahrhunderts, Halle 1916), Viktor
Roth (Siebenbürgische Altäre, Studien z.
deutschen Kunstgesch. Nr. 192, Straßburg),
Hampe(AllgäuerStudien, Mitt. d. German.
Mus. 1918/19, S. 3); Lüthgen breitet das
umfangreiche Material der niederrheinischen
Plastik von der Gotik zur Renaissance in
ungebändigter Fülle vor uns aus (Studien
z. deutschen Kunstgesch. Nr. 200, Stra߬
burg 1917). Aus der Menge der Einzel¬
studien seien hervorgehoben die vortreff¬
lich gearbeitete Adam Kraftbiographie von
Dorothea Stern (Studien z. deutschen
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Nachrichten und Mitteilungen
Kunstgesch. Nr. 191, Straßburg 1916) und
die ergebnisreichen Vischerstudien von
Stierling (Monatsh. 1915, 1917/18).
Noch ist die Fülle der Probleme auf
keinem Gebiet voll ausgeschöpft und der
Folgezeit bleibt genug zu schaffen übrig.
Es ist zu hoffen, daß mit der Anzahl auch
die Qualität der Arbeiten stetig wächst
und die deutsche Kunstgeschichte nicht
nur aushilfsweise in erhöhtem Maße zum
deutschen Thema greift, weil das Reisen zur
Zeit erschwert ist, sondern weil sie im Er¬
kunden und Ausdeuten heimischen Besitzes
ihre vornehmste Aufgabe sieht.
Berlin, Nov. 1919.
Dr. Grete Ring.
Das zweite Jahr des Nordischen Instituts der
Universität Greifswald.
Das Nordische Institut, das im Mai 1918
begründet wurde, hat seit der vorigen Jah¬
resversammlung am 4. Oktober 1918') zum
erstenmal ein volles Jahr regelmäßiger
Tätigkeit hinter sich. Vorlesungen über
Stoffe aus dem Gebiete der nordischen
Sprache und Literatur, der Geologie und
Geographie, des Rechts und der Volkswirt¬
schaft wie der Verfassungsgeschichte sind
mit sehr erfreulicher Teilnahme der Stu¬
dierenden im letzten Winter- und Sommer¬
semester gehalten worden. Ein schwerer
Schlag traf das Institut am 23. Januar 1919
durch den Tod des Professors von Un¬
werth, mit dem eine nicht gewöhnliche
wissenschaftliche Kraft, ein edler Mensch
und sympathischer Kollege ihm entrissen
wurde. Im April trat Professor Werner
Richter an seine Stelle und übernahm
auch die Geschäftsführung, die nach dem
Tode Professor von Un werths ganz in den
Händen des Unterzeichneten gelegen hatte.
Leider wurde auch Professor Richter wäh¬
rend der Herbstferien durch Berufung in
das Ministerium für Wissenschaft, Kunst
und Volksbildung erfolgreicher Tätigkeit am
Institut, hoffentlich nur vorübergehend, wie¬
der entnommen. Aber langgehegte Wünsche
wurden erfüllt, als im April nicht nur in
der Person des Dr. Norman Balk ein
Assistent dem Geschäftsführer zur Seite tre¬
ten und die Ordnung der Bibliothek des
Instituts übernehmen konnte, sondern auch
1) Siehe den damals abgestatteten Be¬
richt über die Entstehung des Instituts in
dieser Zeitschrift, Jahrg. 1918, Sp. 203 ff.
ein junger schwedischer Gelehrter, Magister
Gösta Bergman, in den Lehrbetrieb des
Instituts eintrat und im Sommersemester zahl¬
reich besuchte Kurse in schwedischer Sprä¬
che und Literatur abhielt. Durch die im
Juni erfolgte Berufung von Professor Gla-
gau in den Institutsvorstand ist die Aus¬
sicht verstärkt, daß auch die nordische Ge¬
schichte und Politik ihren Platz im Institut
finden wird, und freundliche Zusagen der
Professoren Bier mann und Jakoby lassen
hoffen, daß künftig die Volkswirtschaft noch
mehr als bisher, aber auch die Philosophie
und Pädagogik des Nordens von uns wer¬
den beachtet werden können. Eine Ergän¬
zung der geographischen Vorlesungen im
Rahmen des Instituts bot Anfang August
eine von Professor Braun geleitete Exkur¬
sion nach Südschweden und Kopenhagen,
bei welcher die hiesige Geographische Ge¬
sellschaft mit demNordischen Institut zusam¬
menwirkte. Zur Anfachung erhöhten Eifers
für das Studium der schwedischen Sprache
und Literatur dienten zwei Stipendien von
je 500 Mark, welche der schwedische
„Reichsverein für die Erhaltung des Schwe-
dentums im Auslande" stiftete mit der Be¬
stimmung, daß sie am Jahrestage des To¬
des von Professor von Unwerth für her¬
vorragende Leistungen auf dem Gebiete
des Schwedischen verteilt werden sollten.
Das Heim des Instituts im Hause Dom¬
straße 14, das ursprünglich in zwei Stock¬
werken zerstreut lag, konnte während der
Herbstferien endlich eine befriedigende Ge¬
stalt gewinnen. Ein sonniger Hörsaal, um
den sich zwei Bibliotheksräume und ein
Geschäftszimmer gruppieren, ladet alle Stu¬
dierenden und Freunde nordischer Wissen¬
schaft zum Besuche ein. Jeden Vormittag
steht auch unsere Büchersammlung der Be¬
nutzung offen. Infolge der Valutaverhältnisse
hat ihr trotz der vom Hohen Ministerium zur
Verfügung gestellten Mittel noch nicht die
wünschenswerte Vollständigkeit gegeben
werden können. Aber die Freigebigkeit nor¬
discher Behörden, wissenschaftlicher An¬
stalten und Gesellschaften, Buchhandlungen
und einzelner Gelehrter und Schriftsteller, zu
denen auch Selma Lagerlöf gehört, hat
dafür gesorgt, daß doch jedes fachliche In¬
teresse irgendwelchen Stoff zum Studium fin¬
det. Ein weites Feld der Tätigkeit bleibt aber
noch denen, welche hierin dem Institut zu
Hilfe kommen wollen. Auch ältere nordische
Literatur ist willkommen. Wenn, etwa aus
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Nachrichten und Mitteilungen
280
Nachlassen, größere Sendungen angemel¬
det werden, trägt das Institut gern die
Transportkosten. Wärmster Dank sei auch
hier allen denen ausgesprochen, welche
bisher geholfen haben.
Als Geschenkgeber seien hier genannt:
Die Finnische Gesandtschaft in Berlin, die
Topographische Abteilung des Königlichen
Generalstabs in Stockholm und in Kopen¬
hagen, das Statistische Zentralbureau in Kri¬
stiania und in Stockholm, die Universitäts¬
bibliothek in Upsala und in Lund, die Stadt¬
verwaltung in Malmö, der Dänische und
derSchwedischeTouristenverein.derSchwe-
dische Exportverein, die Technische Hoch¬
schule in Stockholm, das Geographische In¬
stitut der Universität Königsberg, die Verlags¬
buchhandlungen Wahlström & Widstrand,
A. Bonnier, P. A. Norstedt in Stockholm,
Söderberg in Helsingfors, Harrassowitz in
Leipzig, die Herren Dr. J. Bergman in
Stockholm, Professor Braun, Professor
Curschmann, Professor Dalman in Greifs¬
wald, Oberbibliothekar Hulth in Upsala,
Dr. Selma Lagerlöf-Falun, Dr. ,F. Guttman-
Breslau, Professor v.Wrangel-Lund, Erik Lie-
Kristiania.
Damit die Tätigkeit des Instituts nicht
auf dieses Heim beschränkt bleibe, ist die
Begründung einer Zeitschrift ins Auge
gefaßt, welche in gemeinverständlichen Auf¬
sätzen die nordischen Staaten vor allem in
ihrer gegenwärtigen äußeren Gestalt und
inneren Haltung in Deutschland besser be¬
kannt machen soll. Die Sorge um die An¬
fangsnöte der Zeitschrift hat eben jetzt ein
hochherziges Geschenk der .Gesellschaft
der Freunde und Förderer der Universität
Greifswald* dem Institut abgenommen. Auch
ihr gilt dafür sein verbindlichster Dank.
So darf es verheißungsvolle Anfänge ver¬
zeichnen, denen der Fortgang nicht fehlen
wird, je mehr in der akademischen Jugend
und unserem Volke überhaupt die Über¬
zeugung wächst, daß unsere Bildung un¬
vollständig ist und ihre Fähigkeit zu natio¬
nalem Wirken unvollkommen, wenn für das
Wesen, die Lage und das Handeln unserer
germanischen Brudervölker im Norden kein
Verständnis gewonnen wurde.
Der Aufgabe des Instituts, auch persön¬
liche Beziehungen im Norden anzuknüpfen,
entsprach es zunächst, daß an den Hoch¬
schulen von Upsala, Lund, Gotenburg, Ko¬
penhagen, Kristiania und Helsingfors Ver¬
treter des Instituts gewonnen worden sind
mit der Aufgabe als .Akademische Konsuln*
den dortigen Studierenden Auskunft zu
geben über die Verhältnisse an deutschen
Universitäten, vor allem Greifswalds. Da¬
gegen versprach das Nordische Institut, in
derselben Weise auf die nordischen Uni¬
versitäten aufmerksam zu machen. Da die
Valutaverhältnisse den Besuch Deutscher
im Norden gegenwärtig fast unmöglich
machen, kam Erzbischof Söderblom in Up¬
sala unseren Wünschen entgegen, als er
auf Anregung von Professor Braun sich
dafür einsetzte, daß schwedische Gastfreund¬
schaft diesen Besuch erleichtern solle. Es
ist dann den Bemühungen unseres Ver¬
treters in Upsala, des Bibliothekdirektors
Aksel Andersson, zu verdanken, daß
jetzt ein Theologe und ein Geograph in
Upsala freundliche Aufnahme gefunden ha¬
ben und zunächst während des Herbstse¬
mesters dort studieren. Ebenso ist erfreu¬
lich, daß einem Schüler Herrn von Un-
werths, Dr. de Boor, der Weg zu einem
Lektorat in Gotenburg geebnet wurde und
er dadurch die Möglichkeit zu erfolgreichen
Fachstudien auf dem schwedischen Gebiete
erhielt. Deutsche Wissenschaft wurde in
den Norden getragen, wenn Mitglieder des
Nordischen Instituts dort in Mitteilungen
aus ihrem Fachgebiet größeren Kreisen
gegenübertraten. Dies geschah durch acht
Vorlesungen, die Professor Braun in Stock¬
holm und Upsala abhielt und durch 13 Vor¬
lesungen und Vorträge, mit denen der Unter¬
zeichnete eine seit 1916 in Schweden und
Dänemark geübte Tätigkeit dieses Jahr fort¬
setzte und damit die Gesamtzahl der Vor¬
träge in 16 verschiedenen Städten (Stock¬
holm, Upsala, Oerebro, Kristinehamn, Karl¬
stad, Hjo, Skövde, Skara, Fridene, Karls¬
borg, Tidaholm, Gotenburg, Helsingborg,
Lund, Malmö, Kopenhagen) auf 50 brachte.
Mit der Vortragstätigkeit war naturgemäß
verknüpft persönlicher Verkehr mit Berufs¬
genossen, aber auch vielen anderen Per¬
sönlichkeiten aller Stände. Die skandina¬
vische Kirchenkonferenz in Stockholm und
die Zusammenkunft der Professoren von
Kopenhagen und Lund in der letzteren
Stadt brachte auch Dänen in den Bereich
dieses Verkehrs. Er sollte vor allem in
die Lücke treten, welche die von unseren
Feinden noch immer betriebene Unterbin¬
dung der Beziehungen von Nord und Süd
geschaffen hat. Dabei brachte er zur Emp¬
findung, mit welcher Wärme man in Schwe-
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Nachrichten und Mitteilungen
282
den weithin unsere Lage betrachtet und
mit welcher Sorge man wahrnimmt, daß
das politische Gleichgewicht Europas zum
Schaden aller Mittelmächte, auch der nor¬
dischen, verschoben ist. Bestrebungen sind
vorhanden, die skandinavische Kultur ro¬
manisch und angelsächsisch zu beeinflussen.
Um so wichtiger ist, daß wir wenigstens
unsererseits die alten Beziehungen zwischen
den germanischen Völkern zur Festigung
ihrer Eigenart im Gange erhalten.
Mit besonderer Freude begrüßen wir es,
wenn unser Verkehr mit dem Norden da¬
durch eine Erwiderung erfährt, daß von dort
her Vertreter der Wissenschaft zu uns kom¬
men und uns aus ihrem Studienbereich An¬
regung und Belehrung bieten. Bei der vori¬
gen Jahresversammlung hatten wir Reichs¬
antiquar Professor Dr. Montelius aus
Stockholm in unserer Mitte. Diesmal hatte
der Vertreter der Kunstgeschichte an der
Universität Lund, Professor Dr. von Wrän¬
get, der Bitte des Instituts entsprochen und
hat durch Mitteilungen aus dem Gebiete der
schwedischen christlichen Kunst und ihrer
Beziehungen zu Deutschland die Jahresfeier
gekrönt. Es ließe sich über Zukunftspläne
und Zukunftswünsche des Nordischen In¬
stituts noch manches sagen, über seine Be¬
teiligung an der Volkshochschulbewegung
unserer Tage, in deren Wesen der Unter¬
zeichnete in Schweden Einblick zu gewinnen
gesucht hat, aber auch an den praktischen
wirtschaftlichen Beziehungen zum Norden,
für welche besondere deutsch-nordische Ver¬
bände in der Gründung begriffen sind, auch
über Auskunftserteilung und Beratungen
derer, die nordische Beziehungen suchen.
Aber wir bleiben stehen bei dem, was das
letzte Jahr in sich schloß und die Gegen¬
wart bietet, und danken dem Gott, der will,
daß Menschen und Völker sich nicht be¬
feinden, sondern brüderlich einander för¬
dern, daß er bis dahin mit dem Institut ge¬
wesen ist und durch innere und äußere
Schwierigkeiten es geführt hat. Möchte das
Nordische Institut der Universität Greifs¬
wald auch weiterhin als eine Stätte und ein
Werkzeugech ten Friedens ihm dienen dürfen!
Greifswald, 24. Oktober 1919.
Geheimrat Professor Dr. D. Dr. Dal man.
Carl H. Beckers „Kulturpolitische Aufgaben des
Reiches.“ Eine amtliche Denkschrift
Wie schon mit seinen im Sommer 1919
im selben Verlage erschienenen „Gedanken
zur Hochschulreform“ macht C. H. Becker,
Unterstaatssekretär im preußischen Unter¬
richtsministerium, auch hier wieder eine
amtliche Denkschrift zur Grundlage öffent¬
licher Erörterung.
In einer kurzen „Einführung“ wird die
Frage: „Was ist Kulturpolitik“ treffsicher
behandelt. Völker mit starken nationalen
Instinkten wie die Angelsachsen, die Fran¬
zosen, auch die Russen haben die Pflege
sogenannter Kulturpolitik von Staats wegen
nicht nur grundsätzlich anerkannt, sondern
auch ganz spezifische Arten dieser Kultur¬
politik mit Erfolg geübt. Die Nordamerika¬
ner stampfen das eingewanderte Völker¬
gemisch unter dem ungeheuren Druck ihrer
großzügigen Wirtschaft ein und stempeln
es innerhalb ein bis zwei Generationen
yankeemäßig ab. Die Briten tragen wie
ihre Schiffe, so ihr Kulturideal in fernste
Zonen. Die Franzosen missionierten mit¬
tels ihrer Alliance frangaise im Orient;
die Russen durch Rubel und Ikonostase
in Asien und auf dem Balkan. Überall fand
„eine bewußte Einsetzung geistiger Werte
im Dienste des Volkes oder des Staates
zur Festigung im Innern und zur Ausein¬
andersetzung mit anderen Völkern nach
außen“ statt; an Beispielen schildert der
Verfasser die verschiedenen Formen solcher
kulturellen „Berieselung“.
Sind wir Deutsche zu einer solchen Po¬
litik mit geistigen Werten überhaupt fähig,
oder sind wir wirklich nur ein im Osten
slawisch, im Westen romanisch gemischtes
Völkergeschiebe? Haben wir, trotz schon
2000jähriger Geschichte den Normaltyp des
Deutschen noch immer nicht geschaffen?
Im alten Reich war es der fast mystische
militärische Staatsgedanke, von welchem
aus unsere Erziehung und die Struktur un¬
serer Gesellschaft ihre letzte und höchste
Prägung erhielt; und die ethischen Werte
dieses Ideales mögen auch für vergangene
Zeiten als durchaus notwendig und wert¬
voll gelten. Wir mußten eben aus Mangel
und an Stelle der formalen Volksdisziplin,
wie sie den genannten Nationen zu eigen
ist, unsern völkischen Willen für Einheit in
Form des Militarismus als eines harten
Schutzschildes gegen uns selbst und gegen
andere Völker sozusagen ausschwitzen wie
ein Weichtier seine Schalen.
In Zukunft aber gilt es ein neues eini¬
gendes Band zu suchen, das uns „über un¬
seren Stammespartikularismus, über unsere
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Nachrichten und Mitteilungen
284
konfessionelle Spaltung und über unsere
berufständische und soziale Gliederung
hinaus zum Einheitsvolk werden läßt. Nöti¬
ger wie je braucht Deutschland jetzt eine
bewußte Kulturpolitik. Und wenn der
Deutsche seiner Natur nach nicht von selbst
danach greift, so muß er eben dazu erzo¬
gen werden.“ Ein Bildungs- bzw. Schul¬
parlament, welches sich mit obigen Fragen
beschäftigen könnte, lehnt der Verfasser ab,
aber das Reich als solches muß kulturpoli¬
tische Kompetenzen erhalten, denn der Parti¬
kularismus, der kulturell soviel geleistet
hat, der aber auch die Revolution und ihre
Ausheilungsmöglichkeiten zersplitterte und
lähmte, kann nur mit geistigen, d. h. kul¬
turpolitischen Waffen überwunden werden.
Das zweite Kapitel enthält die dem Ver¬
fassungsausschuß der Nationalversammlung
vorgelegte Denkschrift über die Zuständig¬
keiten des Reiches. Von hoher Warte wer¬
tet Becker den anfänglichen, wenn auch er-
erfolglosen Einspruch der Bundesstaaten
gegen diese Zuständigkeiten, wie sie der
Hugo Preußsche Verfassungsentwurf im
Art. 4 Nr. 12 festlegte. Gerade weil die
neue Verfassung einen erheblichen Schritt
weiter zu m Einheitsstaat bedeutet, sollte nach
Ansicht der Gliedstaaten ihre eigene boden¬
ständige kulturelle Autonomie aufrechter¬
halten werden. Wo wären wir mit unserer
Kultur hingekommen, wenn nach Pariser
Muster Berlin allein ausschlaggebend ge¬
worden oder gewesen wäre? Entgegenge¬
setzt der altpreußische Standpunkt. Nicht
aus besonderer Gefälligkeit gegen die
Reichsregierung war Preußen von Anfang
an bereit, dem Reiche die gewünschten
Kompetenzen zuzugestehen, sondern weil
in Preußen der Staat all den Stämmen, die
er umfaßt, seit langem übergeordnet ist,
und so ihre Kulturen sich aneinander an¬
zugleichen gelernt haben. Nur im Rhein¬
lande regt sich unter dem Druck ausländi¬
scher Propaganda der alte Stammeskultur¬
gedanke, welcher in Süddeutschland der
natürliche Ausdruck des Kulturbewußtseins
überhaupt war und noch ist. In Preußen
war es die Bureaukratie, welche die kulturelle
Oberleitung in Händen hatte; für sie aber
bedeutet die Übertragung ihrer Kompeten¬
zen auf das Reich nur einen Gewinn. Das
kaiserliche Deutschland trieb nach außen
nichts als Wirtschaftspolitik; im Rausch
äußerer Erfolge kamen wir nicht zum Be¬
wußtsein der Unzulänglichkeit des kultu¬
rellen d. h. ideellen Unterbaues unseres
materiellen Wohlstandes. Preußen hat mit
bescheidenen Mitteln deutsche Kulturpolitik
getrieben, z. B. Institute im Ausland unter¬
halten, den Professorenaustausch, Ausgra¬
bungen und Expeditionen veranstaltet. Weis
es leistete, wurde dem Reiche gutgeschrie¬
ben. Und wenn einmal das Reich sich zu
betätigen anfing, wurde preußische Hilfe
angerufen und viele Akten tragen den Ver¬
merk „Urschriftlich dem Herrn Preußischen
Minister der geistlichen und Unterrichtsan¬
gelegenheiten zur gefälligen Äußerung oder
Erledigung.“ (Als Ref. im Kriege deutsche
Publikationen über Bulgariens Geschichte
und Kultur anregte, wandte er sich von
Sofia aus selbstverständlich in erster Linie
an dieses Ministerium.) Aber was auch
immer geschah, hält keinen Vergleich aus
mit ausländischen Vorbildern. Nunmehr
hat das deutsche Volk, politisch und wirt¬
schaftlich ausgeschaltet, im Ringkampf der
Völker nur noch seinen Ideengehalt als
Einsatz. Nicht Selbstlob und Pressepropa¬
ganda kommen da in Frage, sondern was
wir vorerst brauchen, ist Verinnerlichung.
Um diese geistige Wiedergeburt muß sich
das Reich amtlich kümmern. Und auch nach
innen, in die Gliedstaaten hinein, muß von
Reichs wegen Kulturpolitik getrieben werden.
Die Parolemuß sein: Erziehung der deutschen
Stämme zur Nation; nicht zu Chauvinisten,
sondern zum Einheitsvolk. Das Reich braucht
in Ermanglungeinermilitärischen eine ideelle
Hausmacht. Die Erziehung muß einheitlich
sein, sonst entwickeln sich die Gliedstaaten,
welche das Erziehungswerk als solches zu
vollenden haben, sei es im ultraradikalen,
sei es im reaktionären Fahrwasser, nicht zu¬
einander, sondern auseinander. Eine be¬
grenzte Reichsaufsicht, von erlesener, gro߬
zügiger Beamtenschaft geleitet, muß dies
Erziehungswerk leiten. Auch aus finanziellen
Rücksichten ist dies nötig. Das Reich hat
die größten Schulden, das Reich muß die
Macht haben, überflüssige, nur lokalpatrio¬
tisch verankerte Institute und wissenschaft¬
liche Gründungen zu verhindern; anderer¬
seits muß das Reich den Gliedstaaten helfen,
die in ihrem Rahmen notwendigen Kultur¬
abgaben zu finanzieren. So fordert der
Verfasser u. a., daß den vor 1914 blühenden
wissenschaftlichen Zeitschriften Deutsch¬
lands, den großen Archiven deutscher Ge¬
lehrtenarbeit, welche zurzeit vor Bankrott
und Untergang stehen, von Reichs wegen
Dia
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PR1NCET0N UNIVE
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Nachrichten und Mitteilungen
Unterstützung werden muß. Nationales An¬
sehen steht auf dem Spiel. Was deutsche
Fürstenhöfe und private Mäzene vor dem
Kriege als Kulturzentren geleistet, wird künf¬
tig fortfallen und muß ersetzt werden. Die
1868 begründete Bundes- bzw. Reichsschul¬
kommission muß nach nationalpädagogi-
sehen Gesichtspunkten ausgestaltet werden.
Aber auch ein Reichsschulgesetz, wie es der
deutsche Lehrerverein in einer Eingabe an
die Nationalversammlung vom 16. 2. 1919
forderte, hält der Verfasser für grundsätzlich
berechtigt. Auch auf die jährlichen Hoch¬
schulkonferenzen, die Friedrich Althoff be¬
gründete, und die bisher nur eine zwischen¬
staatliche Veranstaltung der größeren Bun¬
desstaaten bildeten, weist der Verfasser hin.
Neben der Schule kommen Kunst und Wis¬
senschaft in Frage; und hier ist der wunde
Punkt ebenfalls der Mangel an Einheitlich¬
keit. Ein Beispiel des Verfassers: Das Ar¬
chäologische Institut untersteht dem Aus¬
wärtigen Amte, das Kunsthistorische dem
Reichsamt des Innern, das Historische dem
preußischen Kultusministerium; es fehlt an
einer festen Zentralstelle, welche leitet und
ausgleicht, ohne zu bevormunden. Die Or¬
gane des Reiches aber, welche solche Kultur¬
aufgaben übernehmen, dürfen nicht nur über
die Dinge reden, sie müssen kulturell mit-
arbeiten. Men, not measures! Keine Nor¬
mativbestimmungen, sondern Spielraum;
nicht Gesetzgebung, sondern Vereinbarung,
Konferenzen mit Gedankenaustausch. Zu¬
sammenfassend muß aus dem Gesagten ge¬
folgert werden:
1. Daß das Reich in der Verfassung veran¬
kerte kulturpolitische Kompetenzen braucht.
2. Daß die kulturpolitische Führung des
Reiches nicht gleich beansprucht werden
kann, aber im Laufe der Entwicklung un¬
vermeidbar erscheint.
3. Auf schulpolitischem Gebiet kein ge¬
setzgeberischer Zwang, sondern gütliche
Vereinbarung mit dem Ziel einheitlicher,
aber nicht schematischer Entwicklung (stän¬
dige Konferenzen).
4. In Kunst und Wissenschaft Zusammen¬
arbeit wie bisher, aber engere Fühlungnahme
zwischen Reich und Gliedstaaten.
5. Zur Förderung seiner Bestrebungen und
zur Erhöhung seines Einflusses braucht das
Reich neue planmäßige Mittel, möglichst
ohne zu enge Festlegung der Zweckbestim¬
mung.
6. Auf allen Gebieten aber — und das
ist die Hauptsache — sachverständige und
initiativereiche Reichsbeamte.
So weit die amtliche Denkschrift.
Kapitel 3 dann enthält Vorschläge und
Anregungen zu der zukünftigen Organisa¬
tion. Die großen Machtmittel, welche trotz
der anfänglichen Abneigung der Gliedstaaten
dem Reiche in der neuen Verfassung im
Art. 10 Nr. 2 unlängst zugesprochen worden
sind, um Normativbestimmungen auf dem
Gebiete des Schul- und Hochschulwesens
zu erlassen, bedeuten den ersten und ent¬
scheidenden Schritt zur Reichskulturpolitik.
Weise Mäßigung vor allem fordert der Ver¬
fasser. Er verwirft kulturelle Gleichförmig¬
keit und Vergewaltigung, also jeglichen Kul¬
turkampf. Die auswärtige Kulturpolitik muß
dem Auswärtigen Amt überlassen werden,
aber nur unter vollster Fühlung mit der
kulturellen Inlandzentrale. Eine eigene Ab¬
teilung für Volkshochschulwesen ist notwen¬
dig und anderes mehr, worüber wir auf die
Schrift selber verweisen.
Wichtiger aber als alle Organisationen,
so führt das Schlußkapitel aus, sind die
Kulturinhalte. Ober sie müssen wir uns
zu allererst klar werden. Grundanschau¬
ungen von Volk und Leben, die jenseits
religiöser oder nichtreligiöser Weltanschau¬
ung stehen, müssen bewußt ohne Verach¬
tung der Ideale der Vergangenheit neu auf¬
gebaut werden. „Tausend Schleier decken,
was vor uns liegt.“ Uns Deutschen fehlt
als dezidierten Individualisten der politische
Sinn, als Volk das Volksbewußtsein oder
der nationale Gedanke. Also nicht die
Staatsnation, sondern die Kulturnation muß
ins Auge gefaßt werden. Wir müssen das
Wesen unseres Volkes in der Geschichte
suchen, „der gotische Mensch“ lebt als
Sehnsucht in den Besten unserer Zeit. (Vgl.
die Aufsätze des Grafen Keyserling und
vonE.Troeltsch über „Deutschlands wahre
politische Mission“ und „Über deutsche Bil¬
dung“ in dem Sammelband „Der Leuchter“,
Darmstadt 1919, Reichls Verlag). Unsere
inneren Polaritäten und Spannungen sind
leider Naturnotwendigkeiten deutscher Cha¬
rakteranlage. Aber diesen unser Volk spren¬
genden Gegensätzen muß durch Aufklärung
das Gift entzogen werden. Der Mensch kann
nur dasjenige wollen, „was er liebt“; „seine
Liebe ist der einzige, zugleich auch der un¬
fehlbare Antrieb seines Wollens und aller
seiner Lebensregung und -bewegung“
(Fichte). „Lernen wir überall das Mensch-
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Nachrichten und Mitteilungen
liehe verstehen und lieben. Suchen wir den
deutschen Gedanken zunächst in uns selber,
dann in unserem Volk, stellen wir ihn her¬
aus in seiner irrationalen und rationalisti¬
schen Prägung, aber befreien wir ihn —
bei stärkster individueller Staatsgesinnung
— von staatlicher Enge, vom Zwang der
Grenzpfähle, haben wir den Mut, den ge¬
segneten Gedanken eines unserer Jüngsten
in die Tat umzusetzen, indem wir die Staats¬
angehörigkeit zurücktreten lassen hinter der
Volkszugehörigkeit, oder pflegen wir beide
nebeneinander, ln welcher Form auch immer,
wir müssen uns erziehen zum Bewußtsein
unserer selbst.“ Der Verfasser warnt davor,
die Millionen Deutsche, welche künftig wie¬
der ins Ausland abwandern werden, zu
einer großen Irredenta zu organisieren. Die
machtpolitische Lösung des deutschen Pro¬
blems ist im Weltkrieg gescheitert, aber das
deutsche Volk ist wichtiger als die deutsche
Weltmachtstellung. Die Feinde müssen in¬
nerlich überwunden werden. Wenn wir uns
treu bleiben, wird einst der Tag der Scham
für unsere Gegner kommen. Es wäre ja
nicht das erstemal, daß durch Leiden die
Welt überwunden wird. Dann wird es in
einem neuen Europa weder Herrscher noch
Sklavenvölker geben, sondern eine zu ge¬
meinschaftlicher Arbeit verbundene Völker¬
familie. Wir müssen zu einer freieren Wil¬
lensbildung hindurch, nur dann wird Raum
für freie Menschenwürde. Wir haben Bil¬
dung und Wissenschaft miteinander ver¬
wechselt. „Selbstbewußtsein als Volk, ethi¬
sche Gesinnung und innere Einstellung iur
Sache, insbesondere zur Arbeit, das sind drei
große Ideale, die zusammen zu einer ge¬
schlossenen Lebensaufgabe führen. Sie bil¬
den ein Kulturprogramm, das unerreichbar
und utopisch ist, wie alle letzten Ziele der
Menschheit es sein müssen, das aber eine
normative Kraft von packender Wucht ent¬
hält, wenn es wirklich vom Willen des ein¬
zelnen aufgenommen und von dem Glauben
einer zur Mitarbeit sich freiwillig zusammen-
schließenden Kulturgemeinde getragen wird.
Auf diesem Boden könnten sich alle Par¬
teien und Konfessionen zusammenfinden;
sie werden und sollen diesen Ideen in ihrem
Kreise ihre besondere Lokalfarbe und Tem¬
peratur verleihen, sie werden aber alle be¬
reit sein, jeder auf seinem Wege, diesen
ewigen Zielen zuzustreben und dadurch
unser zerrissenes Volk sich in einer höheren
Einheit zusammenfinden lassen. Ideale nicht
nur zu haben, sondern sie mit dem viel¬
gestaltigen kulturpolitischen Apparat bewußt
dem deutschen Volke als Lebensideale ein-
zuhämmern — das ist die eigentliche Auf¬
gabe der Kulturpolitik des Reiches.“
Wiesbaden. Dr. B. Laquer.
Zur Wiedereröffnung des literarischen Aus¬
tausches zwischen Amerika und Deutschland.
Kürzlich erhielt ich eine Anzeige meiner
im Jahre 1917 erschienenen »Ursachen der
Reformation“ (München, R. Oldenbourg)
von P. Smith aus der American Historical
Review (Aprilheft vom Jahrgang 1919). Die
Schlußsätze setze ich hierher: .In closing,
may the reviewer be allowed to express
his pleasure at seeing the first German
publication that has broken through the
British censorship-blokade to his eyes since
1915? May German thought, purged but not
crushed out by the war, again take its due
place in the light of cosmopolitan culture
that ( we must all hope is once more begin-
ning to shine through the clouds.“
Indem ich dem Rezensenten meinen Dank
für seine freundliche Begrüßung ausspreche,
möchte ich nicht unterlassen hervorzuheben,
daß einen ausgezeichneten Kommentar zu
den Worten .purged but not crushed out*
der Däne Karl Larsen in seinem Aufsatz
.Das Ende des Militarismus“ in der .Deut¬
schen Rundschau“, Oktober- und November¬
heft, gegeben hat. Er schildert z. B., wie
man über den Zusammenbruch des preu¬
ßisch-deutschen Militarismus triumphiert und
wie man dabei doch plötzlich entdeckt, daß
mit diesem Zusammenbruch ein höchst
wertvoller Schutz der kleinen Nationen be¬
seitigt ist. Es ist dies aber eine Erschei¬
nung aus einem Komplex von vielen par¬
allelen Erscheinungen.
Freiburg i. Br. G. von Below.
Für die Sdiriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, LultpoldstraBe 4.
Drude von B. O. Teubner in Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG
HEFT 4
FEBRUAR 1920
Die Anfänge des Preufsischen Kultusministeriums.
Von Gunnar Thiele.
Daß das Kultusministerium in Preu¬
ßen eine hochpolitische Behörde ist,
dürfte in unseren Tagen nicht mehr
bestritten werden. Nicht zu allen Zei¬
ten aber war die Wertung dieses Ver¬
waltungszweiges die gleiche; entbehrte
er doch im 18. Jahrhundert noch gänz¬
lich der Selbständigkeit. Erst nach dem
Zusammenbruche zu Beginn des 19.
Jahrhunderts besinnt man sich auf
den großen Gedanken, daß der Mensch,
der zur Selbsttätigkeit und Selbständig¬
keit gebildet wäre, auch den Staat tra¬
gen und ihn emporbilden würde. Mußte
aber nicht diese hohe Bedeutung, die
eine idealistische Anschauung dem Er¬
ziehungswesen beimaß, auch zu einer
verwaltungstechnischen Selbständigkeit
jener Behörde führen, der die Pflege des
inneren Lebensgehaltes der Nation ob¬
lag? Die Lösung dieses Problems gibt
uns Ernst Müsebeck in einer inhalt¬
reichen Schrift 1 ), deren Hauptgedan¬
ken wir im folgenden skizzieren.
1 .
Ganz im Sinne der altprotestanti¬
schen Auffassung, daß die Schule einen
integrierenden Bestandteil des kirchli¬
chen Lebens ausmache, zeigt das 18.
Jahrhundert noch die völlige Abhän¬
gigkeit des Unterrichtswesens vom Kul¬
tus, und auch die Gründung des Ober¬
schulkollegiums im Jahre 1787, welche
1) Das Preußische Kultusministerium vor
hundert Jahren. Stuttgart und Berlin 1918,
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger.
A
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eine scharfe Trennung der Kultus- und
Unterrichtsfragen erstrebte, hatte tat¬
sächlich nur eine Verminderung, nicht
eine Aufhebung des geistlichen Einflus¬
ses auf das Schulwesen zur Folge.
Charakteristisch für das alte Preußen
bleibt die Verbindung der geistlichen
Angelegenheiten mit dem Justizmini¬
sterium in der obersten Spitze. Wie
der damaligen Behördenorganisation
überhaupt, so fehlte auch der Verwal¬
tung des Kultus, Unterrichts- und Me¬
dizinalwesens, das fast ohne Zusam¬
menhang mit den obersten Zentralbe¬
hörden geblieben war, die straffe, ein¬
heitliche Zentralisation, die zur Durch¬
führung eines großen Reformprogram-
mes notwendig war.
Während der Reformzeit und der
Zeit der Freiheitskriege — Müsebeck
umgrenzt diesen Zeitraum durch die
Jahre 1807 und 1817 — tritt Kultus,
Unterricht und Medizinalwesen in Ver¬
bindung mit dem Ministerium des In¬
nern. Bereits vor dem Zusammenbruche
des Staates wurden Versuche gemacht,
das preußische Behördenwesen uruzu-
gestalten, aus dem unverantwortlichen
Kabinett ein verantwortliches Mini¬
sterium zu schaffen, Fachministerier.
an Stelle von Provinzialministerien zu
begründen. Die nämliche Tendenz für
die künftige Verwaltungsorganisation
zeigen die großen Denkschriften des
Jahres 1807, die nach dem Zusammen¬
bruche die Reform des neuen Preußens
einleiteten. Stein hob die Notwendig -
10
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
242
Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums
291
keit der Trennung von Kultus und Un¬
terricht hervor, Altenstein, der für die
Einheit in der Leitung des Kultus und
Erziehungswesens eintrat, wies als er¬
ster auf Humboldt als den gegebenen
Chef des Unterrichtswesens bei der Re¬
form hin, Hardenberg forderte zum er¬
sten Male das Kultusministerium mit
seinen zwei großen Zweigen des Kul¬
tus und des Unterrichts in seiner spä¬
teren selbständigen Stellung als eigne
Oberbehörde. Durch die gemeinschaft¬
liche Arbeit von Stein, Hardenberg und
Altenstein war die Einheit in der ober¬
sten Verwaltung prinzipiell durchge¬
führt. Am 24. November 1808, am letz¬
ten Tage der Amtsführung Steins,
wurde die „Verordnung, die veränderte
Verfassung der obersten Verwaltungs¬
behörden in der preußischen Mon¬
archie betreffend“, vom Könige - voll¬
zogen. Das ehemalige Generaldirek¬
torium wurde nach seinen beiden
Hauptfunktionen getrennt. So entstan¬
den das Ministerium des Innern und
das der Finanzen, welche mit dem Mi¬
nisterium der auswärtigen Angelegen¬
heiten, dem Kriegs- und Justizmini¬
sterium die fünf Hauptvcrwaltungs-
zweige des Staates bildeten. Die dritte
Abteilung des Ministeriums des Innern
bildete das Departement des Kultus
und des öffentlichen Unterrichtes. Kul¬
tus und Unterricht waren endgültig
von dem Justizdepartement geschieden,
im.Gegensatz zu den ursprünglichen
Steinschen Absichten unter einer ein¬
heitlichen Spitze vereinigt, einem Ge¬
heimen Staatsrate unterstellt. Das Me¬
dizinalwesen wurde in der „Verord¬
nung“ vom 24. November 1808 einer
besonderen Departementsabteilung des
Ministeriums des Innern überwiesen.
Stein hatte in seiner Nassauer Denk¬
schrift als Spitze der gesamten Staats¬
verwaltung ein Ministerkonseil gefor-
I
dert, da für ihn die Kollegialität der
obersten Behörde das Fundament der
künftigen Verwaltung bildete. Alten¬
stein und Hardenberg wollten die Re¬
gierungsverwaltung von einem Punkte
ausgehen lassen. Die Leitung des Gan¬
zen sollte dem Premierminister zu¬
kommen. In der „Verordnung“ vom 24.
November, die das Kabinett als Zwi¬
schenglied zwischen dem Monarchen
und der obersten Behörde beseitigte,
mußte der Premierminister einer kol¬
legialen Behörde, dem Staatsrate, wei¬
chen. Ihm gehörten nicht nur die Mi¬
nister, sondern auch die Geheimen
Staatsräte als Chefs der wichtigsten
Ministerialsektionen an, die in diesem
Kollegium gleiches Stimmrecht mit
ihren Vorgesetzten haben sollten. Aber
in der eigentlichen Ausführungsverord¬
nung, dem Publikandum vom 16. De¬
zember 1808, wurde aus der Stein¬
schen Verfassung das konzentrische,
alles zusammenhaltende Herzstück, der
Staatsrat, herausgerissen, was gerade
für das Gebiet des Kultus und öffent¬
lichen Unterrichts von größter Bedeu¬
tung werden sollte. Stein hatte seine
Aufgabe als eine deutsche Mission an¬
gesehen. Er wollte einen politischen
Organismus schaffen, von dem aus
einst die Befreiung Deutschlands von
der Fremdherrschaft ihren Ausgang
nehmen konnte. Höchste Einheitlich¬
keit der Staatsverwaltung mit dem
stärksten Anteil der Nation am Staats¬
leben zu verbinden, war sein hohes
Ziel. Der Erziehungsgedanke bildete
die Zentralidee der Steinschen Reform.
Es war mehr als eine Personenfrage,
geradezu eine Schicksalsfrage, wer zum
künftigen Leiter des Kultus und Un¬
terrichts berufen würde. Altenstein, der
spätere erste Kultusminister, trat an die
Spitze des Finanzministeriums; Graf
Dohna wurde Minister des Innern. Wil-
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PRINCETON UNIVERS^mfti
293 ‘Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 294
heim von Humboldt, damals preußi¬
scher Gesandter bei der Kurie in Rom,
übernahm am 28. Februar 1809 die Lei¬
tung der Sektion des Kultus und öf¬
fentlichen Unterrichts. Obwohl ihm Graf
Dohna, sein Jugendfreund und Studien¬
genosse, volle Bewegungsfreiheit ge¬
währte, klagte Humboldt bald, daß die
Geschälte ohne einheitliche Leitung
gingen. Die vorläufige Suspension des
von Stein geplanten Staatsrates nahm
ihm die Möglichkeit, seine Anschau¬
ungen in der höchsten Landesbehörde
zum Ausdruck zu bringen, wenn er
mit seinem Departementschef keine
Übereinstimmung erzielen konnte. Er
sah sich in seinem Rechte auf Selb¬
ständigkeit und Verantwortlichkeit ge¬
schmälert. So hat er während seiner
ganzen Amtsführung nicht nur durch
wiederholte Eingaben, sondern auch in
persönlicher Unterredung mit dem Kö¬
nige danach gestrebt, sein wichtiges
Ressort, dem noch die Medizinalsek¬
tion angegliedert wurde, zu einem selb¬
ständigen Ministerium zu erheben. Als
der Staatsrat in einer unwirksamen
Form, d. h. mit bloß beratender Stel¬
lung, angeordnet und damit der Stein-
sche Plan des Staatsrates aufgegeben
worden war, reichte Humboldt sein
Entlassungsgesuch ein, das am 14. Juni
1810 genehmigt wurde. Nur 16 Mo¬
nate hatte er das Amt verwaltet. Aber
diese kurze Spanne Zeit war für die
Entwicklung des preußischen Kultus¬
ministeriums, seiner Aufgaben und
Ziele von grundlegendem Werte. Hum¬
boldts Schaffenskraft wurzeLe nicht wie
die Steins in der reichen Erfahrungs¬
welt der Geschichte, sondern in einem
moralisch-ästhetischen Neuhumanismus,
der aus der Idee heraus schöpferisch
zu gestalten suchte. Glänzende Mitar¬
beiter — um nur Nicolovius in der
Kultus- und Süvern in der Unterrich.s-
abteilung zu nennen — standen ihm
zur Seite. Drei große Aufgaben hatte
er sich gestellt: die verwalt ungstech-
nische Organisation der Sektion, die
Festsetzung eines allgemeinen Schul¬
plans und die Regulierung des Fonds
und der Etats aller Schulen und der
Besoldung aller Geistlichen. An allen
prinzipiellen und persönlichen Fragen
der Kultusabteilung, die Nicolovius in
relativ selbständiger Weise leitete, ver¬
langte er Anteil. Nicht das Verhältnis
zwischen Staat und Kirche, wie es
Schleiermacher stark bewegte, sondern
das Verhältnis zwischen Staat und Re¬
ligion war das ihn wie andere Refor¬
mer bewegende Problem. Religion be¬
deutete für sie ein Stück wahrhafter
Menschenbildung, deren Entfaltung der
sittliche Inhalt des Staatszweckes erfor¬
derte. Dem Leiter der Unterrichtssek¬
tion war das Problem der National¬
erziehung als Erbe überliefert worden.
Der deutsche Idealismus hatte es ver¬
kündet, daß nur durch die sittliche
Vervollkommnung der Träger des
Staates, der Menschen selbst, eine bes¬
sere Verfassung erreicht werden könne.
Schleiermacher hatte diese Forderung
auf die kollektivistische Einheit der
Nation übertragen. Nationalerziehung
erhielt den Sinn wahrhafter Men¬
schenerziehung. Und dann hatte Fichte
in seinen „Reden“ eine gänzliche Ver¬
änderung des bisherigen Erziehungs¬
wesens als das einzige Mittel geprie¬
sen, das die deutsche Nation in ihrem
Dasein erhalten könne. In Humboldt
und seinen Mitarbeitern sollte Fichte
die Männer finden, die gewillt waren,
seine Ideen in die Tat umzusetzen. In
einem wesentlichen Punkte unterschied
sich Humboldt aber von dem „deut¬
schen“ Philosophen. Fichte machte in
seinen „Reden“ den Staat zum Voll¬
strecker seines Erziehungsplanes. Nicht
10 »
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
295
Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums
296
so Humboldt nach seinen letzten Ideen.
Hatte er früher die Erziehung für eine
Aufgabe der Nation im Gegensatz zum
Staate gehalten, so sollte, als er nun
an die Spitze eines staatlichen Er¬
ziehungswesens getreten war, die Na¬
tion zwar das Erziehungswesen als hei¬
lige Aufgabe auch jetzt noch in ihrem
Schoße tragen. Aber er wußte jetzt
diese Tätigkeit der Nation, der Steiri¬
schen Idee gemäß, dem Rahmen des
Staates einzuordnen. Vor allem strebte
er auf dem Gebiete des Erziehungswe¬
sens die harmonische Humanitätsidee
zur Darstellung zu bringen. Der Schul¬
plan Humboldts, wurde die Stelle, an der
zum ersten Male die pädagogischen
Strömungen des Neuhumanismus und
der Pestalozzischen Methode, ver¬
schmolzen mit dem deutschen Idea¬
lismus, in die neue preußische Schul¬
verwaltung überströmten. Allgemeiner
Unterricht und Berufsbildung dürfen
hinfort nicht miteinander vermischt
werden. Die materiale, enzyklopädische
Vielseitigkeit des rationalistischen Bil-
dungsprinzipes wird durch ein univer¬
sal-formales Prinzip ersetzt, das sich
allein die allseitige, von innen heraus
schöpferisch gestaltende Kraftentwick¬
lung, die Selbsttätigkeit der einzelnen
Individuen zum Ziele setzt.
Es würde zu weit führen, wollten wir
Müsebeck in seiner Darstellung der Tä¬
tigkeit der Unterrichtsabteilung auf dem
Gebiete des Elementarschulwesens, der
gelehrten Schulen und des Universitäts¬
wesens während der Humb.oldtschen Ära
folgen. Viele Absichten Humboldts auf
dem Gebiete der Reform des Elemen¬
tarschulwesens und der Gymnasien
scheiterten an der Mittelbeschaffung.
Um so heller erstrahlt sein Ruhm, als
es ihm gelang, trotz aller finanziellen
Bedrängnisse die schönste Krönung sei¬
nes Werkes für das Verbesserungsge¬
schäft des Erziehungswesens, die Neu¬
begründung der Universität Berlin in
ihrer Verbindung mit der Akademie
der Wissenschaften, durchzuführen.
Humboldt hat der Machtform des preu¬
ßischen Staates den Geist des deut
sehen Idealismus einverleibt und damit
jene enge Verbindung zwischen dem
preußischen Staatsgedanken und dem
deutschen Kulturgedanken geschaffen,
die allein Preußen zu einer Führerrollt'
im Leben der Nation befähigen konnte.
Der deutsche Kulturgedanke aber trug
universale, menschheitliche Form. Er
wollte den Deutschen zum wahrhaften
Menschen bilden auf Grund der natio¬
nalen Eigentümlichkeit. Humboldt
schied aus dem Amte, ehe seine Auf¬
gabe vollendet war. Für ihre Lösung
hat er den festen Grund im preußi¬
schen Staate gelegt. Denn der Geist
der nie vollendeten, aber stets der
Vollendung entgegenreifenden Wissen¬
schaftlichkeit ist es, der die drei Ab¬
teilungen des Kultus, des Unterrichts¬
und des Medizinalwesens unter seiner
Leitung zu einem einheitlichen Gan¬
zen gebildet hat. Wilhelm von Hum¬
boldt wurde mit dieser Tat der eigent¬
liche Schöpfer des preußischen Kul¬
tusministeriums, wie es einige Jahre
später tatsächlich im Behördenorganis¬
mus durchgeführt werden sollte.
2 .
Als Humboldt aus dem Amte schied,
war auch das Schicksal seiner Geg¬
ner, des Ministeriums Dohna-Alten¬
stein. entschieden. Hardenberg, der zum
Staatskanzler ernannt wurde, erhielt die
obere Leitung sämtlicher Staatsangele¬
genheiten. Bevor die Sektion für den
Kultus und Unterricht am 20. Novem¬
ber 1810 ihren selbständigen Leiter in
der Person des Geheimen Staatsrates
von Schuckmann erhielt, war ihreVer-
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297
Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums
298
bindung mit der Abteilung für das
Medizinalwesen, die ja unter Humboldt
nur als Personalunion bestanden hatte,
gelöst und das Medizinalwesen mit
dem allgemeinen Polizeidepartement
vereinigt worden. Der Nachfolger Hum¬
boldts war ein ausgezeichneter Ver¬
waltungsbeamter. Er kannte nur den
Machtstaat als letztes und höchstes Or¬
gan, dem sich ohne Widerspruch das
Geistesleben zu beugen hatte. Von einer
kirchlich-religiösen Erziehung des Vol¬
kes erhoffte er allein eine Besserung
der Zustände. Jede selbständige Re¬
gung des Volkes bedeutete ihm eine
Gefahr für die Regierung. Die Arbeiten
der Kultusabteilung unter Schuckmann
befaßten sich mit dem Problem- der
neuzugestaltenden kirchlichen Verfas¬
sung, das bereits unter Humboldt in
Angriff genommen war. Schleiermacher
gelang es, die Einheit der protestanti¬
schen Kirche herzustellen, unter reger
Anteilnahme des Königs, dessen Eifer
für die Union ihren Ursprung in kul¬
tischen Freigen hatte. Wenn auf dem
Gebiete des Schulwesens der Geist
Humboldts während der Schuckmann-
schen Verwaltung vorherrschend blieb,
so ist dies der Wirksamkeit Süvems
und Natorps, von Nicolovius und
von Schleiermacher zu verdanken.
Grundlegende Arbeiten, welche die in¬
nere Verfassung der höheren und nie¬
deren Schulen regeln sollen, werden
in den beiden Teilen der „Gesamtin¬
struktion über die Verfassung der
Schulen“ vom 7. Februar 1813 fertig¬
gestellt, welche die „Konstitutionsakte“
der inneren Einrichtung des neuen Bil¬
dungswesens darstellt. Aber noch
fehlte es an einem allgemeinen Schul¬
gesetz, das auch jener Gesamtinstruk¬
tion erst allgemeine Rechtsgültigkeit
verleihen sollte. In seinem berühmten
Promeinoria vom 8. August 1817 ent¬
wickelt Süvern nochmals die allgemei¬
nen Prinzipien der Reform. An dem
Tage, an welchem Schuckmann die Um
terrichtsverwaltung abgenommen wurde,
erfolgte die Einsetzung einer Kommis¬
sion zur Entwerfung einer allgemei¬
nen Schulordnung, zu deren Referenten
der Staatsrat Süvern bestimmt wird.
Auf dem Gebiete des Universitätswe¬
sens gelangten aber die Humboldtschen
Gedanken und Pläne unter der Leitung
Schuckmanns nicht zur Entfaltung. Ge¬
waltige Aufgaben harrten seines Nach¬
folgers.
Um das seit 1815 neugeschaffene
Großpreußen nicht in seine einzelnen
Teile auseinanderfallen zu lassen,
glaubte Hardenberg erst die Umgestal¬
tung des Verwaltungskörpers zum Ab¬
schluß bringen zu müssen, bevor die
Frage der Nationalrepräsentation auf¬
genommen würde. Der Umfang der
Ministerien war durch den Machtzu¬
wachs, den der preußische Staat durch
die Freiheitskriege erfahren hatte, zu
groß geworden. Der Finanzminister
v. Bülow und der Freiherr v. Schuck¬
mann, dem 1814 zu seinen früheren
Ämtern noch das Ministerium des In¬
nern übertragen worden war, standen
nach Schöns und Humboldts Ansicht
der Besserung der Zustände im Wege.
Die von so vielen Seiten geforderte,
am 3. November und 2. Dezember 1817
sich vollziehende Neubildung des Mi¬
nisteriums ging in wesentlichen Punk¬
ten auf die Denkschrift Altensteins über
Verwaltung und Verfassung vom
8. März 1816 zurück. Am bedeutend¬
sten war die Lostrennung der Kultus-
und Unterrichtsangelegenheiten vom
Ministerium des Innern, ihre Verselb¬
ständigung zu einer besonderen Mi-
nisterialbehörde, die am 3. November
1817 dem Staatsminister Freiherrn von
Altenstein anvertraut wurde. Das Ziel,
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das Humboldt erstrebt hatte, war er¬
reicht. Das Kultusministerium unter
Altenstein — Müsebecks Darstellung
umfaßt die Jahre 1817 bis 1823 — hatte
zu Beginn mit einer schwierigen Ge¬
schäftslage zu ringen. Nicht weniger
erschwerend wirkten die schwache Be¬
setzung des Ministeriums sowie Rei¬
bungen zwischen den beiden hervor¬
ragendsten Mitarbeitern Altensteins,
Nicolovius und Süvern. Der begin¬
nenden Wandlung im politischen Le¬
ben Preußens stand der Schöpfer des
großen Schulgesetzes völlig mißbil¬
ligend gegenüber. Er zog sich immer
mehr von den Geschäften zurück, als
sich herausstellte, daß sein Gesetzent¬
wurf für das gesamte Unterrichtswesen
nicht durchführbar sei. So war es für
Altenstein und für die fernere Entwick¬
lung des preußischen Unterrichtswe¬
sens von entscheidender Bedeutung,
daß das Ministerium in Johannes
Schulze bereits einen Mann gewonnen
hatte, der die bisher Süvern anvertrau¬
ten Aufgaben des höheren Schulwesens
auf sich nehmen konnte. In seltener
Weise verband sich in ihm, dem treue¬
sten Mitarbeiter Altensteins in allen
Fragen des Unterrichtswesens, der prak¬
tische, organisatorisch bewährte Schul¬
mann und Verwaltungsbeamte mit dem
kenntnisreichen Gelehrten. Unberührt
von den politischen Verhältnissen blieb
das Medizinal wesen, welches bei der
Herstellung des Ministeriums des In¬
nern unter einem selbständigen Chef
dieser Behörde zugeteilt worden war,
um alsdann bei der Verselbständigung
des Kultusministeriums am 3. Novem¬
ber 1817 diesem zugewiesen zu werden.
Auch die kirchlichen Probleme
standen zunächst mit den schweren
politischen Konflikten in keinem Zu¬
sammenhänge. Gleich dem Allgemei¬
nen Landrechte lag auch Altenstein al¬
les daran, die Kirche von dfllPS'taate
abhängig zu machen. Was die kir-
chcnrechtlichen Verhältnisse des Ka¬
tholizismus in Preußen anbetrifft, so
ordnete für die kommende Zeit die
Bulle De Salute animarum vom 16.
Juli 1821 diese in einer Form, die bei¬
den, dem Staate und der Kirche, an¬
scheinend ein gedeihliches Miteinander¬
wirken versprach. Nicht so günstig ent¬
wickelten sich die Angelegenheiten der
evangelischen Kirche. Von der Synode,
nicht von der staatlichen Verwaltung
aus erwartete Altenstein in diesen er¬
sten Jahren eine neue Kirchenordnung.
Die kirchenpolitische Wendung, die in
den Sitzungen der Provinzialsynoden
zum Ausdruck kam, führte zu dem
Beschluß des Ministeriums vom Jahre
1823, auf die Einberufung einer Landes¬
synode als Gesamtvertretung der evan¬
gelischen Kirche zu verzichten. Wie
im politischen Leben mit den Provin¬
zialständen, begnügte man sich im
kirchlichen mit den Provinzialsynoden,
ohne ihnen eigentliche Aufgaben zu¬
zuweisen. Die evangelische Kirche
wurde in eine Bahn gedrängt, die sie
von dem Ideal einer Volkskirche, wie
sie ursprünglich die Reform beabsich¬
tigte, immer weiter abführte, sie in
den nächsten Jahrzehnten zu einer
Staatskirche umgestaltete.
Schwierig lagen vom Beginne des
Ministeriums an die Verhältnisse auf
dem Gebiete des Erziehungswesens.
Zwei große Erbschaften hatte Alten¬
stein von Schuckmann übernommen:
die Gründung der Universität Bonn
und die Arbeiten zu einem allgemei¬
nen Schulgesetz. Die am 18. Oktober
1818 vollzogene Gründung der Univer¬
sität Bonn, die nach Süvern dem preu¬
ßischen Staate wie „eine positiv wir¬
kende Festung“ dienen sollte, war
schon aufs engste mit den schweren
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30 t
Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums 302
Problemen der inneren Politik Preu¬
ßens verbunden, die bereits auf das ge¬
samte Erziehungswesen übergegriffen
hatten. Den Mittelpunkt der Staatsauf¬
fassung Altensteins bildete nicht die
Nation, der aus ihr heraus geborene
Wille zur politischen Gemeinschaft,
sondern die geschichtlich überkommene
Form der Verwaltung, die alle Betä¬
tigungen des Volkes in größter Frei¬
heit, aber nach festen Grundsätzen von
oben herab zu regeln suchte. Aus sol¬
chen Erwägungen heraus war Alten¬
stein geneigt, gleichsam mit wissen¬
schaftlicher Gründlichkeit den letzten
persönlichen und allgemeinen Ursa¬
chen der jugendlichen Irrungen nach¬
zugehen, um weiteren Folgen vorzu¬
beugen und Raum für eine ungehin¬
derte Entfaltung seines Staatsgedan¬
kens zu gewinnen. Die Metternich und
Gentz wollten den national-politischen
Geist der akademischen Jugend ver¬
nichten, die intellektuelle Selbständig¬
keit der Universitäten dem Gesetze der
Autorität unterwerfen, um freie Bahn
für die Reaktion zu erhalten. Harden¬
berg und Altenstein beabsichtigten aber,
die national-politische Gesinnung durch
«eine objektiv-wissenschaftliche zu er¬
setzen, sie in den Dienst des Staats¬
gedankens zu stellen, um Raum für
das Werk der preußischen Verfassung
zu gewinnen, dem Könige den Grund
zum Argwohn, den Gegnern die Un¬
terlagen für ihre Verdächtigungen zu
nehmen. So sehr sich Hardenberg und
Altenstein in den Beweggründen ihrer
Politik auf dem Gebiete des Er¬
ziehungswesens von den Männern der
Hofburg unterschieden, in einem Punkte
trafen sie mit ihnen zusammen: sie
stellten es in den Dienst augenblick¬
licher Staatszwecke. Die Maßnahmen,
die Altenstein in Übereinstimmung mit
dem Staatskanzler auf dem Gebiete des
Erziehungswesens tra c , dürfen und kön¬
nen nur aus dem Bestreben verstan¬
den werden, sicheren Boden für die
von der absoluten Monarchie zu ge¬
bende Verfassung zu gewinnen.
Es würde zu weit führen, wollten wir
der Müsebeckschen Schrift entnehmen,
wie Altenstein den schädlichen Wir¬
kungen vorzubeugen suchte, die bei
dem wachsenden Einflüsse der reak¬
tionären Kreise dem gesamten Er-
ziehungs- und Unterrichtswesen droh¬
ten, von der unglückseligen Tat Sands
an über die Karlsbader Beschlüsse bis
zu dem Vorgehen der Reaktion im
Jahre 1820, welche durch eine neue Re¬
form des gesamten Schul- und Unter¬
richtswesens die seit dem Jahre 1809
beginnende „schlimme Entwicklung"
beenden sollte. Fichte und Schleier¬
macher vornehmlich wurden als die
Verderber der Jugend genannt. Der
Kampf richtete sich im letzten Grunde
gegen den Humanitätsgedanken Hum¬
boldts und damit auch gegen den Ge¬
setzentwurf Süverns vom Jahre 1819,
der in den Akten liegen geblieben ist.
Altenstein, Humboldt und Süvern hat¬
ten, von den gleichen Prinzipien der
deutschen idealistischen Philosophie
ausgehend, das gesamte Schulwesen zu
der lichten Höhe einer einheitlichen
Idee, der Erziehung zur Humanität in¬
nerhalb des gleichfalls universalen Zie¬
len zustrebenden nationalen Staates,
emporheben wollen. Der Wille war ge¬
scheitert an dem noch lebensfähigen
Glauben der Reaktion, daß gerade diese
idealistische Auffassung das monarchi¬
sche Wesen in dem überlieferten Sinne
des Absolutismus oder des Ständetums
als das Wesen des preußischen Staates
gefährde, die Nation in ihren gebilde¬
ten Kreisen revolutioniere. Auch Alten¬
stein, der Schüler Fichtes, der außer
in dem klassischen Idealismus in den
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Gunnar Thiele, Die Anfänge des Preußischen Kultusministeriums
304
Formen des absoluten Staatsideals wur¬
zelte, erblickte in der engen Verbin¬
dung des Wissenschaftlichen mit dem
Politischen, wie sie sich in der nationa¬
len Bewegung der akademischen Kreise
vollzog, eine Gefahr. Ihm fehlte der
Gedanke der Selbsterziehung der Na¬
tion, der in der Steinschen Reform au¬
ßer der Idee des einheitlichen Staats¬
organismus lebendig war. Unvergessen
wird es Altenstein bleiben, daß er die
schwersten Angriffe gegen das Werk
der Reform auf dem Gebiete des Er¬
ziehungswesens abgewehrt, die Lehr¬
freiheit als Prinzip gegen alle An¬
griffe aufrechterhalten hat. Gegensätze
zwischen nationalem Macht- und na¬
tionalem Kulturstaat schienen ihm un¬
denkbar, weil beide von universalen
Tendenzen getragen waren. Die erste
Periode des Kultusministeriums ver¬
band das Erziehungswesen im Gegen¬
satz zu dem Wege, den Humboldt einst
gewiesen hatte, immer enger mit dem
Wesen des Staates, machte es zu einer
Aufgabe der behördlichen Verwaltung.
3.
Müsebeck gibt uns in seinem Buche,
dem obige Zusammenstellung in enger
Anlehnung entnommen ist, ein — un¬
ter Benutzung der grundlegenden Ar-
l)eiten von Bruno Gebhardt, Eduard
Spranger, Conrad Varrentrapp und
Erich Foerster — aus reichem Quellen¬
material geschöpftes, klares Bild von
dem Werden, der Entstehung und der
ersten Altensteinschen Periode des
preußischen Kultusministeriums. Gerne
wenden wir unsere Blicke zurück in
jene schöpferische Epoche zu Beginn
des 19. Jahrhunderts, die den Grund
zu unserem heutigen Bildungswesen
legte, in welcher auch auf dem Gebiete
des Kultus und des Unterrichtes eine
Fülle wichtigster Probleme aufgewor¬
fen wurde, die in unseren Tagen wie*
der brennend geworden sind. Treffend
weiß unser Historiker seine Darstel¬
lung des Tatsächlichen mit einer tief
dringenden Analyse der das geschicht¬
liche Geschehen bewegenden und mit¬
einander ringenden Ideen und Strö¬
mungen zu verbinden. Neues Akten¬
material, welches das Geheime Staats¬
archiv durch Ankäufe aus dem Alten¬
steinschen Nachlasse erworben hat, hat
der Verfasser verwerten könhen, um
unsere wissenschaftliche Erkenntnis der
Altensteinschen Periode, die er bis zum
Jahre 1823 verfolgt, zu erweitern. Auf
Grund der jetzt vorliegenden Denk¬
schriften Altensteins und seiner vorbe¬
reitenden Arbeiten für den Staatskanz¬
ler Hardenberg deckt Müsebeck die
engen Beziehungen auf, die zwischen
der Tätigkeit Altensteins auf dem Ge¬
biete des Erziehungs- und Unterrichts¬
wesens und der Verfassungsfrage be¬
stehen, und ermöglicht uns dadurch
eine einheitliche Auffassung der ver¬
schiedenartigen Maßnahmen des Mi¬
nisters. Auch die Frage des Scheitems
des Süvernschen Unterrichtsgesetzent¬
wurfes vom Jahre 1819 erscheint mir
durch vorliegende Schrift restlos ge¬
klärt worden zu sein.
Aber so rühmenswert die Darlegun¬
gen des Verfassers im ganzen sind, wird
er doch meines Erachtens der Tätigkeit
der Unterrichtsabteilung während der
Reformzeit auf dem Gebiete des Ele-
mentarschuhvesens nicht völlig gerecht.
Der Wirksamkeit Ludwig Natorps
kommt, wie insbesondere aus Akten
des preußischen Kultusministeriums er¬
sichtlich geworden ist, eine höhere Be¬
deutung zu, als es die Darstellung
Müsebecks zum Ausdruck bringt. Wenn
Müsebeck auf S. 100 schreibt: „Die Be¬
gründung des kurmärkischen Lehrer¬
seminars ist sein (Natorps) Werk“, so
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305 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 30&
könnte dieser Satz zu einer irrigen An¬
sicht Anlaß geben, da es sich im Jahre
1812 um eine „Total- und Radikal-Re¬
form" der alten Heckerschen Stiftung
aus dem Jahre 1748 handelte, die aller¬
dings einer Neugründung gleichkam.
Immerhin verdanken wir Müsebeck,
dessen umfangreiche Schrift einige Un-
>,'enauigkeiten aulweist 1 ), ein meister¬
haftes Geschichtswerk, welches uns vor¬
nehmlich ein Gesamtbild des preußi¬
schen Erziehungswesens während der
Reformzeit, gewissermaßen von oben
herab, vom Standpunkte der höchsten
Unterrichtsbehörde aus gesehen, ver¬
mittelt. Eine Publikation wichtiger, bis¬
her nicht veröffentlichter Aktenstücke
aus der ganzen Reformzeit für die
Verwaltungszweige, die dem Kultus¬
ministerium zugeteilt waren, erhöht den
wissenschaftlichen Wert des Buches.
Seine Entstehung verdankt es der hun¬
dertjährigen Feier des Tages, an dem
das preußische Kultusministerium als
selbständige Ministerialbehörde dem
staatlichen Verwaltungsorganismus ein¬
gefügt wurde, und an den auch Eduard
Spranger seine großzügige Darstellung
in dieser Zeitschrift Nov. 1917 ange¬
knüpft hat. Von dem damaligen Unter¬
richtsminister Dr. Friedrich Schmidt er¬
hielt Emst Müsebeck den ehrenvollen
Auftrag, diese Gedenkschrift zu ver¬
fassen.
Neue Veröffentlichungen über die Vorgeschichte
des Weltkrieges.
Von Justus Hashagen.
Ph. Hiltebrandt, Das europäische Verhängnis. Die Politik der Großmächte, ihr Wesen
und ihre Folgen. XI, 324 S. Berlin 1919, Gebrüder Paetel.
Graf E. Reventlow, Politische Vorgeschichte des Großen Krieges. 2. Auflage. XII,354 S.
Berlin 1919, Mittler.
P. Rohrbach, Chauvinismus und Weltkrieg. 2 Bände. Berlin 1919, H. R. Engelmann.
I: P. Rohrbach und J. Kühn, Die Brandstifter der Entente. 2. Aufl. XV, 371 S.
II: M. Hobohm und P. Rohrbach, Die Alldeutschen. VII, 314 S.
8. Schwertfeger, Zur Europäischen Politik 1897—1914. Unveröffentlichte Dokumente,
im amtlichen Aufträge herausgegeben. 5 Bände. Berlin 1919, Hobbing.
I: W. Köhler, 1897—1904: Zweibund, englisch-deutscher Gegensatz. VIII, 129 S.
II: B. Schwertfeger, 1905—1907: Marokkokrisis, König Eduard VII. VIII, 204 S.
III: A. Dören, 1908—1911: Bosnische Krise, Agadir, Albanien. VIII, 285 S.
IV: A. Doren, 1912—1914: Kriegstreibereien und Kriegsrüstungen. VIII, 212 S.
V: W. Köhler, Revancheidee und Panslawismus: Belgische Gesandtschaftsberichte
zur Entstehungsgeschichte des Zweibundes. VIII, 335 S.
I.
Die vier im folgenden besprochenen
Werke verkörpern verschiedene kriegs-
1) Müsebeck S. 99: Nicht 1804, sondern
1803 war Jeziorowski in Burgdorf; a. a. O.,
S. 100: Statt Bernhard Christian Ludwig
Natorp ist Bernhard Christoph Ludwig Na-
torp zu lesen; a. a. O., S. 100: Natorp wurde
nicht 1772, sondern 1774 geboren; a. a. O.,
S. 170: Johannes Schulze nicht 1764, son¬
dern 1786 geboren. Vgl. zum letzteren
Reinhard Lüdicke, Die Preußischen Kul¬
tusminister und ihre Beamten im ersten
politische Richtungen. Ihre Urteile sind
teils von den Anschauungen der Rech-
Jahrhundert des Ministeriums 1817—1917,
Stuttgart und Berlin 1918, J. G. Cotta’sche-
Buchhandlung Nachfolger.
Diese Arbeit gibt nicht, wie aus dem
Titel gefolgert werden könnte, eine Dar¬
stellung und Würdigung der in Betracht
kommenden Persönlichkeiten, sondern be¬
schränkt sich allein „auf eine Aneinander¬
reihung der hauptsächlichsten Lebensdaten,
vor allem über die amtliche Laufbahn“ der-
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307 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 308
\
ten, teils von denen der Linken be¬
stimmt. Sie ermöglichen also eine Art
abgekürzter Übersicht über ganz ver¬
schiedene Würdigungen der Vorge¬
schichte des Weltkrieges, wie sie vor¬
nehmlich während des Krieges selbst
zutage getreten sind; denn, wenn diese
Arbeiten auch sämtlich erst nach dem
Zusammenbruche veröffentlicht worden
sind, so hat doch dieser Zusammenbruch
auf ihre Anlage und Richtung offenbar
keinen bestimmenden Einfluß mehr aus¬
geübt; ein Teil des Wertes dieser
Zeugnisse liegt vielmehr darin, daß sie
die von den Kriegserfahrungen beein¬
flußten Beurteilungen der Vorge¬
schichte des Krieges in ihrer Verschie¬
denartigkeit zum Ausdruck bringen.
Nebeneinander erscheinen kriegspoli¬
tisch so gegensätzliche Publizisten wie
P. Rohrbach und Graf E. Reventlow.
Und doch ist das allgemeine Ergebnis
der in den neun Bänden niedergeleg¬
ten Arbeit beinahe ausnahmslos das¬
selbe: für die Vorgeschichte des Krie¬
ges im weiteren Sinne, d. h. für die
Zeit vor dem Attentate von Sarajevo
(nur Hiltebrandt geht noch auf die spä¬
teren Kriegsverhandlungen ein) wird
die Schuldfrage fast einhellig zugun¬
sten Deutschlands und zuungunsten
des Verbandes beantwortet. Die Aus 1 -
nahme, die Rohrbach im zweiten Bande
seiner Sammlung für die sogenannten
Alldeutschen feststellen will, fällt ge¬
genüber dem erdrückenden sonstigen
Massenmateriale kaum ins Gewicht. Die
Einwände, die sich im ganzen und im
einzelnen gegen diese neuen Veröffent¬
lichungen machen ließen, treffen dies
seioen. ln einleitenden Bemerkungen wer¬
den wir über die Abteilungen und Regi¬
straturverwaltungen im Ministerium der
geistlichen, Unterrichts- (und Medizinal-) An¬
gelegenheiten unterrichtet. Als Nachschlage¬
werk zur schnellen Orientierung möchte ich
die fleißige Zusammenstellung Lüdickes
recht empfehlen.
allgemeine Ergebnis an keinem we¬
sentlichen Punkte. Nun versteht man
noch besser, warum der feindliche Viel¬
verband bei Erörterung der Schuldfrage
die kurze Zeitspanne zwischen dem
Attentate von Sarajevo und dem tat¬
sächlichen Ausbruche des Krieges in
so einseLiger Weisa bevorzugt und die
kritische Betrachtung der Vorgeschichte
im weiteren Sinne wenigstens in der
neusten Publizistik am liebsten bei¬
seite schiebt.
Während der Hauptertrag der vor¬
liegenden Werke vornehmlich der po¬
litischen und der diplomatischen Vor¬
geschichte des Weltkrieges zugute
kommt, bemüht sich Rohrbach, auch
in die Entwicklung der politischen An¬
schauungen einzudringen.
Jedoch schon die Gesamtanlage und
die Gesamtgruppierung der beiden
Hälften seiner Publikation wird allge¬
mein bekannten und offenkundigen Tat¬
sachen kaum gerecht. Wenn unter dem
gemeinsamen Obertitel „Chauvinismus
und Weltkrieg“ der erste Band auf 357
Seiten die „Brandstifter der Entente“
behandelt und der zweite auf dem l>ei-
nähe ebenso großen Raume von 314
Seiten „die Alldeutschen“, so liegt darin
schon quantitativ ein handgreifliches
Mißverhältnis. Aber auch qualitativ
soll, trotz gelegentlicher Einschränkun¬
gen im Text, der Anschein einer Art
von Gleichartigkeit und Gleichwertig¬
keit dadurch erweckt werden, daß den
beiden Teilen dieselbe, übrigens nicht
einmal formal einwandfreie Disposition
zugrunde gelegt wird: 1. Kriegsdrohun¬
gen. 2. Die Verherrlichung des Krieges.
3. Die Lehre vom auserwählten Volk.
4. Land- und Machthunger. 5. Der ent¬
fesselte Vernichtungswille gegen
Deutschland. Der letzte Abschnitt fin¬
det natürlich nur im ersten Bande Ver¬
wendung.
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PRINCETON UNIVERSITY ||
309 J H ashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 310
Dieser irreführende, mit den Tatsa¬
chen der neusten Geschichte der poli¬
tischen Anschauungen kaum vereinbare
Parallelismus beruht nicht nur aufeiner
kurzsichtigen Überschätzung einzelner
sogenannter alldeutscher, in Deutsch¬
land öfters weithin einflußloser, wenn
nicht ganz unbekannter Utopisten, son¬
dern auch auf einer Unterschätzung der
ententistischen Kriegshetze. Der Grad
der Vollständigkeit, der in den beiden
Bänden erstrebt und erreicht wird, ist
durchaus verschieden. Während im
zweiten Bande die verborgensten Ent¬
gleisungen sogenannter alldeutscher
Winkelskribenten aufs schärfste be¬
leuchtet werden, ist das im ersten
Bande gezeichnete Bild trotz der Fülle
von abschreckenden Zügen, die es auch
in der vorliegenden Fassung schon auf¬
weist, außerordentlich lückenhaft. Ein
Grund dafür liegt auch darin, daß der
allerdings überaus umfassende und
weitschichtige Stoff für den ersten Teil
nicht annähernd so planmäßig gesam¬
melt worden ist wie für den zweiten,
wofür es u. a. bezeichnend ist, daß sich
die Herausgeber auch in wichtigen Fäl¬
len den Weg zu den Quellen gespart
haben und sich mit der Anführung von
Literatur begnügen. Man gewinnt den
Eindruck, daß im ersten Teile mehr
oder minder nur mit Zufallsmaterial
gearbeitet wird, ja daß er sein Dasein
vielleicht nur dem Wunsche verdankt,
dem zweiten Teile ehrenhalber eine
Art von Gegengewicht zu schaffen, was
ein vielsagendes „alsbald" in der Vor¬
rede des Herausgebers zum ersten
Bande (S. VIII) nur dürftig verschleiert.
Das feindliche Material ist in keiner
Weise gleichmäßig ausgebeutet. Zwar
steht die Broschüren- und Buchlitera¬
tur im Vordergründe. Aber erste Na¬
men, besonders von englischen und
französischen Historikern, sucht man
gleichwohl vergebens. Auch ist das ge¬
botene Bild schon deshalb zu günstig
ausgefallen, weil die feindliche Tages¬
presse zu wenig berücksichtigt wird.
Auch die feindlichen Reden innerhalb
und außerhalb der Parlamente werden
auffallend vernachlässigt. Wollte man
die Auswahl, was natürlich geboten
war, sichten und einschränken, so mußte
man doch wenigstens denjenigen feind¬
lichen Äußerungen die meiste Aufmerk¬
samkeit schenken, die notorisch den
größten praktischen Einfluß gehabt ha¬
ben. Die Auswahl ist aber gerade darin
im schlechten Sinne echt deutsch, daß
die feindlichen Zeugnisse ohne ständige
Rücksicht auf ihre praktische Bedeu¬
tung ziemlich wahllos aneinanderge¬
reiht werden. Auf bleibenden wissen¬
schaftlichen Wert konnte eine solche
Sammlung, für deren befriedigende
Ausgestaltung freilich einige wenige
unruhige Kriegsjahre kaum ausreichen,
nur dann Anspruch machen, wenn die
Herausgeber in die Grundsätze einen
Einblick gewähren würden, die von
ihnen» bei ihrer Sammlungs- und Sich¬
tungsarbeit angewandt worden sind.
Da das nirgends geschieht, kommt der
Leser in dieser Richtung aus den Zwei¬
feln nie heraus.
Aber auch sonst ist diese Übersicht
weder in zeitlicher noch in örtlicher
noch in sachlicher Beziehung frei von
fühlbaren Lücken. Ohne den jetzt be¬
anspruchten Raum wesentlich zu über¬
schreiten, hätten sie ausgefüllt werden
können, wenn man sich zur Streichung
allbekannter, namentlich indirekter
deutscher Zeugnisse hätte entschließen
können. Zeitlich ist der Rahmen so
weit gespannt, daß er unmöglich gleich¬
mäßig ausgefüllt werden konnte. Es
wird nämlich sowohl die Vorkriegs-
wie die Kriegsliteratur berücksichtigt.
Von beiden Gruppen auf so engem
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311 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 312
Raume ein ausreichendes Bild zu ge¬
ben, ist ein Ding der Unmöglichkeit,
zumal der erste Band nach Mitteilung
der Vorrede des Herausgebers schon
Anfang 1917 abgeschlossen worden ist.
Man hätte am besten nur die viel be¬
weiskräftigere Vorkriegsliteratur be¬
rücksichtigt und dann, besonders bei
der französischen Hetzliteratur, nach
rückwärts leicht einen weiteren Spiel¬
raum lassen können. Wer sich an¬
dererseits von der feindlichen Kriegs-
literatur auch nur der ersten fünf
Kriegshalbjahre nach dieser spärlichen
Sammlung ein Bild machen wollte,
käme nicht auf seine Rechnung.
Örtlich aber ist der Begriff „Entente“
zu eng gefaßt. Für Rohrbach und
Kühn ist der Verband noch im Jahre
1919 oder wenigstens 1917 identisch
mit dem Vierverband. Das entspricht
auch schon für Anfang 1917 nicht mehr
den Tatsachen. Mindestens von den
Vereinigten Staaten von Amerika hätte
im ersten Bande in einem besonderen
Abschnitte ausgiebig gehandelt werden
müssen; denn es gab auch in der Union
„Brandstifter“. Diese Lücke ist um so
weniger zu billigen, als im zweiten
Bande nach dem Vorgänge des in
gleichen Einseitigkeiten befangenen
O. Baumgarten von der nordamerikani¬
schen Kritik der sogenannten Alldeut¬
schen mit Vorliebe Gebrauch gemacht
wird. Auch von einer so handfesten
Größe wie dem japanischen Imperia¬
lismus wird nicht gesprochen. Warum
ist ferner von den „neutralen“ Tra¬
banten und Vasallen der Entente so
wenig die Rede? Haben beispielsweise
Polen und Tschechen 1 ) zu dieser Lite¬
ratur der Vergiftung keine Beiträge ge¬
liefert? Haben die Blätter der wel¬
schen Schweiz oder der niederländi-
1) Kramarsdi wird nur beiläufig erwähnt.
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scheTelegraaf, um nur diese zu nennen,
Anspruch darauf, daß man sie mit
Stillschweigen übergeht? Diese und
viele andere ähnliche Fragen bleiben
ohne Antwort
Aber auch sachlich werden nur einige
wenige literarische Hauptleistungendes
feindlichen Chauvinismus näher ver¬
folgt. Es sind in der Hauptsache die
der Kriegshetze und des Imperialismus.
Die allgemeinen Äußerungen des Deut¬
schenhasses werden dabei durchweg
häufiger berücksichtigt. Nur hätte hierin
noch mehr geschehen müssen, wenn
ausschlaggebende Richtungen der chau¬
vinistischen Hetzarbeit der Feinde mit
der nötigen Deutlichkeit hätten ans
Licht gebracht werden sollen. Die feind¬
liche Vorkriegs- und Kriegsliteratur hat
gerade der von ihr betriebenen imperia¬
listischen Kriegshetze besonders da¬
durch eine so weite Verbreitung ge¬
sichert, daß sie über Deutschland und
das Deutschtum eine ganz bestimmte
Abschreckungslehre bis in alle Einzel¬
heiten hinein entwickelt hat. Gewiß
gehen die Herausgeber an den hier ein¬
schlägigen Äußerungen nicht ganz
achtlos vorüber. Aber von ihrer zentra¬
len. besonders kriegspolitischen Bedeu¬
tung erhält man bei ihnen keine aus¬
reichende Vorstellung. Auch darüber
hinaus sind aber Kriegshetze und im¬
perialistische Werbearbeit keineswegs
die einzigen Betätigungen auf feind¬
licher Seite. Von der chauvinistischen
Literatur zur Schuldfrage, deren Um¬
fang außerordentlich groß ist, erfährt
man fast nichts.
Wie gegen die Auswahl, so kann
man auch gegen die Darbietung des
Stoffes Bedenken kaum zurückhalten.
Wer einen zuverlässigen Führer durch
die feindliche Gedankenwelt bieten
will, darf sich nicht damit zufrieden
geben, die betreffenden Äußerungen
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PRINCETON UMYER^gUNI
313 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 314
nur zu sachlichen Gruppen zu ver¬
einigen. Man muß sich vielmehr auch
mit ihrer Entwicklungsgeschichte und
ihrer zeitgeschichtlichen Charakteristik
im einzelnen näher beschäftigen, we¬
nigstens wenn man wissenschaftlichen
Wünschen Rechnung tragen will. Eine
lediglich unter sachliche Überschriften
gebrachte Zettelansammlung mit einem
ziemlich mageren verbindenden Text
genügt diesen Wünschen nicht. Wie
wenig Sorgfalt man auf die Charakte¬
ristik im einzelnen verwendet hat, er¬
hellt äußerlich beispielsweise auch dar¬
aus, daß bei Buchzitaten zuweilen die
Jahreszahlen fehlen. Auch genügt es
zur Charakteristik der einzelnen Gei¬
stesprodukte natürlich nicht, aus ihnen
nur einzelne Zitate zu bieten. Es be¬
darf vielmehr vollständiger Analysen,
die sich auch in begrenztem Rahmen
geben lassen, um von den führenden
chauvinistischen Schriftstellern einen
wirklich lebendigen Eindruck zu ver¬
mitteln.
Doch ist es vielleicht schon unberech¬
tigt, an Rohrbachs wesentlich noch als
„Aufklärungsschrift" zu charakterisie¬
rendes Werk überhaupt einen wissen¬
schaftlichen Maßstab anzulegen. Für
das Gebotene wird man gleichwohl
dankbar sein. Neben vielem allgemein
Bekannten findet man hier doch auch
manches Entlegene. Der von Kühn
verfaßte Abschnitt über die Verherr¬
lichung des Krieges aus gefühls- und
verstandesmäßigen Gründen mit den
Folgerungen hinsichtlich der Verach¬
tung des Völkerrechts, des Nationali¬
tätsprinzips u. a. ist ebenso lehrreich ,
wie der über das auserwählte Volk. |
Jedoch wird nicht einmal die Ideen-
geschichte des englischen Imperialis- 1
mus trotz der guten darüber vorhan¬
denen Literatur ausreichend klargelegt.
Im übrigen aber ist ausdrücklich anzu¬
erkennen, daß der erste Band eine will¬
kommene Bereicherung der Kenntnis
ententistischer Seelenverfassung be¬
deutet.
Der verbindende Text ist nicht frei
von Irrtümern und Willkürlichkeiten
Nach S. 17 hat die „eigentliche Ein¬
kreisung Deutschlands“ mit dem anglo-
russischen Vertrage von 1907 begon¬
nen. Nun bringt aber der Band selbst
Zeugnisse genug zur Widerlegung die¬
ses Ansatzes, und der Herausgeber
weiß ja selbst am besten und hat es
früher auch öffentlich ausgesprochen,
daß auch die „eigentliche“ Einkreisung
viel älter ist. Auch die S. 70 angestell-
ten allgemeinen Betrachtungen überdas
am spätesten zu beobachtende Auftre¬
ten des russischen Kriegswillcns über¬
zeugen nicht, um so weniger, als spä¬
ter (S. 231 ff.) gerade der viel ältere
Danilewskij zu Worte kommt. Daß fer¬
ner, wie S.73 behauptet wird, der anglo-
russische Geheimvertrag von 1907 den
Russen Konstantinopel in Aussicht ge¬
stellt habe, ist angesichts der während
der wenig späteren bosnischen An¬
nexionskrise zutage getretenen schar¬
fen anglorussischen Meerengendifferen¬
zen so gut wie ausgeschlossen. Auch
sonst hat der Herausgeber seinen we¬
niger gut unterrichteten Mitarbeitern
vielleicht etwas zuviel Freiheit gelas¬
sen und von seinem reichen Wissen
auf zeitgeschichtlichem Gebiete nicht
immer den nötigen Gebrauch gemacht.
Der zweite Band, der sich mit den
sogenannten Alldeutschen beschäftigt,
hätte wohl Gelegenheit nehmen kön¬
nen, nun von ihnen auch ein möglichst
allseitiges Bild zu geben. Das ist je¬
doch nicht der Fall. Auf die hier teil¬
weise in Betracht kommende Tages¬
presse wird fast gar nicht eingegan¬
gen. Auch die Alldeutschen Blätter
stehen nicht eigentlich im Mittelpunkte
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315 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 316
dieser kritischen Untersuchung, sondern
mehr die Schriften einer Anzahl von
meist obskuren Pamphletisten, deren
Zusammenhang mit der alldeutschen
Zentrale nicht immer so eng ist, wie
die Herausgeber glauben. Überhaupt
sind sie auf das eifrigste bemüht, nur
das sozusagen Utopistisch-Verbreche-
rische dieser ganzen Literatur an den
Pranger zu stellen. Wenn sie auch in
ein paar widerwilligen Sätzen auch der
positiven Arbeit dieser Kreise Aner¬
kennung zollen, so sind sie doch weit
davon entfernt, von dieser positiven
Arbeit z.B. zugunsten des Auslands-
deutschtums irgendeine Vorstellung zu
geben. Der Untertitel des zweiten Ban¬
des trifft also nicht zu.
Eine zu mancher Nachlässigkeit des
ersten Bandes in charakteristischen Ge¬
gensatz tretende Sorgfalt wird auf den
zitatenmäßigen Nachweis des Schadens
verwendet, den diese Literatur im Aus¬
lande angerichtet hat. Dadurch wird
der Anschein erweckt, als wenn dieser
Schaden wesentlich nur durch diese
Literatur hervorgerufen sei, und als
wenn die Mühlen der feindlichen Pro¬
paganda nicht annähernd so gewinn¬
reich hätten arbeiten können, wenn
ihnen nicht die Alldeutschen immer
wieder das zum Betriebe erforderliche
Wasser geliefert hätten. 2 ) Allein auch
dieser Schein trügt und läßt von neuem
erkennen, daß sich die Herausgeber mit
den feindlichen Gedankengängen, wie
sie sich besonders in der Kriegslitera¬
tur der Entente finden, nicht eingehend
genug vertraut gemacht haben. Um
nur ein Gegenbeispiel herauszugreifen,
so hat vielleicht kein Erzeugnis der
deutschen Kriegsliteratur der feindli-
2) Auch der Mißbrauch, den das Ausland
mit dieser Literatur getrieben hat, wird
nicht scharf genug gegeißelt. Reventlow
S. 148 meint sogar, % der alldeutschen Pläne
seien in London erfunden worden.
chen Propaganda und insbesondere der
Hetze gegen den angeblichen deutschen
Imperialismus so dankbaren Stoff ge¬
boten wie Naumanns des Alldeutsch¬
tums ganz unverdächtiges Mitteleu¬
ropabuch. Das ist aber nur ein Gegen¬
beispiel für viele. Es wäre durchaus
irrig, zu glauben, die feindliche Pro¬
paganda habe nur oder auch nur vor¬
wiegend aus den alldeutschen Blüten
Honig gesogen. Rohrbachs eigenes „im¬
perialistisches“ Buch über den deut¬
schen Gedanken in der Welt ist bei¬
spielsweise drüben beinahe derselben
Verurteilung verfallen. Überhaupt sollte
man die Frage, wer im Auslande den
größeren Schaden angerichtet hat, der
deutsche „Chau\inismus“ oder der deut¬
sche Pazifismus und Sozialismus, nicht
so beiseite schieben, wie diese Schrift¬
steller es tun. Zu den pazifistischen
Schädlingen gehört auch Otfried Nip¬
pold, der gelegentlich ohne ein Wort
des Tadels erwähnt wird.
Auch der zweite Band versäumt es
fast ganz, die geistesgeschichtlichen
Wurzeln des sogenannten Alldeutsch¬
tums bloßzulegen. Ohne eine genauere
Behandlung Lagardes, Treitschkes, Go-
biueaus, H. St. Chamberlains, um nur
diese zu nennen, kann man aber nicht
über die Alldeutschen schreiben.
Daß sich, davon abgesehen, in der im
zweiten Bande kritisierten Literatur
manche bedauerliche Auswüchse fin¬
den, wird kein Verständiger leugnen.
Insbesondere die laienhaften Übertrei¬
bungen des Rassegedankens verdienen
gerade vom wissenschaftlichen Stand¬
punkt eine rückhaltlose Ablehnung. An¬
deres freilich, was die Herausgeber
für unerhört erklären, ist das doch nur
von einem grundsätzlich pazifistischen
Standpunkte aus, den nicht jeder zu
teilen braucht. So kann man dem
Werke den Vorwurf tendenziöser Auf-
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PRINCETON UNIVERS
317 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 318
machung nicht ersparen und wird es
begreiflich finden, wenn sich die All¬
deutschen gegen diese karikierende Mu¬
sterkarte ihrer Anschauungen zur Wehr
setzen. —
Wissenschaftlich höher steht die von
Schwertfeger herausgegebene um¬
fangreiche Veröffentlichung aus dem
Archive des auswärtigen Ministeriums
in Brüssel. Auf fünf Bände verteilt,
werden hier 514 neue Aktenstücke zur
Vorgeschichte des Weltkrieges seit 1897
vorgelegt. Sie bringen, wie man auch
im einzelnen zu ihnen stehen mag,
eine wertvolle Ergänzung zu den 119
5m Jahre 1915 vom Auswärtigen Amte
herausgegebenen „Eelgischen Akten¬
stücken*. Die Gesamtzahl der auf diese
Weise der Öffentlichkeit zugänglich ge¬
machten Brüsseler Dokumente ist damit
auf 633 gestiegen, und man darf rüh¬
mend hervorheben, daß zur Vorge¬
schichte des Krieges bisher kein aus¬
wärtiges Ministerium ein so reiches
Material beigesteuert hat wie das Brüs¬
seler. Es ist eine Kriegsbeute, von der
die Wissenschaft der Vorgeschichte des
Krieges noch lange zehren wird.
Der Gattung nach zerfallen diese
neuen Dokumente in zwei Gruppen.
Während sich insbesondere der letzte
Band den „Belgischen Aktenstücken“
von 1915 insofern am genauesten an¬
gliedert, als er die Einzelberichte bel¬
gischer Diplomaten vorlegt und ver¬
wertet, werden die ersten vier Bände
durch sogenannte Zirkulare ausgefüllt,
die zur Information der belgischen Ver¬
treter im Ausland auf Grund eines
oder mehrerer Einzelberichte von der
Brüsseler Zentrale ausgearbeitet wor¬
den sind. Diese Zirkulare sollen also
den einzelnen Diplomaten die zur Zeit
an der Brüsseler Zentrale herrschenden
Anschauungen auf dem Gebiete der
äußeren Politik klarlegen. Da ihre Vor¬
lagen, die Einzelberichte, durchweg
zum Vergleiche herangezogen werden
können, so bietet dieser Vergleich eine
erwünschte Handhabe, in die in Brüs¬
sel herrschenden Anschauungen und
mit ihnen zusammenhängenden, an die
einzelnen Diplomaten weitergegebenen
Direktiven noch tiefer einzudringen.
Die Änderungen und Auslassungen, de¬
nen die Einzelberichte in Brüssel viel¬
fach unterworfen wurden, erlauben
Rückschlüsse auf die besondere For¬
mung des äußerpolitischen Urteils und
Willens. Ein wichtiges Einzelergebnis
ist dabei, daß während der Marokko¬
krise diese Redaktion durchaus die Ab¬
sicht verfolgt, England zu schonen und
seine Politik, zu deren kritischer Beur¬
teilung auch diese belgischen Akten¬
stücke sonst so zahlreiche Anhalts¬
punkte bieten, in möglichst güns.igem
Lichte erscheinen zu lassen (111 37 ff.).
So sind diese Zirkulare zur Kenntnis
der auswärtigen Politik der belgischen
Regierung zweifellos eine Quel'e ersten
Ranges. Freilich hängt es mit ihrer
Entstehung und ihrem geschäftlichen
Zwecke zusammen, wenn sie die
frische Lokal- oder Personalfarbe der
Einzelberichte mehr verwischen und
sich anstatt der greifbaren Äußerungen
ihrer Vorlagen mehr mit phrasenhaften
Wendungen durchhelfen. Dadurch wird
ihr Quellenwert wenigstens zur Ge¬
schichte der allgemeinen internationa¬
len Politik vor dem Kriege doch wohl
mehr beeinträchtigt, als das Vorwort
des Herausgebers zugeben will.
Die den einzelnen Bänden beigege¬
benen Einleitungen der Herausgeber
vermeiden mit Recht eine politische
Stellungnahme im einzelnen und be¬
schränken sich auf eine Aktenrelation.
Leider ist auch von einer sachlichen
Kommentierung der einzelnen Zirkulare
Abstand genommen worden. Noch in
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PRINCETON UNIVERSITY
319 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte dJ
TB
k.
rtfc
320
einem andern Punkte haben die Her¬
ausgeber ihre Enthaltsamkeit zu weit
getrieben. Zur richtigen Würdigung der
Einzelberichte und auch der Zirkulare
wäre es sehr erwünscht, wenn nicht
notwendig gewesen, von den Persön¬
lichkeiten der einzelnen Berichterstat¬
ter ein wenn auch nur flüchtiges Bild
zu zeichnen. Die Versuche, die der
fünfte Band auf diesem Gebiete macht,
sind in den Anfängen stecken geblie¬
ben. Es darf aber insbesondere nach¬
gerade als ein unhaltbarer Zustand be¬
zeichnet werden, daß wir vielleicht von
keinem Diplomaten der Vorkriegszeit
so viele Originalberichte besitzen wie
von dem als belgischen Gesandten in
Berlin von 1888 -1912 akkreditierten
Baron Greindl, daß es aber bisher alle
Herausgeber seiner Relationen ver¬
säumt haben, von diesem einflußreichen
Vertreter der belgischen Regierung im
Auslande eine selbständige politische
und dann auch persönliche Charakte¬
ristik zu geben.
Das Fehlen einer solchen einführen¬
den Charakteristik kann aber gerade in
diesem Falle leicht zu der auch schon
durch Greindls zahlreiche Beiträge zu
den „Belgischen Aktenstücken" hervor¬
gerufenen bedenklichen Vorstellung
verführen, als wenn seine Berichterstat¬
tung wirklich ausnahmslos als „objek¬
tiv" oder „unparteiisch“ gelten könnte,
wie das der Herausgeber im Vorworte
sogar von den meisten Zirkularen und
Einzelberichten anzunehmen scheint.
Nun machen zwar die Herausgeber
selbst aef tendenziöse Stellen in den
belgischen Depeschen öfters aufmerk¬
sam. Aber an den Baron Greindl wa¬
gen sie sich nicht recht heran. Und
doch war dieser hervorragende bel¬
gische Diplomat, was seiner allgemei¬
nen Bedeutung durchaus keinen Ab¬
bruch tut, nach allem, was wir jetzt
von ihm wissen, nicht so unptnBtisch.
wie es auf den ersten Blick scheinen
könnte; denn bei genauerem Studium
seiner Originaldepeschen oder seiner
Beiträge zu den Zirkularen bemerkt
man allmählich, daß er sich in die
reichsdeutschen Gedankengänge, ja in
die Gedankengänge gewisser Parteien
des Auswärtigen Amtes so weit hin¬
eingelebt hat, daß er sie gelegentlich
weitergibt, ohne daß er freilich den
Pflichten eines neutralen Gesandten da¬
mit zuwider'handelte. Vielleicht haben
seine nahen Beziehungen zum Auswär¬
tigen Amt es schließlich sogar ermög¬
licht, daß er von der Berliner Regierung
als Sprachrohr benutzt wurde. Es ist
auch sonst nicht überflüssig zu betonen,
daß auch diese neuen Gesandtschaftsbc
richte bzw. -instruktionen, wenn man die
Zirkulare so bezeichnen darf, der Kritik
unterliegen. Es sind ja nicht primäre,
sondern nur sekundäre Quellen; man
findet in ihnen in der Regel nur den Wi¬
derschein der Ereignisse, wenn auch
einen sehr treuen, nicht die Ereignisse
selbst. Auch daraus ergibt sich eine
Herabminderung des Quellenwertes,
die vom Herausgeber noch deutlicher
hätte hervorgehoben werden können.
Im Zusammenhang damit sei noch
ein Wort über den politischen Wert
dieser im amtlichen Aufträge zusam-
inengestellten Bände gestattet. Es ist
ja gewiß außerordentlich erfreulich,
daß auch aus dieser weit schichtigen
Publikation ebenso wie aus den früher
bekanntgegebenen „Belgischen Akten¬
stücken" zu einwandfreier Charakteri¬
stik einerseits der Friedensliebe der
Mittelmächte und andererseits des
Kriegswillens des Verbandes zahlreiche
überzeugende Beweise beigebracht wer¬
den können, die schon wegen der blo¬
ßen Tatsache der belgischen Pro¬
venienz vielleicht eine höhere Über-
Origiral from
PRINCETON UNIVERSI
321 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 322
zengungskraft besitzen als irgendeine
deutsche oder österreichische Stimme.
Insofern dürfte die politische Wirkung
dieser Veröffentlichung zu unseren
Gunsten ausfallen. Andererseits kann
man aber in einer ganz bestimmten
Richtung auch schon eine schädliche
Wirkung mit um so größerer Sicher¬
heit Voraussagen, als die feindlichen
Pressestimmen zu den während des
Krieges bekanntgegebenen „Belgischen
Aktenstücken“, die von der Entente
keineswegs totgeschwiegen worden
sind, kaum noch einen Zweifel lassen.
Die deutsche Regierung hat zwar die
Tatsache immer zu ihren Gunsten ge¬
bucht, daß diese belgischen Diplomaten
fast ausnahmslos der deutschen Frie¬
denspolitik so weitgehende Gerechtig¬
keit widerfahren lassen und anderer¬
seits für die feindliche Kriegspolitik ein
so wachsames Auge haben. Aber diese
Zeugnisse sind sofort auch zuungun¬
sten Deutschlands! ausgebeutet worden.
Man hat darauf hingewiesen, daß ein¬
mal die deutsche Behauptung von der
belgischen Mitschuld an der Durch¬
löcherung der belgischen Neutralität
vor dem Kriege eben durch diese im
besten Sinne neutralen Akten bündig
widerlegt werde. Der deutsche Neutra¬
litätsbruch aber erscheine jetzt nur in
noch ungünstigerem Lichte. So hat man
angesichts der Publikation von 1915
im feindlichen Lager geschrieben, und
diese Parole wird man sich auch jetzt
nicht entgehen lassen, obwohl die pu¬
blizistische Meute jetzt längst zurück¬
gepfiffen werden kann, da sie ihre mör¬
derische Vergiftungsarbeit mit bestem
und durchschlagendem Erfolge voll¬
führt hat. Gegen das am Boden lie¬
gende Deutschland bedürfte es ihrer
eigentlich nicht mehr.
Ähnlich wie bei den „Belgischen Ak¬
tenstücken“ von 1915 ist der sachliche
Intemationalr Monatsschrift.
Gesamtertrag der fünf Bände an Neuem
nicht übermäßig groß. Irgendwelche
sensationelle „Enthüllungen“ wird man
von den Zirkularen am wenigsten er¬
warten. Ähnlich wie bei der früheren
Veröffentlichung besteht der Ertrag an
Neuem weniger in einzelnen Tatsachen
als in einzelnen Gesichtspunkten und
Urteilen. Der Quellenwert besonders
der Zirkulare kommt eben am meisten
der Charakteristik der belgischen Aus¬
landspolitik selbst zugute. Immerhin
sind die neuen Beiträge zur Geschichte
der internationalen Politik und damit
zur Vorgeschichte des Krieges, die sich
in dieser großen Dokumentensamm¬
lung finden, zahlreich genug, wenn sie
sich auch mehr auf einzelne Schat¬
tierungen schon bekannter Tatsachen
als auf ganz neue und überraschende
Ausblicke beziehen. Nur einzelnes kann
hier noch erwähnt werden. Beachtung
verdienen aus den ersten Bänden u.a.
die Mitteilungen über den Festlands¬
bund von 1900, über die Dreibund-
krise von 1901/02, über Clemenceaus
erstes Ministerium von 1907/09 und
über die Vorgeschichte des anglo-
russischen Abkommens von 1907. Vom
dritten Bande ab spielt die orientali¬
sche Frage eine beherrschende Rolle.
Auf den rastlosen Fortgang der groß-
serbischen Bewegung vor, während und
nach der Annexionskrise fällt neues
Licht, ebenso auf die in Deutschland
noch immer weithin unbekannte ge¬
heime Vorgeschichte des Balkanbun¬
des. Auch über einzelne Wendungen
wie über den austro-russischen Ver-
ständigungsversuch von 1910 kann man
an der Hand der Zirkulare jetzt siche¬
rer urteilen. Im allgemeinen kommt
aber auch auf dem heißen Boden des
europäischen Wetterwinkels die deut¬
sche Zurückhaltung und Friedensliebe
und die den Frieden gefährdende eng-
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323 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen Ober d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 324
lische Geschäftigkeit (III 13 ff.) den
belgischen Gesandten ziemlich deut¬
lich zum Bewußtsein. Hie und da fin¬
det in den Zirkularen auch die neutrale
Politik Beachtung. Wie England aus
naheliegenden Gründen seit 1909 die
belgische Heeresreform begünstigt, so
zur selben Zeit auch die dänische
(III23). Auch die im vierten Bande ent¬
haltenen Zirkulare aus den letzten bei¬
den Jahren vor dem Kriege mit ihren
reichhaltigen Mitteilungen über russi¬
schen und französischen Kriegswillen
einerseits und deutsche und österrei¬
chisch-ungarische Vermittlungspolitik
andererseits fesseln die Aufmerksam¬
keit. Die englische Politik wird in die¬
sen belgischen Quellen hier und an¬
derswo, sei es ausdrücklich, sei es still¬
schweigend, zu günstig beurteilt. Auch
sind die Gesandten gerne geneigt, die
englische Einkreisungspolitik vornehm¬
lich als die höchst persönliche Schöp¬
fung König Eduards hinzustellen. Auch
gegenüber dieser allzu persönlichen
Motivierung hätten in den Einleitungen
Warnungstafeln angebracht werden
können.
Der w'ie der erste von W. Köhler be¬
arbeitete umfangreichste fünfte Band
der Schwertfegerschen Publikation
nimmt insofern eine Sonderstellung
ein, als er nicht mit Zirkularen, son¬
dern mit Einzelberichten arbeitet und
diese nicht bloß zu einer Aktenrelation,
sondern zu einer selbständigen Ge-
schichtsdarstellüng verarbeitet. Sie be¬
schäftigt sich mit einer Ausführlich¬
keit, wie sie bisher in keinem deut¬
schen Buche zu finden gewesen ist, mit
der Entstehungsgeschichte des russisch¬
französischen Bündnisses, einer der äl¬
testen und kräftigsten Wurzeln des,
Weltkrieges. Man könnte nur wün¬
schen, daß diese wissenschaftlich so
förderliche Einzeluntersuchung, für die
hier ein gutes Muster aufgestellt wird,
auf dem weiten Gebiete der Vorge¬
schichte des Krieges mehr als bisher
gepflegt werden möchte, zumal da die
feindlichen Literaturen, soweit sie
ernst genommen werden können, der
deutschen auf diesem Gebiete weit
überlegen sind. Köhlers Leistung hat
allerdings insofern ein vorläufiges Aus¬
sehen, als sie das umfassende über
diesen beliebten Gegenstand vorlie¬
gende feindliche Schrifttum nur ne¬
benbei berücksichtigt, und als sie außer¬
dem unglücklicherweise vor Erscheinen
des ausschlaggebenden dritten franzö¬
sischen (übrigens schon bald beinahe
sekretierten) Gelbbuches erschienen ist,
das nur noch einleitungsweise verwer¬
tet werden konnte. Auch die schon vor¬
liegende deutsche Literatur hätte z.B.
über Bismarcks damalige Englandpoli¬
tik bestimmtere Angaben erlaubt. Daß
die Entstehungsgeschichte des franzö¬
sisch-russischen Bündnisses in die Zeit
der Amtsführung Bismarcks zurückver¬
folgt wird, ist nur zu billigen. Nur
hätte die schicksalsschwere finanzpo¬
litische Annäherung der beiden Mächte
noch mehr in den Vordergrund ge¬
stellt werden sollen, was besonders
auf Grund der schon vor Jahrzehnten
erschienenen französischen Literatur
möglich gewesen wäre. Der Verfasser
hat in dieser und anderer Richtung
seine Bearbeitung absichtlich be¬
schränkt und im wesentlichen nur die
für seinen Gegenstand recht ergiebigen
belgischen Gesandtschaftsberichte her¬
angezogen. Schon damit hat er sich
den dauernden Dank der Forschung
verdient.
Dieser könnte gegenüber der ganzen
wertvollen Veröffentlichung Schwertfe¬
gers noch rückhaltloser zum Ausdruck
gebracht werden, wenn für die be¬
queme Erschließung dieses diplomati-
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325
Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
326
sehen Materials mehr geschehen wäre.
Das Fehlen jeder Art von ausführ¬
lichem Inhaltsverzeichnis und jeder Art
von Register beeinträchtigt die Benutz¬
barkeit dieser Bände empfindlich. Und
es wäre lebhaft zu wünschen, daß diese
bei einem Neudruck hinzugefügt wür¬
den. (Ein zweiter Artikel folgt.)
Julius Wellhausen.
(geb. am 17. Mai 1844 in Hameln, gest. am 7. Januar 1918 in Göttingen.)
Von Otto Eißfeldt*)
Wellhausens Arbeiten zur israelitisch-
jüdischen Geschichte haben am weite¬
sten gewirkt. Aber Becker wird recht
haben: „Die Genialität der individuel¬
len Leistung war auf arabistischem Ge¬
biet wahrscheinlich stärker. Im Alten
Testament hatte er Vorläufer, die Frage¬
stellung war dort gegeben, das Pro¬
blem lag in der Luft, wenn auch erst
sein Eintreten den Stein ins Rollen
brachte. Ganz anders bei seinem Auf¬
riß der Geschichte des arabischen Rei¬
ches. Hier hat er mit bisher unerhör¬
ter Kraft Richtschneisen durch einen
undurchdringlichen Urwald geschlagen
und einzelne Teile in einen wohlge¬
pflegten Park umzuschaffen begon¬
nen“. 12 ) Schon seine Editionen lassen
oft das historische Urteilsvermögendes
Herausgebers erkennen. In den Vorbe¬
merkungen zu der Übersetzung des
Väkidi wird in knapper, aber inhalt-
reicher Erörterung Väkidi dem Ibn Is-
häk gegenübergestellt. In einzelnen
Fällen mag — so wird hier festgestellt
— Väkidi das Ursprüngliche bieten,
aber in den weitaus meisten Fällen,
wo Väkidi und Ibn Ishäk auseinander¬
sehen, hat Ibn Ishäk das Bessere und
'las Ursprünglichere. „Die Tradition,
wie Väkidi sie wiedergibt, ist einen
Schritt über Ibn Ishäk hinausgegangen:
in der Richtung, wie sie sich überhaupt
entwickelt, von dem, was wahr ist, zu
*) Siehe Heft 3.
12) Der Islam Bd. IX, S. 95.
dem, was für schön gilt. Die Wunder
nehmen zu, Engel und Teufel bekom¬
men mehr zu tun, der ganze Ton wird
geistlicher. Die Linien der Zeichnung
werden derber nachgezogen, die Farben
des Bildes stärker aufgetragen. Charak¬
teristische Geschichten, markante Züge
wiederholen sich immer öfter.“ 13 ) Die
Lieder der Hudhailiten wie die Schrei¬
ben Muhammeds und die Gesandtschaf¬
ten an ihn sind von einer historischen
Würdigung begleitet. „Im allgemeinen
— so wird zu den letzteren bemerkt
— .. hat man keinen Grund, an der
Echtheit der Schreiben zu zweifeln. Sie
sind größtenteils an unbedeutende ent¬
legene Geschlechter, an unbekannte und
wenig interessante Personen gerichtet...
Sie entsprechen nicht den Vorstellun¬
gen der Späteren, sofern sie uns Mu-
hammed nicht als rigorosen Prophe¬
ten, sondern als opportunistischen Po¬
litiker zeigen, der die Stellung derer,
die zum Islam übertreten, nicht nach
allgemeinen und gleichen Prinzipien,
sondern nach unter sich ziemlich ver¬
schiedenen Spezialverträgen regelt und
je nach Personen und Umständen mehr
oder weniger verlangt, mehr oder we¬
niger bietet.“ 11 )
Die erste historische Darstellung auf
arabistisdiem Gebiet, „Reste arabischen
Heidentums gesammelt und erläutert“,
von 1887 bezieht sich auf die Religions¬
geschichte. Das Buch stellt eine gewal-
13) S. 14. 14) S. 90 f.
11 "
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Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
327
tige historisch-kritische Leistung dar.
Die Nachrichten über das arabische
Heidentum, die wir haben, stammen so
gut wie ganz aus islamischer Zeit. So
sind sie islamisch gefärbt. Das Heiden¬
tum ist entstellt, nach der schlechten
Seite hin, wenn es sich um Dinge han¬
delt, die der Islam ablehnt, nach der gu¬
ten Seite hin, wo der Islam Heidnisches
.übernommen hat. Beides, islamische
Verklärung und islamische Verdunke¬
lung, entfernt Wellhausen mit gleichem
Geschick. So dringt er bis zum wirk¬
lichen Heidentum vor: Die heidnischen
Gottheiten und Opfer, die altarabischen
Feste und Märkte, Geisterglaube und
Zauberwesen werden vor den Augen
des Lesers lebendig, und dabei fallen
helle Schlaglichter auf Altisraels Re¬
ligion, und umgekehrt hilft Alttesta-
mentliches Arabisches verstehen.
Auch noch auf die Vorgeschichte des
Islams, aber mehr die politische als
die religiöse, bezieht sich die im vierten
Heft der Skizzen und Vorarbeiten 1889
erschienene Abhandlung „Medina vor
dem Islam“. Mit den im sechsten Heft
der Skizzen und Vorarbeiten 1899 ab¬
gedruckten „Prolegomena zur ältesten
Geschichte des Islams“ geht Wellhau¬
sen zum Islam selbst über. Diese Prole¬
gomena verfolgen die Geschichte des
Islams bis zur Kamelsschlacht (656
n.Chr.), wobei die Periode Muhammeds
selbst ausgeschlossen wird. Das Haupt¬
problem, um das es sich hier handelt,
wird gleich auf den ersten Seiten der
Abhandlung deutlich. Zwei, sich im we¬
sentlichen abschließende, Stränge der
Überlieferung kommen hier in Betracht:
Saif einerseits — Ibn Ishäk, Väkidi,
Madäini, Ibn Kalbi andererseits. „Für
oder wider Saif? Das ist die Frage,
auf deren Beantwortung unsere Auf¬
gabe .. zumeist 'hinausläuft.“ 15 ) Bei der
15) S. 5.
Prüfung der Frage erweist sfdh^Hf
als Vertreter der tendenziös-irakischen
Tradition, während die anderen gute
alte medinische Tradition wiedergeben:
diese verdienen also den Vorzug vor
jenem. Zwei den Ereignissen gleich¬
zeitige oder nahezu gleichzeitige Be¬
richte christlicher Kleriker bestätigen
die Zuverlässigkeit der medinischen
Tradition gegenüber der irakischen
Mit dieser Feststellung ist, wenn auch
im einzelnen noch viel zu tun übrig¬
bleibt, die Hauptarbeit für die Ge¬
schichtschreibung dieser Periode ge¬
tan: die medinische Tradition ist dis
Führerin zu wählen.
Die beiden Aufsätze „Die religiös¬
politischen Oppositionsparteien im al¬
ten Islam“ und „Die Kämpfe der Ara¬
ber mit den Romäern in der Zeit der
Umaijiden“ in den Abhandlungen und
Nachrichten der Göttinger Gesellschaft
der Wissenschaften vom Jahre 1901
führen die Arbeit an der Geschichte
des Islams weiter. Ihren Abschluß und
ihre Krönung findet sie 1902 in den)
Monumental werk „Das arabische Reich
und sein Sturz“, dessen Darstellung
bis zum Ende der Umaijidendynastie
(750 n.Chr.) reicht. Eine ganz kurze,
aber um so wertvollere Übersicht über
die für diesen Zeitraum zur Verfü¬
gung stehenden Quellen, ihre Tendenz
und ihre Bedeutung ist der Darstellung
vorangeschickt. Abu Michnaf ist Ver¬
treter der irakisch-kufischen Tradition;
„seine Sympathien sind auf seiten des
Irak gegen Syrien, auf seiten Alis ge¬
gen die Umaijiden“. 1 '’’) Abu Ma'schar
und Väkidi sind Repräsentanten der
medinischen Gelehrsamkeit, die, ohne
sich für die Umaijiden sonderlich er¬
wärmen zu können, doch in wissen¬
schaftlicher Objektivität die Geschichte
des Reichs verfolgt. Die syrische, mit
16) S. V.
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329
Otto Eißieldt, Julius Wellhausen
330
den Umaijiden sympathisierende, Tra¬
dition ist verloren gegangen, aber in
christlichen Chroniken haben sich we¬
nigstens Spuren davon erhalten. Ma-
däini schließlich steht auf abbasidi-
schem Standpunkt. Mit diesen paar
Strichen sind die Grundsätze festgelegt,
an die sich die Verwertung dieser Quel¬
len im allgemeinen zu halten hat. Im
einzelnen liegen hier freilich die Dinge
wesentlich komplizierter als bei der
Zeit der großen Eroberungen. Die Be¬
achtung jener allgemeinen Regeln für
die Benutzung der Quellen führt sehr
oft nicht zum Ziel; da muß dann von
Fall zu Fall nach sachlichen Gesichts¬
punkten entschieden werden. Auf die¬
sen Prinzipien ist das Budi aufge¬
baut, das, zunächst kaum beachtet,
dann — wie Becker sagt 17 ) — „für
den Historiker des alten Islams zu einer
Art von Bibel geworden“ ist.
Der alsbaldige Erfolg oder Mißerfolg
eines Buches ist niemals ein zutreffen¬
der Maßstab für seine Bedeutung. So ist
mit der Feststellung, daß Wellhausens
Studien zur Geschichte des Urchristen¬
tums, seine Bemühungen, die Urkun¬
den des Neuen Testaments; besonders
die Evangelien, als Niederschlag be¬
stimmter geistiger Bewegungen und
Kräfte zu begreifen und sie so als Quel¬
len für die Geschichte des Christen¬
tums im ersten Jahrhundert nutzbar zu
machen, verhältnismäßig wenig ge¬
wirkt haben, noch nichts gesagt. In
Wahrheit verdienen sie die gleiche Be¬
achtung wie seine Arbeiten zur israe¬
litischen und zur arabischen Ge¬
schichte. Eine zusammenfassende Dar¬
stellung der Geschichte des ersten Chri¬
stentums hat Well hausen nicht gege¬
ben. Aber dem Leser seiner Einleitung
in die drei ersten Evangelien drängen
17) S. 96.
sich mit Macht die großen Linien des
Bildes auf, das er sich von diesem Ge¬
schichtsverlauf gemacht hat, so stark
und so deutlich, daß er ohne weiteres
imstande ist, die Linien zum Bilde zu
ergänzen. Wie von Wellhausens lite-
rarkritischer Arbeit am Neuen Testa¬
ment, so gilt es auch von der histori¬
schen, daß vor ihm viele erfolgreich
daran tätig gewesen, und daß seine
Fragestellungen meistens nicht neu
sind. Andere haben gesät, er hat ge¬
erntet. So energisch wie er hatte doch
wohl keiner bisher die Evangelien, auch
das älteste, Markus, und die Redequelle
Q, als Niederschlag des „Evangeliums“
— das er als Evangelium vom ge¬
kreuzigten und auferstandenen Jesus
scharf von Jesu eigener Verkündigung
scheidet — verstehen gelehrt und das
darin von Jesus Stammende auf ein
Minimum reduziert; so entschieden
noch niemand ein „Leben Jesu“ für un¬
möglich erklärt; so überzeugend noch
niemand die Folge der Evangelien von
Markus zu Johannes als eine stän¬
dige Zunahme der Verchristlichungund
Verkirchlichung des Jesusbildes nach¬
gewiesen; so rücksichtslos noch nie¬
mand die Dürftigkeit einer sich auf den
„historischen Jesus" allein aufbauenden
Religion aufgedeckt. Das scheint, mag
auch die wissenschaftliche Erkenntnis
gefördert sein, eine Entleerung des re¬
ligiösen Besitzes zu bedeuten. Das Ge¬
genteil trifft zu. Und hier muß gesagt
werden, daß Wellhausen, der sich dem
kirchlichen Leben gegenüber wohl neu¬
tral verhalten hat, mit dieser Beseiti¬
gung des Dogmas vom historischen Je¬
sus der Kirche und dem Christentum
einen Dienst erwiesen hat, dessen Größe
erst die Zukunft erkennen lassen wird.
Die Richtung der systematisch-prakti¬
schen Theologie, die ganz unbefangen
auf die Ergebnisse der historisch-kriti-
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331
Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
sehen Forschung eingeht, hat vielfach
den historischen Jesus als Quell der
Religion betrachtet, und diese Betrach¬
tung hat den religiösen Besitz nicht be¬
reichert, sondern entleert, nicht gekräf-
tigt, sondern geschwächt. Indem nun
die Historie in einem Forscher, der
ganz und gar nicht apologetischer
Tendenzen verdächtig ist, ihr den histo¬
rischen Jesus nimmt, wird sie sich ver¬
anlaßt sehen müssen, nach tiefer lie¬
genden Quellen zu graben. Aber auch
abgesehen von diesen noch ausstehen¬
den Wirkungen, reißen Wellhausens
Aufstellungen nicht nur nieder, sie
bauen auch auf. Das Bild des ge¬
schichtlichen Jesus bleibt, auch wenn
die Farben der späteren Übermalung
entfernt und nur wenige Striche gelas¬
sen werden, anziehend und leuchtend
genug. „Er verkündet keinen neuen
Glauben, sondern lehrt den Willen Got¬
tes tun. Der Wille Gottes steht für ihn
wie für die Juden im Gesetz und in
den übrigen heiligen Schriften, die dazu
gerechnet wurden. Doch weist er einen
anderen Weg ihn zu erfüllen als den,
welchen die jüdischen Frommen nach
Anleitung ihrer berufenen Führer für
den richtigen hielten und peinlich be¬
folgten... Er hob den Dekalog aus
dem Ganzen heraus und reduzierte des¬
sen Summe auf die Liebe zu Gott und
dem Nächsten... Er legte an die Statute
einen übergeordneten Maßstab an und
beurteilte sie nach ihrem inneren Wert,
nämlich ob sie das Leben der Men¬
schen förderten oder hemmten... Er
forderte Reinheit des Herzens und Lei¬
stungen, die nicht Gott, sondern den Men¬
schen zugute kamen. Denn eben diese
sehe Gott als sich geleistet an, und
darin bestehe der wahre Gottesdienst
— die Moral blieb religiös motiviert
und unabhängig von dem variablen
Götzen Kultur. Man wird durchaus an
332
die alten Propheten erinnert... Man
darf das Nichtjüdische in ihm, das
Menschliche, für charakteristischer hal¬
ten als das Jüdische." 18 ) Und indem
das Evangelium von dem historischen
Jesus geschieden und als Evangelium
von dem gekreuzigten und auferstan¬
denen Jesus bestimmt wird, gewinnt
es nur an Größe. Hier, wo des Histo¬
rikers Forschen seine Grenze hat,
braucht Wellhausen nicht viel Worte,
hier sucht er nicht zu erklären, hier
geht er in schweigender Verehrung vor¬
über. —
Diese Darlegung und Würdigung der
historischen Methode Wellhausens und
ihrer Ergebnisse bedeutet keineswegs
eine Verkennung der Gefahren, die die
Methode mit sich bringt, und noch we¬
niger ein uneingeschränktes Bekennt
nis zu ihren Ergebnissen. Nicht ohne
Grund hat man Wellhausen vorgewor¬
fen, daß seine Parteinahme für diese
Quelle gegen jene hier und da zu
entschieden und zu unbedingt sei; er
folge der einen auch da, wo sie in
Wahrheit kein Vertrauen verdiene, und
lehne die andere auch in solchen Fäl¬
len ab, in denen sie glaubwürdige Nach¬
richten biete. Hier bedürfen dann Well¬
hausens Aufstellungen der Korrektur
Weiter hat man es ihm verdacht, daß
er die geschichtliche Entwicklung so
gut wie ausschließlich aus den ihr im¬
manenten Kräften abzuleiten versuche
und zu wenig Blick habe für die von
außen kommenden Einflüsse. Viel stär¬
ker, als er sich’s gedacht, sei der Ein¬
fluß babylonisch-assyrischen Geistes auf
das Alte Testament, der des Hellenis¬
mus auf den Ausgang der jüdischen
Geschichte und aufs Neue Testament,
der des südarabischen Kulturkreises
und des christianisierten Hellenismus
18) Einleitung S. 1021.
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PRINCETON UNIVER 3
aufs altarabische Heidentum und auf
den Islam. Aber diese Einwendungen
sind nur zum Teil berechtigt. Verkannt
hat er die Einflüsse von außen her
nidht. Freilich hat er gemeint — und
nicht immer mit Unrecht — daß sie
überschätzt würden; auch hat ihn der
Dilettantismus abgestoßen, der auf die¬
sem Gebiet üppige Blüten treibt. In wei¬
ser Selbstbeschränkung ist er auf dem
Gebiet geblieben, auf dem er Meister
war, und hat das andere anderen über¬
lassen.
4.
Well hausen war Historiker. Er hat
auch Blick gehabt für Einzelheiten, für
die „Antiquitäten”. Die einzelnen Perio¬
den des Geschichtsverlaufs haben ihm
in lebendigster Anschaulichkeit vor Au¬
gen gestanden. Die politischen Verhält¬
nisse und die wirtschaftlichen Zu¬
stände, die Art der Wohnung und der
Ernährung, Kleidung und Haartracht,
Recht und Sitte — mit allem war er
vertraut. Zu den komplizierten Fragen
der Chronologie hat er überall selb¬
ständig Stellung genommen. In den An¬
merkungen seiner Schriften steht eine
Fülle von Notizen, die ahnen lassen,
wie konkret und farbig die Geschichte
für ihn Gestalt gewonnen hat. Auch
eigene Abhandlungen über hierher ge¬
hörige Einzelheiten hat er geschrieben.
Aber das Ziel seines Forschens war im¬
mer dies, die großen Linien der Ent¬
wicklung zu erschauen, die Haupt¬
kräfte des Werdens zu erfassen. Die
Worte, in denen er seine „Pharisäer
und Sadduzäer“ der Göttinger Theolo¬
gischen Fakultät als Dank für die ihm
verliehene Doktorwürde darbringt, ent¬
halten den Satz; „Ein innerer Grund,
eben diese Untersuchungen jetzt zu ver¬
öffentlichen, lag für mich in der Vor¬
aussetzung, daß das innere Kräftespiel
jener Geschichte Ihrer Teilnahme sicher
sein werde.“ Erfassung und Darstel¬
lung des inneren Kräftespiels eines Ge¬
schichtsverlaufs — das hat er immer
erstrebt und immer erreicht. Geschichte
ist ihm nicht ein Nebeneinander und
Nacheinander von Ereignissen und Per¬
sonen, Geschichte ist ihm ein Mitein¬
einander und Gegeneinander von Kräf¬
ten und Ideen. So hat er Israels Ge¬
schichte geschaut, so die Geschichte
des entstehenden Christentums, so die
Geschichte des Islams. Das ist im letz¬
ten Falle besonders deutlich. Die Po¬
larität von Staat und Religion, von ara¬
bischem Nationalismus und islami¬
schem Universalismus, von Menschen¬
herrschaft und Gottesherrschaft ist ihm
die treibende Kraft des Islams im er¬
sten Jahrhundert seiner Geschichte. So¬
bald er den Kampf dieser Gegensätz¬
lichkeiten ausgekämpft sieht, mit dem
Hochkommen der Iranier und der Ab-
basiden, bricht er seine Darstellung ab.
Wellhausen hat auch politisches Ge¬
schehen zu erforschen und darzustel¬
len vermocht. Den krausen Irrgängen
höfischer und diplomatischer Intrigen
kann er folgen, das Getriebe politischer
Parteien weiß er bloßzulegen, Schlach¬
ten vermag er anschaulich zu schildern.
Man lese etwa die Geschichte des gro¬
ßen Herodes und blättere in der Ge¬
schichte des arabischen Reiches, um
das bestätigt zu finden. Aber nicht die
politische Geschichte ist ihm die Haupt¬
sache, sondern die Geistesgeschichte
oder genauer: die Religionsgeschichte;
denn auf seinen Gebieten ist Geistes¬
geschichte Religionsgeschichte. Becker
sagt; „Auch seine religionsgeschicht¬
liche Forschung ist, wenigstens auf dem
Gebiete des Islams; völlig dem politi¬
schen Gesichtspunkt untergeordnet. Ihm
war Geschichte politische Geschichte.“ 19 )
19) S. 98.
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335
Otto Eißfeldt, Julius Wellhausen
336
Aufs Ganze gesehen, trifft dies Urteil
entschieden nicht zu. Becker schränkt es
ja auch auf das Gebiet des Islams ein.
Aber auch da müssen, wie mir scheint,
die Akzente anders gesetzt werden.
Das liegt ja auf der Hand, daß Well¬
hausen hier weite Strecken politischen
Geschehens durchmessen hat. Die Na¬
tur der Sache bringt das mit sich. Der
Islam hat ungleich stärker politisch ge¬
wirkt als die Religion des Alten Testa¬
ments und das Christentum. Diese ha¬
ben kirchliche Bildungen gezeitigt, der
Islam politische. So konnte Wellhau¬
sen an ihnen nicht vorübergehen. Aber
die Darstellung der politischen Ge¬
schichte ist der der Religionsgeschichte
untergeordnet, nicht umgekehrt. In den
Vorbemerkungen zu Väkidi sagt er:
„Den Übergang vom Alten Testament
zu den Arabern habe ich gemacht in
der Absicht, den Wildling kennen zu
lernen, auf den von Priestern und Pro¬
pheten das Reis der Thora Jahves ge¬
pfropft ist. Denn ich zweifle nicht
daran, daß von der ursprünglichen Aus¬
stattung, mit der die Hebräer in die Ge¬
schichte getreten sind, sich durch die
Vergleichung des arabischen Altertums
am ehesten eine Vorstellung gewan¬
nen läßt.“ 20 ) Hiernach hat der Wunsch,
das Alte Testament tiefer zu erfassen,
ihn zum Studium des arabischen Hei¬
dentums und des Islams geführt. Dann
haben ihn die Probleme des arabischen
Heidentums und des Islams um ihrer
selbst willen gepackt, und wenn er —
im weiteren Verfolg dieser Probleme
- auch zur Darstellung politischen Ge¬
schehens überging, so hat doch das
religionsgeschichtliche Problem die Füh¬
rung behalten.
Im Grunde ist es ein religionsge¬
schichtliches — aber der Ausdruck ist
20) S. 5.
zu eng: ein menschheitsgeschichtliches
— Phänomen, dem seine Aufmerksam¬
keit gilt, das Phänomen, wie aus den
Tiefen des Seins religiöse Urgewalten
emporbrechen, alte Kultus- und Kultur¬
institutionen zerschmettern und dann
allmählich zu geistlichen Institutionen
erstarren. Und damit steht ein anderes
Phänomen im Zusammenhang, das aber
wohl nur eine besondere Seite des er¬
sten ist: Im Stadium ihrer Jugend¬
frische kennen diese religiösen Ur¬
kräfte keinen Gegensatz zu Welt und
Leben; sie durchdringen alles Leben
und Handeln, aber bilden keinen be¬
sonderen Teil von ihm. Dann altem
sie und konsolidieren sich zu einer
eigenen Welt, der geistlichen, die der
profanen gegenübersteht. Die Prophe¬
ten des Alten Testaments, Jesus und
die an der Gewißheit seiner Aufer¬
stehung sich entzündende Bewegung,
Muhammed — das sind in dem Well¬
hausen naheliegenden Ausschnitt der
Menschheitsgeschichte die Stellen, da
in vulkanartigen Eruptionen religiöse
Urgewalten emporgeschleudert werden,
mit ihrer feurig-flüssigen Glut ihren
Umkreis bedeckend und dann zu festen
Formen erkaltend. Die enthusiastische
Kraft der Propheten, des ersten Chri¬
stentums, Muhammeds wird eingefan¬
gen und aufbewahrt in der nachexili-
schen Gemeinde, in der christlichen
Kirche, in den religiös-kulturellen In¬
stitutionen des internationalen Islams.
Hier ist offenbar der Punkt, wo Fra¬
gen und Antworten des Forschers Zu¬
sammenhängen mit dem Innenleben
des Menschen. Es drängt sich dem Le¬
ser nicht auf, aber es ist oft zu spüren
als erleuchtendes und erwärmendes
Feuer. „Am größten ist er, wo er nicht
mehr quellenmäßig beweist, sondern
bekennt“, sagt Becker 21 )- und solches
21) S. 98.
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PRINCETON UNIVER
lix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
338
len ist am ehesten da zu finden,
wo es sich um die Darstellung kraft¬
voller und ungebrochener, weltoffener
und unbefangener Frömmigkeit han¬
delt, oder um die Schilderung bedeu¬
tenden Menschentums — denn das
deckt sich meistens mit dem ersten.
Der künftige Biograph Wellhausens
wird das als seine größte und schönste
Aufgabe betrachten müssen, die Ein¬
heit des Forschers und des Menschen
zu zeigen, darzutun, wie sein literari¬
sches Werk im allertiefsten Grunde
nichts ist als eine Entfaltung seines
Menschentums.
So steht Wellhausen da als einer der
Großen im Reiche des,Geistes. Mit dem
Jahre 1918 ist eine Epoche der politi¬
schen deutschen Geschichte zu Ende
gegangen und eine neue hat begonnen.
Auch in der deutschen Geistesge¬
schichte bedeutet wohl dies Jahr einen
Einschnitt. Mit vielen Männern politi¬
schen und militärischen Handelns wird
dann auch mancher Mann des gelehr¬
ten Forschens und des künstlerischen
Gestaltens zu der Epoche zu rechnen
sein, die nun zu Ende gegangen ist.
Wellhausen gehört nicht der Vergan¬
genheit an. Er wirkt in der Gegenwart
und er hat auch dem kommenden Ge-
schlechte viel zu geben.
Könige und Skalden
Von Felix
4 .
Die Geschichte Olafs des Heiligen bil¬
det den Mittel- und Höhepunkt von
Snorris Werk. Seinem Autor war sie
so ans Herz gewachsen, daß er sie, die
Keimzelle seiner ganzen Arbeit, aus
der sich ihm der tiefere Sinn seines
Königsbuches nach rück- und vorwärts
entwickelte, noch einmal in einer beson¬
deren Monographie behandelte. Seine
Aufgabe als Forscher war hier beson¬
ders schwer. Ihm stand ein reiches,
aber vielfach unzuverlässiges Quellen¬
material zur Verfügung. Zwei Auffas¬
sungen von dem König fand er vor.
Die ältere kirchliche ging auf Homi-
lienbücher und Heiligenlegenden zu¬
rück, in denen der König frühzeitig
eine Lieblingsfigur wurde. Hier war
alles in majorem Dei gloriam gestal¬
tet. Der König spielte als christlicher
Kämpfer etw’a die Rolle wie der frän¬
kische Herrscher im altdeutschen Lud-
*) Siehe Heft 3.
in der Heimskringla.
Niedner*)
wigsliede. Die jüngere weltliche Vor¬
stellung vom Könige stand der Wirk¬
lichkeit näher. Die Selbständigkeit des
Kriegers und Staatsmanns trat stärker
hervor, der mit dem „heiligen König“
verknüpfte Wunderglaube mehr zurück.
Dem Politiker Snorri lag diese Auffas¬
sung näher als die der geistlichen Tra¬
dition. Der Historiker in ihm konnte
doch auch diese als geschichtliches Mo¬
ment nicht übergehen. Schon ein mo¬
derner Geschichtschreiber, der Kreuz¬
züge etwa, kommt um die Einschätzung
gewisser mit dem Wunderglauben des
Mittelalters zusammenhängender Im¬
ponderabilien als geschichtlich wirk¬
samer Kräfte nicht herum. Viel weniger
Snorri, der bei aller Unbefangenheit
seiner Forschung als Christ damaliger
Zeit doch der kirchlichen Tradition
viel näher stand. So nahm er naturge¬
mäß einen vermittelnden Standpunkt
ein. Sein Bestreben ging dahin, zwi¬
schen dem weltlichen Herrscher und
dem christlichen Glaubenshelden einen
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PRINCETON UNIVERSITY
340
Felix Niedncr, Könige und Skalden in der Heimskringia
339
inneren Zusammenhang herzustellen,
beide Seiten aus dem Charakterbilde
des Königs im ganzen zu motivieren.
Man mag zweifelhaft sein, ob ihm dies,
rein historisch genommen, restlos ge¬
glückt ist, ja ob diese Aufgabe bei der
Zwiespältigkeit seiner Quellen über¬
haupt möglich war. Künstlerisch ge¬
staltend hat er sie jedenfalls! glänzend
gelöst. In dem Bilde, wie es Snorri hier
von dem norwegischen Nationalheros
des Mittelalters gezeichnet hat, ist dieser
In das Gedächtnis der Nachwelt über¬
gegangen.
Wie Olaf Tryggvissohn stammte auch
Olaf Haraldssohn von König Harald
Schönhaar durch eine südnorwegische
Linie des Königsgeschlechtes. Wie sein
Vorgänger wuchs er aus einer Führer¬
stellung auf weitausgedehnten Wikin¬
gerfahrten, aus ruhmvollen Kämpfen
in Frankreich, an der Londoner Brücke
und auf den britischen und nordischen
Eilanden durch eigene Tüchtigkeit in
sein Königtum hinein. Vielleicht nicht
so genial veranlagt wie Olaf Tryggvis¬
sohn, hat er doch durch zähe zielsichere
Ausdauer im großen, durch kluge Be¬
rechnung und Nachgiebigkeit im klei¬
nen dem Königsgedanken und der Be¬
kehrung Norwegens im höheren Maße
wie jener zum Siege verholten.
Zunächst hatte ihm Olaf Tryggvissohn
eine schlimme Erbschaft hinterlassen.
Nach der Svoldschlacht war das Reich
_ unter Schweden- und Dänenkönig und
Drontheimer Jarl geteilt. Der Kampf
gegen den Dänenkönig, dem Olafs
eigene Heimat, der Süden Norwegens,
zugefallen war, verquickte sich hier für
ihn eng mit den inneren Wirren des
Reiches. Denn die dortigen Kleinkönige
benutzten ihre Stellung als Vasallen
des Dänenkönigs, der, Norwegen fern,
ihnen ziemlich freie Hand ließ, um ge¬
schlossen gegen Olaf als Usurpator
aufzutreten. Mit Hilfe des klügsten von
ihnen, Olafs Stiefvater Sigurd Sau,
gelingt dem König deren freiwillige
Anerkennung seiner Oberhoheit, dann
bei späterer Empörung ihre Entthro¬
nung. Damit ist auch die dänische
Herrschaft im Süden beseitigt. Schwie¬
riger gestaltet sich die Lage im Osten
des Reiches. Der Schwedenkönig, ein
Namensvetter Olafs, ein energischer,
aber geistig beschränkter Autokrat
kann nur durch langwierige politische
Verhandlungen zu einem Verzicht auf
seinen Anteil am Norwegerreiche ge¬
bracht werden. Nur durch Waffenge¬
walt aber war die Oberhoheit des Kö¬
nigs im Norden des Reiches wieder¬
herzustellen. Dies erfolgt durch den
glänzenden Sieg bei Vesjar im Christi-
aniafjord, der den Bruder und Nach¬
folger des verstorbenen Drontheimer
Jarls Erich außer Landes zu gehen
zwingt.
Diese drei Unternehmungen des Kö¬
nigs, die ihn, seine Vertrauten und Wi¬
dersacher redend und handelnd in einer
Frische und Gegenständlichkeit zeigen,
als hätte Snorri selbst ihren Thingen
und Taten beigewohnt, stellen zugleich
farbenreiche, liebevoll bis ins Detail
ausgeführte Kulturgemälde dar. Vor¬
trefflich ist besonders das staatliche
und häusliche Leben des südnorwegi¬
schen Kleinfürstentums und der stolze
und unabhängige Sinn der damaligen
schwedischen Großbauern gezeichnet-
Man versteht es, wie im Süden Norwe¬
gens die innere Haltlosigkeit jener
Kleinkönige, in Schweden der Zwie¬
spalt zwischen König und Bauerntum
der in glücklicher Weise Tatkraft
und Nachgiebigkeit vereinigenden Poli¬
tik Olafs in die Hände arbeiteten. Die
gleiche geistige Überlegenheit Olafs tritt
auch hervor in der Art, wie er nach
Vertreibung des Drontheimer Jarles
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PRINCETON UNIVEj
341
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
342
dem alten Heidentum im Norden den
letzten Stoß versetzt. Snorri hat uns
dieses hier auf seinen Opferfesten, die
im Mittwinter ihren Höhepunkt errei¬
chen, noch einmal unparteiisch in sei¬
ner ganzen Kraft und Lebensfülle ge¬
zeichnet. Und doch wirkt die Zertrüm¬
merung des Thorbildes im Auftrag des
Königs nach dessen ganzem Auftreten
vor versammeltem Volke nicht wie bei
Olaf Tryggvissohn als brutaler Gewalt¬
akt. Aus den Worten des bekehrten
mächtigen Häuptlings Gudbrand im
gleichnamigen Tale klingt deutlich die
Anerkennung von einem moralischen
Siege Olafs heraus. Einen solchen stellt
auch die Antwort dar, die Olaf seinem
großen Gegner, dem Könige Knut von
Dänemark und England, auf dessen An¬
sinnen, Norwegen von ihm als Lehn zu
nehmen, erteilt. Aus ihr spricht das
Bewußtsein, nicht nur durch seine Ge¬
burt der legitime Herrscher Norwegens
zu sein, sondern dieses Anrecht auch
durch gerechtes und unparteiisches
Walten, durch Schutz der Schwachen
im Lande im Sinne des Christentums
verdient zu haben.
König Knut, den Snorri vielleicht zu
einseitig als ländergierigen Eroberer
aufgefaßt hat, erreicht seinen Zweck
weniger durch Waffengewalt als durch
skrupellose Bestechung aller der Ele¬
mente im Norwegerreiche, die sich
durch Olafs straffes Regiment in ihrem
Eigenwillen oder ihrem Eigennutz ge¬
kränkt glaubten. Snorri hat neben den
königstreuen Männern am Hofe, vor
allem dem trefflichen Marschall Björn,
auch diese Unzufriedenen unter den
norwegischen Großen lebensvoll ge¬
zeichnet. Er führt in einer Fülle von
Episoden uns die mannigfachen Mo¬
tive ihrer Parteinahme für oder wider
den König vor. Bei den vier Arnissöh¬
nen spielen sich, mit den Ereignissen
wechselnd, alle Schattierungen dieser
Königsfreundschaft und -feindschaft
auf dem Boden ein und derselben Fa¬
milie ab. Andere Große hängen durch
Verschwägerung oder persönliche
Freundschaft eng miteinander zusam¬
men. Wir lernen sie auf Wiking- und
Handelsfahrten, in ihren Gauen beim
Thing und am häuslichen Herde ken¬
nen, und wir beobachten, wie das Netz
geheimer Verschwörung sich um den
nach außen noch kraftvoll dastehenden
Herrscher allmählich zusammenzieht.
Als der König nach Dänemark gegen
Knut zieht, versagen die einflußreich¬
sten der Großen. Der eigennützige Ei-
nar Bogenschüttler wartet in England
auf Beförderung durch den Feind, der
eigenwillige Harek von Tjöttö aus dem
Nordland segelt, durch Knut bestochen,
in Dänemark aus des Königs Flotte da¬
von, während dieser dort erfolgreich
kämpft und nur durch die Unfähigkeit
seines Bundesgenossen, des Königs
önund von Schweden, gezwungen wird,
nach Norwegen zurückzugehen. Hier
stellt sich ihm Erling Skjalgssohn, der
mächtigste Mann aus dem südwest¬
lichen Norwegen, entgegen, muß aber,
im Kampfe besiegt, seinen Verrat mit
dem Tode büßen.^Snorri hat ihn nicht
beschönigt, und doch glaubt man in
seiner liebevollen Zeichnung dieses
selbstgemachten Mannes, der in seinem
Unabhängigkeitsdrange stets jede äu¬
ßere Würde verschmäht hatte, die Sym¬
pathie des freien Isländers für ihn zu
spüren. Am schärfsten aber kommt der
Bürger des Freistaats in Snorri zum
Ausdruck, als er nach Olafs großen
Waffen- und Missionserfolgen auf den
nordischen Inseln bis Grönland hin auf
seine Heimat zu sprechen kommt. In
feierlicher Allthingssitzung wird dort
Königs Olafs Forderung einer politi¬
schen Unterwerfung der Insel abge-
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lehnt. In der Rede des Häuptlings Ei-
nar spricht offenbar Snorri selbst zu
seinem Volke im Hinblick auf die ana¬
logen Zustände der Gegenwart.
Am Hofe König Jaroslaws von Now¬
gorod, wo Olaf während seiner völli¬
gen Verlassenheit weilt, reift der Plan
seiner Wiedereroberung Norwegens.
Anschaulich malt uns hier Snorri, wie
nüchterne staatsmännische Erwägung
und durch sein Unglück geläuterter
Glaubenseifer ihn gleichmäßig zu die¬
sem Entschlüsse führen. So zieht er,
vorerst nur mit wenigen Getreuer», zu
seinem letzten Waffengange in Nor¬
wegen aus, der ihm dort im Jahre
1030 in der Schlacht bei Stiklestad zwar
Niederlage und Tod, aber doch mora¬
lisch den Sieg über seine uneinigen
Gegner einträgt.
Das Schlußgemälde, das Snorri hier
vor und in dieser Schlacht vom Herr¬
scher entwirft, gestaltet die Gegensätze
des nordischen Volkskönigs und des
christlichen Glaubenshelden zu einem
überraschend einheitlichen Bilde. Ver¬
sonnen, schon in einer andern Welt,
reitet Olaf von Nordschweden nach
Norwegen hinab. Er trifft für den Fall
seines Todes alle Anordnungen bis auf
die Bestimmungen der Seelenmessen
für die gefallenen Feinde, er verspricht
seinen Anhängern nach seinem Ende,
das er im Traum von der Himmels¬
leiter vorausahnt, Vereinigung mit sich
im Jenseits. Und doch hofft er wieder
in echter Kämpenfreude auf Sieg, be¬
reitet in dieser Voraussicht weltkluge
Maßnahmen vor, kämpft dann wie
seine heidnischen Vorfahren gleich
einem Löwen in der Schlacht wider die
Übermacht und wird noch im Tode
der Schrecken seiner Gegner. Snorri hat
auch diese trefflich charakterisiert. Er
macht uns vor der Schlacht durch die
glänzende Rede des in Knuts Solde
stehenden schlauen Pfaffen SHJtBJT'mit
allem bekannt, was die Gegenpartei
an berechtigten Vorwürfen gegen den
Usurpator Olaf glaubt Vorbringen zu
müssen. Anderseits tritt gegenüber dem
geschlossenen Auftreten Olafs die Un¬
einheitlichkeit und innere Haltlosigkeit
der Führer des feindlichen Bauernhee¬
res scharf hervor. Schon die histori¬
schen Quellen vor Snorri ließen ahnen,
daß durch sie wie durch die Härte des
von Knut eingesetzten Nachfolgers
Olafs und durch die Verbreitung des
Gerüchtes von des Königs Heiligkeit
eine Wandlung der Volksstimmung zu
seinen Gunsten eintreten würde. Aber
erst die Gestalt des Herrschers, wie
Snorri ihn hier gezeichnet hat, macht
es doch begreiflich, daß dieser Um¬
schwung schon gleich bei seinem Tode
so elementar einsetzt, und erklärt die
beherrschende Rolle, die er nach sei¬
nem Ende durch Traumerscheinungen
und Weissagungen noch in den spä¬
teren Königsgeschichten spielt.
Snorris Leistung in der Schilderung
dieser letzten Vorgänge ist um so be¬
wundernswerter, als ihn hier seine
beste weltliche Quelle fast ganz im
Stich ließ. Diese war über die für das
norwegische Königtum peinliche Nie¬
derlage bei Stiklestad ganz kurz hin¬
weggegangen. Bei seiner mit dem di-
vinatorischen Scharfblick des großen
Historikers aufgebauten Darstellung
hat wieder die genaue kritische Kennt¬
nis der einschlägigen Skaldendichtung
Snorri die größten Dienste geleistet.
5.
Der bedeutendste Skalde aus der Zeit
Olafs des Heiligen ist Sigvat Thords-
sohn aus Südisland. Seine Lieder
haben einen hohen Wert als Quelle
und Schmuck für Snorris Prosadar¬
stellung. Aber auch das ganze Leben
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
346
des Dichters ist aufs engste mit den
Schicksalen des Herrschers verknüpft.
Eine ursprünglich selbständige Saga
von Sigvat ist mit größter Kunst in
die Lebensgeschichte des Königs ver¬
woben. Anders als Hallfred kam Sig¬
vat bereits mit 20 Jahren an den Hof
seines Herrschers, für den schon sein
Vater Thord gedichtet hatte, und sein
Leben spielt sich fortan in Norwegen
ab. Durch keckes Auftreten erreicht
er beim König die Aufsagung seiner
„Wikingerweisen“, in denen er dessen
Jugendfahrten besungen hatte. Von
nun an bleibt er allein seinem Dienste
geweiht, ja er überträgt diese Treue
auch auf den Sohn und Nachfolger
Magnus bis zu seinem eigenen Tode.
Sigvats erstes bedeutendes Gedicht
sind die „Nesjarweisen“, in denen er
den für die Wiedervereinigung des
Reiches entscheidenden Sieg des Kö¬
nigs feiert. Den Höhepunkt der hoch¬
stilisierten Handlung bildet die Ente¬
rung von des Drontheimer Jarls Schiff
durch den kühn der goldverzierten
Fahnenstange nachstürmenden König.
Aber sie und alle Momente der Schlacht
sind belebt von selbsterschauten Ein¬
zelzügen. Der Dichter malt im Kampfe
sich und seine Bankgenossen aus der
Königshalle, deren einen er im Eifer
der Schilderung namentlich als Zeu¬
gen aufruft, wie sie alle im Gefolge
des Herrschers mitfochten und stolz
auf dessen Leistungen, aber auch auf
ihre eignen waren. „Da barg ich im Sturm
der Pfeile unter dem welschen (kost¬
baren. ausländischen) Helm mein
schwarzes Haar. Wir folgten dem jun¬
gen Könige. Der Kampfvogel (Rabe)
bekam Blut zu trinken. Es war anders,
als wenn (in der Königshalle) die Maid
den Männern Met schenkt.“ Man ver¬
steht, wie ein Gedicht wie dieses nach
heißer Schlacht beim festlichen Gelage
vorgetragen, König, Gefolge und Skal¬
den in der Erinnerung gemeinsamer
Ruhmestat, aber auch in der wahrheit-
lichen Kontrolle des zusammen Erleb¬
ten innerlich zusammenschloß.
Sigvat hatte in der Schlacht wacker
seinen Mann gestellt, aber er war doch
keine Kämpennatur wie Egil Skalla-
grimssohn und kein steifnackiger Heide
wie Hallfred. Er war schon im Chri¬
stenglauben erwachsen und von Na¬
tur friedfertig und versöhnlich. Diese
Eigenschaften machten ihn für poli¬
tische Missionen in des Königs Dienste
besonders geeignet. Marschall Björn
und ein anderer Skalde Olafs hatten
mit ihrem Aufträge, bei dem wider¬
spenstigen Schwedenherrscher in des
Königs Sinn zu wirken, wenig Glück
gehabt. Sigvat befestigt nicht nur auf
einer Mission an den Hof des götlän-
dischen Jarls Rögnvald mit großem
Geschick Olafs alte Freundschaft mit
diesem, er hat dem König auch mit
Rögnvalds Hilfe wider den Willen des
Schwedenkönigs dessen Tochter als
Gattin zugeführt, eine Verschwägerung,
die Olaf später in seinem Kampfe ge¬
gen Knut von England zustatten kam.
Sigvat hat dies Schwedenabenteuer in
einem humordurchwürzten Liede be¬
sungen. In das dichterische Gemälde
von dieser ernsten Staatsmission hat er
scherzhafte Augenblicksbilder aus den
Mühen und Fährnissen, die ihn unter¬
wegs heimsuchten, eingefügt. Der
lange Marsch durch den Eidawald,
Schiffahrt auf halsbrecherischem Boot,
seine ständige Abweisung als Christ
durch die ungastliche heidnische Be¬
völkerung liefern ihm reichlichen Stoff
zu gutmütigem Spott, und seinen aus¬
geglichenen Charakter spiegelt die hei¬
tere Selbstironie, mit der er diese Un¬
bilden erträgt. Auch Fahrten nach dem
Westen hat er in dieser Reisestimmung
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heiniskringla
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besungen. Sie führten ihn an den Hof
Knuts von England, dessen Liebens¬
würdigkeit und Goldspenden andere
Skalden Olafs in seinen Dienst gelockt
hatten. Sigvat aber blieb fest. „Nur
einem Könige könne man dienen“,
sang er im Liede und kehrte an König
Olafs Hof zurück. Schon vorher hatte
Olaf Sigvat zum Marschall dort er¬
nannt. Er ist fortan am Königshofe
neben dem ihm befreundeten Marschall
Björn dessen festeste Stütze und
höchste Zierde. Wiederholt schafft er
dem König in kritischen Situationen
Rat und spielt auch in heiklen Lagen
der Hofgesellschaft zwischen ihr und
dem streng auf seine äußere Würde
haltenden Herrscher den gern gesehe¬
nen Vermittler. Am besten mit Olafs
Seelenleben vertraut, darf er manches
wagen, was andern verhängnisvoll ge¬
worden wäre. So tauft er auf eigene
Gefahr hin dessen neugeborenen Sohn,
und zwar auf den für die norwegische
Dynastie ganz ungewöhnlichen Namen
Magnus. Der König verzeiht ihm diese
doppelte Eigenmächtigkeit, als er hört,
daß Sigvat den Namen im Hinblick
auf Karl den Großen, „den besten Mann
dieser Welt“, gewählt habe. Durch
hohe Kunst dichterischer Improvisation,
die ihm so leicht von der Lippe floß
wie andern die Alltagsrede, hielt Sigvat
manches ernste und heitere Stimmungs¬
bild aus seiner Umgebung fest. In der
Unglückszeit des Königs wandte er sie
an, um für die Treue zu diesem Stim¬
mung zu machen. Hier lodert aus dem
friedfertigen Mann wohl auch der
Zorn, der Olafs Verräter zur Hölle
wünscht. Im ganzen tragen doch auch
diese Liedweisen, Sigvats vermitteln¬
der Natur entsprechend, mehr den Cha¬
rakter politischer Aufklärung und der
Mahnung zur Versöhnlichkeit. In sol¬
cher Friedensstimmung vertauscht er
dann, um für seinen König zu beten,
das noch eben von diesem als Ge¬
schenk erhaltene goldgeschmückte
Schwert mit dem Pilgerstab zur Rom¬
fahrt.
In der Schlacht bei Stiklestad, der
Sigvat, noch jenseits der Alpen wei¬
lend, fern bleiben mußte, tritt ein an¬
derer Dichter des Königs, Thormod
Bersissohn, nach der Isländerin, die er
besang, der „Schwarzbrauenskalde“ ge¬
nannt, mächtig in den Vordergrund. Die¬
ser ist im Gegensatz zu dem friedfer¬
tigen Lieblingsskalden des Herrschers
eine leidenschaftliche Kämpen- und
Skaldennatur alten Stils. Ergreifend ist
die Schilderung am Morgen der
Schlacht, wo König Olaf ihn auffordert,
zur Anfeuerung der Truppen einen
Schlachtgesang anzustimmen. Da trägt
er das alte Bjarkilied vor, in dem der
berühmteste Recke des Dänenkönigs
Rolf Krake die Gefährten zum Vertei¬
digungskampf für ihren in seiner Halle
überfallenen König aufruft und dann
später, selbst im Streite gefällt, zu
Häupten seines toten Herrschers sich
zur letzten Ruhe bettet. Dieser Liedvor¬
trag bringt Thormod die letzte Gabe
seines Königs und den Dank des gan¬
zen Heeres ein. Im Sinne des eben
vorgetragenen Gedichtes erneuert er
dem Herrscher das Gelübde seiner
Treue bis zum Tod, das er schon vor¬
her im Wettgesang mit andern Skal¬
den im eignen Liede ausgesprochen
hat. Dann ficht er mit diesen in der
Schildburg um den König aufs tap¬
ferste, bis seine Liedgenossen fallen
und er selbst die tödliche Wunde emp¬
fängt. Aber selbst dann verläßt ihn
nicht sein Heldenmut und seine Kunst
als Dichter. Den Doppelschmerz der
Wunde und um den Tod des Königs
erträgt er unter grimmigen Qualen, und
noch der Sterbende spielt in einer Skal-
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
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denweise einer die Verwundeten hei¬
lenden Frau gegenüber, der sein blas¬
ses Aussehen aufgefallen war, mit bit¬
terem Humor auf seinen hoffnungs¬
losen Zustand an:
Umsonst — blick’ nur! — bin ich
Bleich nicht, Falk-Lands Eiche. 1 )
Schau, Wunden verschönen
Schwer: weilt' ja im Pfeilsturm!
Denk’, daß Eisen, dunkles.
Dort jäh midi durchbohrte.
Durch fraß es sich, fürcht’ ich,
Dies Erz, an mein Herze.
Dem Herrscher war aus Äußerungen
seiner Skalden vor der Schlacht ihr
Berufsneid auf Sigvat nicht entgan¬
gen. Selbst aus des ritterlichen Thor-
mod letzter Weise an ihn tönte er her¬
aus. Der König hatte aber keinen Zwei¬
fel darüber gelassen, daß Sigvat, der
in Rom für ihrer aller Seelenheil wirke,
nach wie vor sein Vertrauen besitze.
Sie aber, hatte er dann zu den Skalden
t gesagt, wolle er neben sich haben in
, der Schildburg. Sie sollten für späte¬
ren Skaldengesang nicht erst durch an¬
dere über die Vorgänge der Schlacht
unterrichtet werden. Sie sollten sie aus
eigenem Erlebnis in nächster Nähe
schauen. Es war anders gekommen.
Thormod und seine Mitskalden waren
gefallen, aber Sigvat, den sie in ihren
Gesprächen vor dem Kampf wegen sei¬
ner unverschuldeten Abwesenheit ge¬
schmäht hatten, brachte das Bild der
tur ihren König trotz der Niederlage
so ruhmreichen Schlacht in seinem
schönsten Skaldenliede auf die Nach¬
welt. Er schildert den Eindruck, den
der Herrscher dort machte:
Mein’, schrecklich den Männern
Mocht’s sein, wenn sie fochten,
In allkQhnen Olafs
Ehern Aug’ zu sehen.
Sein Bli ck wurmgleidi *) beugte
1) Falkland ist der Arm (Sitz des Falken
auf der Jagd). Das Ganze eine Umschrei¬
bung für Frau. 2) Wie der Blick eines Dra¬
chen.
Bondenvolk’), dich, Drontheims.
Der Gaufürsten Gönner 1 )
Grau’nvoll war zu schauen,
weiter schildert er das Eintreten der
— historisch ungefähr gleichzeitigen
— Sonnenfinsternis, die das düstere
Schlachtgemälde Wirkungsvoll ab¬
schließt:
Die Sonne nicht sandte —
Seltsam Wunder erzählt man —
Warmen Strahl, obwohl sie
Wolkenlos, dem Volke.
Kund da ward des Königs
Kennzeichen ’) den Männern.
Lichter Tag sein Leuchten
Ließ. — Von Ost so hieß es. 6 )
Auch dem später zur Erinnerung an
den Tod des Königs in dieser Schlacht
eingesetzten St. Olafsfesttag gab Sig¬
vat die dichterische Weihe:
Schon ruht in dem Schreine 7 ),
Schöngüld'nem, mein König.
Bei Gott jetzt der Güt'ge
Ganz weilt, nenn' ihn heilig...
Olafs Meßtag 8 ) muß ich,
Magnus 9 )vaters, dankbar
Hier im Hause feiern.
Herr, Kraft ihm beschert’st du.
Das Gedächtnislied auf Olaf, aus dem
die obigen Strophen stammen, ist ein
Jahrzehnt nach dem Ende des Herr¬
schers, kurz vor Sigvats eigenem Tode,
entstanden. Schmerz um den Verlust
seines alten Königs, aber auch der
Wunsch, dessen Nachfolger Magnus in
ihm ein Vorbild hinzustellen, haben
es geboren.
Ein eigentümlich weicher Ton durch¬
zieht die Weisen, die Sigvat auf und
nach seiner Rückkehr von Rom auf
seinen toten König dichtete. Sie sind
fast wie ein Vorklang mittelalterlicher
Minnesangsstimmung. Man denkt an
Friedrich von Hausens, Barbarossas
3) Bauernvolk. 4) Der König. 5) Sein
Tod. 6) Aus Norwegen hörte ich dies.
7) Im Sarge. 8) Erinnerungstag. 9) Mag¬
nus' des Guten. Er hatte den kostbaren
Sarg anfertigen lassen.
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351 Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
treuen Lehnsmanns, dichterische Seelen¬
not zurück, wenn man Sigvat, noch
auf Alpenfirste, um seinen gefallenen
Herrscher klagen hört. Freilich, Frauen¬
liebe bringt ihm nicht Schmerz. Die
Pein des verwaisten Königsmannen er¬
scheint ihm größer. Sigvat meidet un¬
stet Haus und Hof daheim in Dront-
heim. Er flieht den Freundeskreis der
alten Hofgesellschaft. Sein König fehlt
bei ihren Spielen. Rastlos durch¬
schweift er das Land, an alten Erin¬
nerungsstätten Olafs gedenkend. Die
kreischenden Raben und Adler imHillar-
sund rufen ihm das Bild des Königs s der
sie dort im Kampf von seinem Drachen¬
schiff aus labte, ins Gedächtnis zurück.
Er fährt die norwegische Küste ent¬
lang. Sie scheint ihm ganz verändert.
Das ödeste Klippenland kam ihm köst¬
lich vor zu Olafs Zeiten. Jetzt dünkt
ihm schal selbst das schönste Grün det
Almen. Diese sentimentale Stimmung
hält auch noch an in den Versen, in
denen er sich gegen alte Neider am
Königshof verteidigt. Man erwartet
flammenden Protest gegen die Ver¬
leumdungen, die den treuen Mann we¬
gen seines Fernbleibens von der
Schlacht bei Stiklestad der Untreue ge¬
gen König Olaf ziehen. Aber auch seine
beteuernden Verwahrungen zeigen die
Niedergedrücktheit und Fassungslosig¬
keit, die ihn damals beherrschte, und
beweisen, wie wenig diese Klagestim¬
mung dichterisches Spiel war. Dann
aber erwacht mit der neuen Aufgabe,
die ihm erwächst, in Sigvat plötzlich
wieder die alte Frische und Tatkraft. Es
galt für den jungen Königssohn einzu¬
treten, den er einst selbst hoffnungsvoll
auf den Namen Karls des Großen ge¬
tauft hatte. Sehnsüchtig harrt er auf
des Königskindes Rückkehr von dem
Hofe zu Nowgorod, wo es während
der Wirren der letzten Jahre Aufnahme
gefunden hatte. Als dann infolge der
allgemeinen Mißstimmung, die im
Lande über die harten Gewaltmaßre¬
geln des von Knut eingesetzten Nach¬
folgers herrschte, die ehemaligen Geg¬
ner des Königs, Einar Bogenschüttler
und Kalf Arnissohn, den jungen Magnus
aus Rußland in die Heimat zurück¬
holten, da jubelt Sigvats Herz ihm ent¬
gegen. Er wird wie früher die Stützp
der Königsfamilie und macht für sein
Patenkind auch in der Dichtung die
lebhafteste Propaganda.
Man bekommt selbst in Snorris mei¬
sterhafter Darstellung kein sehr ein¬
drucksvolles Bild von diesem Herr¬
scher. Durch die wundertätige und be¬
ratende Einwirkung Olafs des Heiligen
allzusehr in den Schatten seines gro¬
ßen Vaters gerückt, erweckt er nicht
die Vorstellung einer starken und selb¬
ständigen Persönlichkeit. Trotz kriege¬
rischer Lorbeeren und vorübergehender
politischer Erfolge stellt Magnus’Herr¬
schaft keinen Fortschritt in der Ent¬
wicklung des Reiches dar. Besonders
gefährlich aber wurde er dieser, als er.
einer Art tyrannischer Anwandlung
nachgebend, in hartem Auftreten ge¬
igen die Großen, die gegen seinen Va¬
ter in der Schlacht bei Stiklestad ge¬
fachten hatten, und in der Vergewal¬
tigung der freien Bauern des Landes
den Bogen seiner Herrschaft über¬
spannte. In dieser Notlage des Rei¬
ches, wo offener Aufruhr unmittelbar
bevorstand, wurde Sigvat, der väter¬
liche Freund des Königs, der schon bei
Olaf dem Heiligen so oft Rat gewußt
hatte, von den einflußreichen Männern
im Lande mit der heiklen Aufgabe be¬
traut, am Königshofe den Rater und
Warner zu spielen. Er hat diese durch
seine „Freimutweisen" in einer ebenso
politisch wirksamen wie dichterisch
vollendeten Art gelöst.
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353
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
354
» In dieser Miniatur eines poetischen
Fürstenspiegels, wie man das Gedicht
wohl am besten kennzeichnet, hält der
Dichter dem jungen König zunächst
ohne jede Schroffheit das gerechte
Walten seiner Vorfahren, vor allem
seines großen Vaters vor Augen:
Wohl richtig die Wahl einst
War der Bau’rn und Jarle.
Die Olafe 10 ) aller
Eigen Frieden zeigten.
Der hehre Sohn Haralds")
Halten ließ wie Aleif 1 ")
Satzung all’, die setzten
Sie, der’n Namen glichen.
Er verweist ihn dann auf den Unmut
der Bauern, die ihm Bruch seines Kö-
nigsversprechens, ein gerechter Wal¬
ter im Lande zu sein, vorwerfen, und
zürnt:
Wer reizt’ auf dich, — oft du
Allzu grimm dilnnstahl’ge
Kling’ ,s ) hobst — ihnen zu künd’gen
Königswort so schönes?
Heerraubs-Sel’ger 14 ), heilig
Halten muß Volks Walter
Sein Wort. Ganz unwürdig
Wär’s, wenn du’s versehrtest!
Wer zu fäll’n dem Volke
Vieh’s so reichlich hieß dich?
Willkür, so gewalt’gc,
Wann frommt sie dem Lande?...
Freund ist, wer dich warnet!
Wohl der Bitt’ des Volkes
Lausch’, der du durstlöschend
Labst den Wundenhabicht. ,6 )
Hört’ alle Grauhaar’gen
Hier schon drohen. Schwierig
Ständ's, wenn sie aufstünden.
Schnell wahr’ vor Gefahr dich.
Schlimm traun ist’s, wenn Thingvolk'")
Treu sonst, senkt die Häupter,
Männer, die Nas’ im Mantel,
Murr’n, schweigend sich zeigen.
Das Gedicht vollendet nicht nur das
sympat hische Bild von Sigvats unab-
10) Olaf Tryggvissohn und Olaf der Hei¬
lige. 11) Olaf der Heilige. 12) Nebenform,
für Olaf (Tryggvissohn). 13) Das Schwert
14) Glücklicher Beutemacher (der kriegeri¬
sche König) 15) Den Raben, d. h. Feinde
tötest. 16) Leute auf der Volksversammlung.
Internationale Monatsschrift
hängigem Charakter, sein Erfolg, der
König Magnus nach seiner Sinnes¬
wandlung den Beinamen des Guten
eintrug, zeigt zugleich, welche poli¬
tische Macht das alte Skaldentum in
seinen besten Vertretern im Lande dar¬
stellte.
Die Selbständigkeit Sigvats als
Künstler äußert sich auch darin, daß
er, wo er dies mit seiner Dienstpflicht
gegen das Herrscherhaus vereinigen
konnte, auch dessen politischen Geg¬
nern seine dichterische Huldigung nicht
versagte. Er hat nicht nur Marschall
Björn an Olafs Hofe, sondern auch
des Königs Widersacher im Lande.
Erling Skjalgssohn, mit dem ihn per¬
sönliche Freundschaft verband, durch
sein Lied geehrt. In dessen Bewunde¬
rung war er allerdings mit seinem Kö¬
nig einig. Denn auch dieser war in
der Schonung des selbstherrlichen
Mannes, der ihm imponierte, bis an
die Grenze des Möglichen gegangen.
Er hatte in all seinem Zorn noch seine
stille Freude an dem Verräter gehabt,
der ihm mit dem Ausruf: „Aare klauen
sich Brust an Brust“ im letzten
Kampfe gegenübertrat, und wider sei¬
nen Willen war der gefangene Erling
von einem unbesonnenen Königsmannen
erschlagen. So sah er ihn wohl auch
gern in Sigvats Totenliede gefeiert.
Aber auch König Knut von England
hat Sigvat, als er und König Olaf tot
waren, und dieser durch den Glauben
an seine Heiligkeit dem politischen
Haß seiner Gegner entrückt war, noch
ein spätes Gedächtnislied gewidmet.
Besonders schön malt er darin die in
die dänischen Gewässer segelnde Flotte
des Herrschers: „Blausegel — die
bläh’n Brisen man hißt’. Darbot
Dänenherr’ns Drach’ in Pracht sich.
Von West kamen Kiele gar viel. Bald
sie los lustig zum Limfjord schwim-
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PRINCETON UNIVERSITY
355
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
356
men.“ Aus den schwingenden Rhyth¬
men dieser Verse glaubt man die Lust
der freigewordnen Künstlerseele zu
spüren, die nun, da der Dichter nicht
mehr durch Mannesehre und politische
Rücksichten gebunden ist, auch diesem
großen Zeitgenossen den Skaldenpreis
zollen darf.
6 .
Mit Ausnahme Haralds des Harten,
einer Königsgestalt ganz eigner Art,
auf die wir zurückkommen, zeigt das
Herrschergeschlecht im dritten Bande
von Snorris Werk nicht mehr so fes¬
selnde Erscheinungen wie früher. Das
geschlossene Kulturbild, das noch das
Zeitalter Olafs des Heiligen kennzeich¬
nete, erhält in den etwa hundertfünf¬
zig Jahren, in denen sich die weiteren
Königsgeschichten abspielen, manche
Veränderung durch neue Zeitströmun¬
gen. Der nähere Zusammenhang mit
den anderen europäischen Ländern, wie
er zu Snorris Zeit unter Hakon dem
Alten bestand, bereitet sich allmählich
vor. Vor allem wird jetzt das Christen¬
tum, dessen Einfluß namentlich durch
die Anerkennung Olafs als heiliger Kö¬
nig im ganzen Norden gefördert war
und durch den Glauben an dessen
Wundertaten nach dem Tode weitere
Stärkung erfuhr, eine Macht neben der
staatlichen, ja über diese hinaus. So
rücken die Könige, besonders gegen
das Ende hin, immer mehr aus dem
Mittelpunkt der Ereignisse.
Sie stellen mehr typische Repräsen¬
tanten des Zeitbildes dar. Unter Magnus
Erlingssohn, dem letzten Herrscher,
der noch mütterlicherseits von Harald
Schönhaar stammt, ist längst die Macht
in Händen einiger Großen des Reiches.
Auch das Skaldentum, das unter Harald
dem Harten noch einmal eine präch¬
tige Blüte zeitigt, sinkt allmählich von
seiner Höhe herab. Seine Strophen ver¬
schwinden gegen Ende fast ganz als
Schmuck von Snorris Prosadarstellung.
Der namhafteste Dichter dieser Spät¬
zeit ist Einar Skulissohn, aus Egil Skal-
lagrimssohns Geschlecht. Sein Haupt¬
gedicht war ein geistliches Lied auf
Olaf den Heiligen, vor einer glänzen¬
den Prälaten- und Notablenversamm-
lung im Drontheimer Dom feierlich
vorgetragen.
Die Machtstellung des alten König¬
tums faßt vorübergehend noch einmal
Magnus Barfuß in seiner Person zu¬
sammen. Von ihm, der nach siegrei¬
chen Kämpfen in Irland den Helden¬
tod erlitt, lief das schöne Wort um:
„Einen König soll man zum Ruhme
haben, nicht zu langem Leben.“ Aber
auch er tritt an Charakter und Bega¬
bung zurück hinter dem Priestersohn
Sigurd Slembi, der, als sein angeblicher
Sohn, den glänzendsten Vertreter des
für jene spätere Zeit der Königsge¬
schichte typisch werdenden Kronprä-
tendententums darstellt. Dieser alle
seine Zeitgenossen weit überragende
Mann verrät die geborene Herrscher¬
natur nicht nur in seinen ruhmvollen
Taten, echt königlich ist vor allem die
seelische Spannkraft, mit der er lange
Zeit hindurch gegen die Schwierigkei¬
ten seiner Demetriusstellung ankämpft,
und die Charaktergröße, mit der er
nach dem Mißlingen seiner Lebensauf¬
gabe in der Gefangenschaft die ihm
von seinen Feinden bereiteten ausge¬
suchten Todesmartern erträgt. Unter
seinen Stücken aus dieser letzten Zeit
der alten Königsgeschichte Norwegens
hat Björns jerne Björnson auch diesem
unglücklichen Prätendenten in der Tri¬
logie „Sigurd der Schlimme“ ein Denk¬
mal gesetzt und gezeigt, welch seeli¬
scher Gehalt auch in moderner Fas¬
sung aus dem alten Stoffe zu schöpfen
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PRINCETON UNIVERS
357
358
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
war. Als typischer Vertreter einer
neuen Zeitströmung erscheint, wie
schon sein Name besagt, Olaf „der
Stille“. Snorris Darstellung dieses Herr¬
schers nach all seinen kriegerischen
Vorgängern hat einen eignen Reiz. Ein
Vortragskünstler der Heimskringla
würde hier seine Freude haben. Er
würde tief Atem holen. Ein ganz neues
Bild. Die Symbole der alten Krieger¬
zeit verblassen. Die Gestalt der Kö¬
nigshalle mit dem Hochsitz in der
Mitte ändert sich. Das Zeremoniell wird
prächtiger. Der König fördert die Archi¬
tektur durch neue Kirchenbauten. Auch
in die Art der Städtegründung, die
früher vornehmlich kriegerischen
Zwecken diente, kommt ein neuer Zug.
Die neue Stadt Bergen ist in erster
Linie als überseeischer Handelsplatz
gedacht. Prächtige Gildehäuser ent¬
stehen, und die öffentlichen Zusammen¬
künfte der Städter dort werden vom
König begünstigt. Ein äußeres Zeichen
des gehobenen Verkehrs sind die präch¬
tigen Kleidertrachten, die am Königs¬
hofe wie in den Städten Mode werden.
Weht in Olafs des Stillen Regierung
Frühluft der Hansa, so spielt Kreuz¬
zugsstimmung hinein in die Sigurds
des Jerusalemfahrers. Er hat auf sei¬
nem Zuge, der ihn über Lissabon und
Sizilien nach dem Heiligen Lande führt,
mit König Balduin, dem Nachfolger
Gottfrieds von Bouillon, Sidon erobert,
aus Jerusalem einen Splitter vom
Kreuze Christi mitgebracht und dort
versprochen, für die Errichtung eines
Erzbischofssitzes in Drontheim zu wir¬
ken.
Alle diese Herrscher überragt durch
die Geschlossenheit seiner Persönlich¬
keit und durch die Vielseitigkeit seiner
Begabung ihr Ahn Harald der Harte.
Schon in der Geschichte Olafs des
Heiligen war dieser Bruder von ihm,
der jüngste Sohn seines Stiefvaters
Sigurd Sau, rühmlich hervorgetreten.
Olaf hatte seinen mannhaften Sinn
schon im kindlichen Spiele beobachtet
und seiner Mutter Asta geweissagt,
daß sie einen König in ihm großzöge.
Fünfzehnjährig hatte er trotz Olafs
Weigerung, der ihn wegen seiner Ju¬
gend schonen wollte, eine Kampfstel¬
lung in der Schlacht bei Stiklestad er¬
trotzt. Nach seiner Verwundung dort
irrt er als heimatloser Flüchtling durch
die Wälder und spricht in eigen ge¬
dichteten Versen die Ahnung einer gro¬
ßen Zukunft aus.
Mit Harald dem Harten tritt Byzanz
zuerst in den Bereich der norwegischen
Königsgeschichte. Anders als Olaf
Tryggvissohn und Olaf der Heilige,
die die Wikingzeit ihrer Jugend in
Ost- und Nordsee verbrachten, eilt er
durch Rußland an den Hof des grie¬
chischen Kaisers. Seine Normannen¬
schar führt er erst als kaiserliche Elite¬
truppe, dann aber macht er sich dort
frei und unternimmt, unerschöpflich an
Tatkraft und Kriegslist, Züge nach Si¬
zilien und nach Afrika ins Sarazenen¬
land. Endlich zieht er nach Jerusa¬
lem und besucht dort die heiligen Stät¬
ten. Auf seiner Rückkehr wird Harald
in Byzanz mit seinem Normannenheer
aufs höchste geehrt, dann aber in die
Intrigen am griechischen Kaiserhofe
verwickelt. Aus dem Gefängnis, in das
ihn der Herrscher von Byzanz gewor¬
fen, befreit, blendet er diesen und
taucht, mit ungeheuren Schätzen be¬
laden, am Hofe von Nowgorod auf.
In launigem Liede besingt der Erfolg¬
reiche die Tochter König Jaroslaws und
erhält sie zur Gemahlin. Byzanz mit
seiner märchenhaften Pracht wird von
jetzt ab ein Anziehungsplatz für die
Nordländer. Sigurd der Jerusalemfah¬
rer weilt dort später unter ähnlichen
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359
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
360
Ehrenbezeigungen wie König Harald.
Die kaiserliche Kerntruppe nordischer
Krieger bekam einen Ruf. Sie erfoch¬
ten in St. Olafs Namen herrliche Siege.
Dessen Schwert aus der Schlacht bei
Stiklestad wurde in der St. Olafskirche
zu Byzanz aufbewahrt. Kein Wunder,
daß auch Olafs Bruder Harald, der
Held, der im Sarazenenland „achtzehn
Siege erfochten und achtzig Burgen
gebrochen hatte", später durch die Le¬
gende ein Schützling des heiligen Kö¬
nigs wurde.
Haralds etwa zwanzigjährige Allein¬
herrschaft nach dem Tode seines Nef¬
fen Magnus des Guten ist durch un¬
ausgesetzte Kämpfe gekennzeichnet. Im
Innern waren seine Widersacher die
alten Feinde seines Bruders Olaf, na¬
mentlich in offner Empörung Einar
Bogenschüttler, mehr versteckt Kalf
Arnissohn. Im Ausland waren es der
Dänenkönig Svend Ulfssohn und der
Schwedenherrscher Steinkel, die, wie
früher, die unzufriedenen Großen aus
Norwegen an ihren Höfen sammelten.
Die Seele aller Umtriebe gegen den
König aber war Hakon Ivarssohn, der
Urenkel Hakons des Mächtigen, in dem
das zähe Drontheimer Jarlgeschlecht
damals dem Königtum noch einmal
einen mächtigen Rivalen stellte. Wäh¬
rend Harald seiner andern Gegner im¬
mer wieder Herr wurde, scheiterten alle
seine Versuche, so weitblickend sie an¬
gelegt waren, diesen gefährlichen Ne¬
benbuhler, dessen Bedeutung er wohl
durchschaute, für sich zu gewinnen.
Hier wurde Harald der stolze aben¬
teuerliche Zug in seinem Wesen, der
wiederholt in Willkür und Härte aus¬
artete, verhängnisvoll. Nach der allge¬
meinen Erbitterung, die sich im Lande
gegen ihn wegen der hinterlistigen Er-
schlagung Einar Bogenschüttlers, des
Führers der Oberländer Bauern, erhob,
hatte er, trotzdem er ein Verwandter
des Getöteten war, Hakon Ivarssohn
durch das Versprechen der Hand sei¬
ner Großnichte und der Jarlswürde auf
seine Seite gebracht. Durch die Hin¬
auszögerung dieser Zusage trieb er ihn
in das Lager seiner Feinde. Noch ein¬
mal gelang es ihm, in kritischer Lage,
die er sich durch die Beseitigung
Kalf Arnissohns geschaffen hatte,durch
nachträgliche Erfüllung seiner Verspre¬
chungen den eigenwilligen Mann in
seine Dienste zu spannen. Aber der
durch die frühere hoffärtige Behand¬
lung Gekränkte rächte sich. Er verei¬
telte den vollen Erfolg von Haralds
glänzendem Seesieg an der Nizä in
Hailand, indem er dessen Gegner, Kö¬
nig Svend, heimlich entkommen ließ.
Er verdrängt dann den König durch
sein bestechendes Wesen aus der
Gunst seiner Mannen und wird später
nach seiner Flucht zum Schwedenkönig
Steinkel dort für ihn der Herd aller
Schwierigkeiten. Haralds Abenteuertum
spielte ihm den letzten Streich auf seiner
Fahrt nach England zur Erwerbung der
dortigen Königskrone. Ohne Brünne in
die Schlacht gehend ist er dort nach
ruhmvollen Kämpfen bei Stamford-
bridge im Jahre 1065 gefallen, kurz be¬
vor Wilhelm der Eroberer von England
Besitz nahm.
Schon in der bisherigen Schilderung
des Königs ist seine künstlerische Be¬
gabung hervorgetreten. In ihr steht er
unter den norwegischen Herrschern der
alten Zeit allein da. Auch jene schmie¬
deten einmal Verse. Harald ist ein
wirklicher Dichter. Seine satirische
Weise auf den überheblichen Einar ßo-
genschiittler, seine diplomatisch gehal¬
tenen Triumphverse auf den Tod Kalf
Arnissohns spiegeln innerstes Erlebnis.
Zweimal finden wir ihn mitten int
Kriegsleben dichtend zusammen mit
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361
362
Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
seinem Lieblingsskalden und Kampf¬
genossen Thjodolf Arnorssohn. Zuerst
in Dänemark, wo dieser eine Improvi¬
sation des Königs, die seine Ankerung
im Godsfjord ankündigt, prompt durch
Stegreifdichtung zu Ende führt. Dann
in England. Kurz vor seinem ruhm¬
vollen Tode ringt König Harald da¬
nach, den Ausdruck seines Siegeswil¬
lens im Skaldenliede festzuhalten. Erst
die zweite der gedichteten Strophen
genügt ihm. Der Skalde aber legt dort
dem Könige für den Fall seines Todes
das Gelübde der unentwegten Treue
zu dessen Söhnen in seiner Dich¬
tung ab.
Diese Augenblicksbilder aus ernster
Kriegszeit empfangen ihre volle Be¬
leuchtung erst aus Haralds angeregtem
und künstlerisch interessiertem Hofle¬
ben. Unter dem etwa ein Dutzend nam¬
hafter Dichter, die dessen Geselligkeit
belebten, war der genannte Thjodolf
der bedeutendste, in der chroni¬
stisch getreuen Schilderung der
Schlachten des Königs für dessen Ge¬
schichte noch wertvoller als Hallfred
für Olaf Tryggvissohn. Aber auch mun¬
terer Scherz kam an Haralds Hofe zu
Wort. Der König stellte seinen Skalden
dichterische Aufgaben. Er verlangte,
daß sie von ihm begonnene Stegreif¬
weisen im Augenblick vollendeten. Das
Urteil dieses Herrschers, der selber ein
Kenner war, fiel in Lob und Tadel
schwer ins Gewicht und entfachte in
seinem Dichterkreis rührigen Wettei¬
fer. Es mag dem Historiker Snorri,
der den König in der Heimskringla in
erster Linie in seinem Staatsleben zu
schildern hatte, schwer geworden sein,
den Kranz von Erzählungen und Sagen,
der sich über das anziehende Hofleben
des Königs gebildet hatte, hier über¬
gehen zu müssen. Für seine Landsleute
war dies kein Schade. Sie kannten die¬
sen König, den sie wie auch Snorri
selbst vor allen liebten, der ihnen die
schönen Glocken für die Kirche auf der
Stätte ihrer Allthingsversammlungen
gestiftet hatte, aus anderen Berichten.
Von seinen Geschenken an die Insel
oder einzelne Männer von dort, die
sich an seinem Hofe aufhielten, wurde
noch zu Snorris Zeiten viel gespro¬
chen. Auch von den Heldentaten des
Königs, besonders auf seinen Wiking¬
fahrten im Mittelmeer und im Orient,
wußten isländische Männer, die dabei
gewesen waren, zu singen und zu sa¬
gen. Mit einer solchen Saga aus dem
Leben des Königs vertrieb einmal ein
isländischer Erzähler jenem und sei¬
nen Mannen die ganze Weihnachtszeit
hindurch auf die angenehmste Weise
die Zeit. Ein besonders anschauliches
Beispiel aus dem künstlerisch gesinn¬
ten Hofleben Haralds mag hier noch
dazu dienen, das Bild von dem Skai-
»
denkönig und von dem Königsskalden
Thjodolf zu vervollständigen. Der Kö¬
nig geht eines Tages mit seinem Ge¬
folge durch die Straßen von Dront-
heim. Da sieht er einen Schmied und
einen Schuster sich unflätig zanken.
Lustig verlangt er. daß sein Skalde
Thjodolf eine Strophe über die beiden
Kampfhähne dichten soll. Thjodolf
meint erst, daß diese Aufgabe seiner
Stellung als erstem Skalden am Hofe
nicht zieme, ist aber sofort beffeit, sie
zu erfüllen, als er die Schwierigkeit
ihrer Ausführung erkennt. Der König
wünscht nämlich, er soll den einen als
Sigurd, den andern als Drachen Fafnir
fassen, beide aber doch in ihrem Hand¬
werk schildern. Thjodolf dichtet so¬
fort:
Schmiedhanmiers Sigurd 17 ) schlimmen
Schuhwerk-Wurm ,s ) reizt’ wutvoll.
17) Der Schmied. 18) den Schuster
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Felix Niedner, Könige und Skalden in der Heimskringla
364
Vielgerbender Fell-Drach’ 19 )
Vor von Sock’ns Heid’ ’°) schritt bockend.
Volk scheu vor der schnöden
Schlang’ der Fußhüll’n 51 ) bangte,
Bis Rindleders Lindwurm !J )
Langnas’ schlug, Fürst der Zange .-*)
Diese Strophe fand der König leidlich,
er gab aber Thjodolf noch eine zweite
auf, in der der eine der Zänker als
Thor, der andere als Riese Geirröd ge¬
faßt sein und beide wiederum in ihrem
Handwerk veranschaulicht werden soll¬
ten. Der Skalde improvisierte sofort
diese Strophe:
Hoh’n Schmiedbalgs Thor 53 ) schmettert'
Schnell’n Mundblitz 5 *) von der Schwelle
Des Streifs’ 6 ) auf starrtrotz’gen
Schinder Bockfleisch’s * 8 ) hin da.
Stramm Gerberwerk-Geirröds ’ 7 )
Greifklau’ der Wort' *“) auffing
Lachend das Wetterleuchten
Liedergesang-Schmiedwerks. ’")
Diese Strophe fand König Harald vor¬
züglich, und er erklärte Thjodolf unter
dem Beifall des Gefolges als den Mei¬
ster unter den Skalden.*)
7.
Die Heimskringla hätte es mit ihren
gewaltigen Königs- und Skaldenge¬
stalten weit mehr verdient Gegenstand
einer großen modernen Dichtung zu
19) Der Schuster. 20) Der Schusterwerk¬
stätte (Anspielung auf die Geitaheide, wo
Fafnir lag). 21) dem Schuster (die Fußhüll’n
sind die Schuhe). 22) den Schuster. 23) Der
Schmied. 24) Das Schmähwort. 25) dem
Munde. 26) den Schuster (Gerber). 27) Des
Schuhwerk-Riesen, d. h. des Schusters.
28) das Ohr. 29) Die Schmiede des Liedes
ist der Mund, dessen Wetterleuchten (Blitz)
das Schmähwort.
*) Die kühnen dichterischen Umschrei¬
bungen bringen, wenn sie auch hier der
Travestie dienen, die reiche Bilderpracht
der älteren Skaldendichtung zur Anschau¬
ung, mit der Dichter wie Egil Skallagrims-
sohn und Kormak Ögmundssohn in ernsten
Gedichten ihre größten künstlerischen Wir¬
kungen erzielten. Näheres Thule Einlei¬
tungsband 1913 und 1920, Band 3, Geschichte
des Skalden Egil 1911 und 1914 und Band 9,
Vier Skaldengeschichten, 1914.
werden als die Geschichte von Snorris
Zeitgenossen, König Hakons des Al¬
ten, dem dies Glück in Ibsens Kron¬
prätendenten zuteil wurde. Jenes Werk,
von Snorris geistesverwandtem Neffen
Sturla Thordssohn, bestellte Arbeit und
vielfach schon aus königlichen Archi¬
ven schöpfend, reicht in seinem chro¬
nikartigen Stil, der nur selten durch
lebhafteres Tempo der Schilderung un¬
terbrochen wird, an Snorris belebte
buntfarbige Darstellungskunst nicht
heran. Sein bestes Können hat dieser
dritte und letzte große Historiker Is¬
lands in der Geschichte seiner Fa¬
milie, der Sturlunge, niedergelegt, wo
er auch seinem Oheim Snorri ein Denk¬
mal setzte. Sturlas Stärke ist die Rein¬
heit und Lauterkeit seines Wesens, in
der er, auch im privaten Leben, sein
großes Vorbild Snorri übertraf. Sie
kommt nicht nur in seinem politischen
Wirken zum Ausdruck, wo er, Snorris
vermittelnde Tätigkeit fortsetzend, na¬
mentlich nach dem Untergange des
Freistaates, unter der Oberhoheit des
Norwegerkönigs der beste Anwalt der
Interessen seines Volkes wurde. Stur¬
las sympathische Persönlichkeit spürt
man auch in seinen sonst so sachlich
gehaltenen Schriften. In der Geschichte
seiner Familie fühlt man aus der dra¬
matisch bewegten Schilderung von
Snorris Überfall und feiger Ermordung
deutlich die Anteilnahme an dem
Schicksal dieses von ihm geliebten und
verehrten Oheims heraus. In der Ha-
konssaga ist sein Herz bei dem tapfe¬
ren, aber unglücklichen Jarl Skule.
Diese Gestalt erweckt ja auch in Ibsens
Stück bei weitem die meiste Anteil¬
nahme. Sie stand dem seelischen Aus¬
gangspunkt der Dichtung, Ibsens zeit¬
weiliger innerer Niedergedrücktheit ge¬
genüber dem glücklicheren und erfolg¬
reicheren Björnson, am nächsten. Daß
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PRINCETON UNIVEF
365
Nachrichten und Mitteilungen
366
er sie am echtesten aus den Andeu¬
tungen, die der alte Stoff bot, heraus¬
gestalten konnte, hat mit zum Gelin¬
gen gerade dieser Figur des Dramas
beigetragen. Aber auch Königtum und
Skaldentum haben dort aus der älte¬
ren norwegischen Königsgesdliichte
manche Beleuchtung empfangen. Kö¬
nig Hakon, der im Stück so lebhaft
gegen die Wiederholung der alten
Saga protestiert, trägt bei Ibsen wohl
mehr Züge des Königtums der Heims>-
kringla als sein historisches Urbild.
Typisch vortrefflich im Sinne des al¬
ten Skaldentums ist auch sein Skalde
Jatgeir gezeichnet. Von der alten Skal¬
dendichtung gibt allerdings dessen
Skaldensang im Stück ebensowenig
eihen Begriff wie Ibsens Nachbildung
von Egil Skallagrimssohns großartigem
Totenlied auf seine Söhne in den „Hel¬
den von Helgeland'“. Und doch
schmücken Ibsens Vorlage, aus der er
die Kronprätendenten gestaltete, die
Liedweisen eines wirklichen Dichters.
Der Historiker Sturla hat diese, die
aus einem Zyklus eigner Preislieder
auf den König stammen, als dekora¬
tiven Schmuck in seine Prosadarstel¬
lung verwoben. Wie als Politiker und
Geschichtschreiber knüpfte Sturla auch
als Skalde an seinen Oheim Snorri an.
Aber so sehr hier auch Snorris glän¬
zende Technik auf ihn wirkte, als
Dichter übertraf er den Meister. Noch
in so später Zeit hat er in vier Liedern
die Jugend des Königs, seine Krönung
durch den päpstlichen Kardinal, seine
Heereszüge nach den Orkaden und He¬
briden und seine Bestattung in Bergen
| in kunstvollen, dem jeweiligen Vor-
j würfe mit eminentem Kunstverstand
! angepaßten Strophenformen lebensvoll
besungen. Es war die Mitte des 13.
Jahrhunderts. Wolfram und Walther
hatten in Deutschland ausgedichtet. Das
deutsche Nibelungenlied war da. Im
Norden erfuhren die Artusromane
durch Bearbeitungen im Aufträge des
Königs lebhafte Förderung. Damals
lebte im Norden in Sturlas Liedern
die alte große Königsskalden-Dichtung
noch einmal auf, um dann für immer
zu verstummen.
Nachrichten und Mitteilungen.
J. B. Sägmiilller, Der apostolische Stuhl
und der Wiederaufbau des Völkerrechts und
Volkerfriedens. „Das Völkerrecht“ im Auf¬
träge der Kommission für christliches Völ¬
kerrecht herausg. von G. J. Ebers, Heft 6.
Freiburg i. B. 1919, Herder.
Nachdem der Verfasser in einem ersten
Kapitel auf den nachgerade von niemandem
mehr bezweifelten „Ruin des Völkerrechts
im Weltkrieg“ hingewiesen hat, legt er in
einem zweiten „die Bemühungen der Päpste
im letztvergangenen Halbjahrhundert um
das Völkerrecht und den Völkerfrieden“ so¬
wie „das Programm Papst Benedikts XV.“
dar. Es ist zwar nur die Aneinanderreihung
zum Teil allgemein bekannter, jedenfalls
seit langem veröffentlichter Äußerungen der
Päpste seit Pius IX. unter Einschaltung eines
Kurzen verbindenden Textes. Doch der Ein¬
druck dieser Zusammenstellung ist über¬
raschend stark und nachhaltig. Wie achtlos
sind wird nicht alle — gläubige Katholiken
vielleicht ausgenommen — an diesen macht¬
vollen Kundgebungen vorbeigegangen, als
die Sonne des Friedens uns noch leuchtete
und eine verwöhnte Phantasie die Finsternis
kommenden Krieges nicht einmal zu ahnen
vermochte. Besonders die Persönlichkeit
Leos XIII. tritt auch hier wieder in ihrer
ganzen Größe feiner Diplomatie und welt¬
geschichtlichen Weitblicks markant hervor.
Hieran schließt sich die Darlegung des
Programms Benedikts XV.: „1. Abrüstung
zu Lande und zu Wasser; 2. Freiheit der
Meere; 3. Das obligatorische internationale
Schiedsgericht; 4. Das sittliche Wesen des
Rechts an sich und so auch desVölkerrechts.“
In dem letzten, dritten Kapitel behandelt
der Verfasser „das Programm des apostoli¬
schen Stuhles, besonders Papst Benedikts XV.
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367
Zeitschriftenschau
368
für den Wiederaufbau des Völkerrechts und
des Völkerfriedens im Urteil der Wissen¬
schaft und Staatsmänner.“ Wieder eine Zu¬
sammenstellung von Bekanntem mit ver¬
bindendem Text.
Das Buch ist nicht unparteiisch und gibt
nicht vor, es zu sein. Es soll eine Wider¬
legung der vielfach abfälligen Kritik geben,
der die Politik der Kurie im Weltkrieg aus¬
gesetzt gewesen ist. Und doch verspürt man
keinen Hauch feindseliger Polemik in dem
Buch. Nur Tatsachen werden schlicht neben¬
einandergestellt. Gewiß sind sie ausge¬
wählt; gewiß sind sie sorgfältig aneinander¬
gefügt, gewiß sehen wir hier einen Meister
[ der Dialektik an der Arbeit, der geschieht
hinter seinem Werk zu verschwinden ver¬
steht; aber trotz alledem: es sind Tatsachen,
mit denen jeder Ehrliche sich auseinander¬
setzen muß, ehe er sie verwirft. Wer aber
möchte heute diejenigen verwerfen, die
den Frieden gepredigt haben, als es noch
Zeit war?
Ich bin kein Katholik und war kein Pa¬
zifist; aber ich habe das Buch mit Ehrfurcht
vor dem ehrlichen Streben der Kurie nach
Frieden und Versöhnung aus der Hand ge¬
legt. Ich bin überzeugt, daß der Verfasser
vom Leser eine weitere Anerkennung nicht
begehrt. —t—.
Zeitschriftenschau.
Pädagogik.
Der Zeitraum, den die vorliegende Zeit¬
schriftenschau überblickt, hat eine außeror¬
dentlich lebhafte Erörterung pädagogischer
Fragen hervorgerufen. Viele der Reformbe¬
strebungen, die seit langem die pädagogische
Weit bewegten, erhielten durch die innerpoli¬
tische Neugestaltung mit einem Schlage den
Wert größerer Lebensnähe und Aussicht auf
haldige Verwirklichung. Schneller, als es die
kühnsten Schulpolitiker zu hoffen gewagt hat¬
ten, war die Zeit des Handelns gekommen,
die Zeit, die mit dem Umbau des Staatsgebäu¬
des auch dielangegeforderte Neuordnungsei¬
ner innern Kultureinrichtungen als unmittel¬
bar bevorstehend ankündigte. Diese Aus¬
sicht beflügelte den Eifer der schulpoliti-
sehen Erörterungen, unter den Berufsorga¬
nisationen der Fachmänner ebenso wie unter
den pädagogischen Führern und Vorkämp¬
fern. Alle Einzelforderungen der Schulpoli¬
tik der letzten Jahrzehnte sind in dem
großen Entscheidungskampfe der vergange¬
nen Monate aufs neue wieder erhoben und
vertreten worden, allen voran die große
Frage der Schulorganisation, die durch die
soziale Umwälzung den Boden bereitet sah
für die Vereinheitlichung des Schulwesens
im Sinne der Einheitsschule. Damit waren
aber zugleich eine Reihe anderer Reform¬
forderungen spruchreif geworden: der Aus¬
bau der Volksschule und der Fortbildungs¬
schule, die Neugestaltung der Lehrerbildung,
der Ausbau des Fachschulwesens, die Hoch¬
schulreform. Heftige Kämpfe besonders ent¬
fachte die Frage des Religions- und Moral¬
unterrichts. Indem die Demokratisierung
des öffentlichen Lebens auch das Leben
der Schule zu beeinflussen begann, ge¬
wannen weitere Fragen Bedeutung: die
Psychologie der Jugendlichen, Schulaufsicht
und Selbstverwaltung, das Verhältnis von
Schule und Haus, Elternrechte, Eltembei-
räte u. a. Überreich ist die Fülle der Re¬
formwünsche, die die pädagogische Fach¬
presse und Zeitschriftenliteratur ausstreut,
und schwer ist die Wahl, aus dem engeren
Kreise unserer Zeitschriftenauslese einiges
vom Wichtigsten herauszugreifen.
Am reichhaltigsten ist wohl die Ausbeute
der „Deutschen Schule“, der Monats¬
schrift des Deutschen Lehrervereins. 1 ) Im
1) Inhalt: 12. Heft 1918: H. E. Timerding,
Grenz- und Auslandsschulen — eine Frage
der Schulpolitik. — Ernst Krieck, Die Auf¬
gabe der Geschichtsphilosophie. — E. Rei¬
chel, Neuordnung der Volkserziehung.
1. Heft 1919: C. L. A. Pretzel, Arbeiten
und nicht verzweifeln. — Georg Kerschen-
steiner, Die Bildungswerte der Volksschule
— W. Ostermann, William Sterns Persona¬
lismus. — Paul Samuleit, Vom Kampf gegen
die Schundliteratur.
2. Heft: Hermann Rolle, Erziehung zu
deutscher Staatsgesinnung. — Gustav Häuß-
ler, Eduard von Hartmanns Weltanschau¬
ung. — Werner Mohr, Die fremden Spra¬
chen in der deutschen Oberschule.
3. Heft: Richard Trentzsch, Die christliche
deutsche Schule. — Erich Schönebeck, Er¬
fahrungen in einer Berliner Begabtenklasse.
— Karl Huber, Vom Einleben in die Natur.
4. Heft: Konrad Albrich, Die Seelenlehre
des Comenius. — Albert Schülke, Hindert
uns die Sprache, bessere Zahlwörter ein¬
zuführen?
5 Heft: G. Reinhardt, Weltenwende und
Hochschule. — Ernst v. Sallwürk sen., Welt¬
kunde und Humanitätsbildung. — Oskar
Hübner, Die Gründung der Arbeitsgemein-
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PRINCETON UNIVERSI
Zeitschriftenschau
369
Januarheft erörtert Oberstudienrat Professor
Dr. Georg Kerschensteiner „die Bil¬
dungswerte der Volksschule“. Es ist
eine grundlegende Untersuchung des We¬
sens des Bildungsvorganges, das aus der
Vereinigung eines objektiven und eines
subjektiven Faktors, des Kulturgutes und
der Bildungsfähigkeit des Individuums, er¬
klärt wird als das „Wieder-Lebendig-Wer-
den des im Kulturgute latent gewordenen
Geistes im einzelnen Individuum“, welcher
Vorgang aber stets der Beschränkung unter¬
liegt, daß immer nur die der besonderen
geistigen Struktur des Individuums ent¬
sprechenden Kulturgüter für dieses wirk¬
liche Bildungskraft gewinnen können. So
allein vollzieht sich der Prozeß der Persön¬
lichkeitsbildung, in dem also zwei gegen¬
sätzliche Deutungen der Erziehungsaufgabe
schaft sozialdemokratischer Lehrer. und
Lehrerinnen Deutschlands.
6. Heft: Oskar Hübner, Gesichtspunkte
für die Gestaltung der Fortbildungsschule
in der Gegenwart. — Vinzenz Adler, Fünf¬
zig Jahre österreichischer Lehrerbildung auf
Grund des Reichsvolksschulgesetzes vom
14. Mai 1869-
7. Heft: Otto Karstadt, Wilhelm Oster¬
mann. — Alfred Bogen, Hugo Gaudigs
Wirken im Dienste des Arbeitsschulgedan¬
kens. — Anton Ritthaler, „Ruhende“ und
„fortschreitende“ Rechenbeziehungen.
8. Heft: Friedrich Fürle, Das Verantwort¬
lichkeitsgefühl. — Die Schulforderungen des
Deutschen Lehrervereins. — H. Schreiber,
Die künstlerische Erziehung, besonders die
Ptlege des Gesanges im Laufe des natür¬
lichen Jahres auf der Unterstufe. — M. Zei-
big, Deutsche Sprachpflege im fremdsprach¬
lichen Unterricht. „
9. Heft: Stimmen zur Neugestaltung des
Geschichtsunterrichts: Erich Witte, Reform
des Geschichtsunterrichts. — Siegfried Braun,
Ober Geschichte und Geschichtsunterricht.
— Walter Jentzsch, Das Auslandsdeutsch¬
tum im Geschichtsunterricht.
10. Heft: Karl Möckel, Neuer Erziehungs¬
idealismus. — Carl Kerl, Religiös-sittliche
oder nur sittliche Willensbildung? — Otto
Tumlirz, Das Wesen der Frage.
11. Heit: Otto Schreiter, Zur Selbstbe¬
sinnung der Pädagogik. — Otto Tumlirz,
Das Problem der „Einheitsschule“ und des
„Aufstiegs der Begabten“. — Th. Wunder»
lieh, Die Ausgangspunkte für eine Reform
des Zeichenunterrichts nach den Forderun¬
gen der neueren Kunstanschauung und der
wirtschaftlichen Lage der Gegenwart. —
Johannes Günther, Eduard von Hartmann
und die Neugestaltung des Raumlehre-
Unterrichts.
370
in Einklang gebracht sind: die Erziehungs¬
auffassung, die, wie die Herbart-Reinsche,
ihren Standpunkt im objektiven Kulturgute
nimmt und die ihre Aufgabe als „Über¬
lieferung der Kultur an die nachwachsenden
Geschlechter“ bezeichnet, und die andere
Anschauung, die zuerst Rousseau, Pesta¬
lozzi, Wilhelm von Humboldt und Schleier¬
macher verkündet haben, daß die Erziehung
„Weckung und Bildung der Kräfte zu einem
proportionierlichen Ganzen“, oder kürzer:
formale Kräfteentwicklung sei. Für die
Überwindung dieses Gegensatzes sieht
Kerschensteiner den subjektiven Standpunkt
für den günstigeren an, denn die Schwie¬
rigkeiten, aus dein ungeheuren Reiche der
Werte den Weg zum einzelnen Individuum
zu finden, und die Gefahren, ihn dabei zu
verfehlen, seien ganz unvergleichlich grö¬
ßer, als vom Individuum aus durch das
seiner Natur entsprechende Tor den Zugang
zu der Welt der Werte zu gewinnen. Weil
die Volksschule von dem objektiven Stand¬
punkte her, ausgehend von den Kultur¬
gütern, die sie in einer Auswahl des sach¬
lich Wichtigsten mitteilen will, an die Ju¬
gend herantritt, verfehlt sie so oft den Weg
zur Individualität der Kinder. Denn sie
übersieht dabei die psychologische Grund¬
tatsache, daß das ursprüngliche Verhalten
des Kindes ein rein praktisches ist, das sich
erst allmählich im Laufe der Jahre nach
Maßgabe der Veranlagung zu einem theo¬
retischen, ästhetischen oder religiösen In¬
teresse entwickelt, während die Dinge, die
man heute als die wesentlichen Bildungs¬
mittel der Volksschule verwendet, fast aus¬
schließlich dem theoretischen Verhalten
des Menschen entsprechen, also einem Teile
des objektiven Wertsystems entnommen
sind, auf den nach der erst später eintreten¬
den Besonderung der jugendlichen Bean¬
lagungen sich auch nur ein bestimmter
Bruchteil der Menschen hingewiesen sieht.
Auf die von dem subjektiven Standpunkte
aus gewonnene psychologische Einsicht,
daß im Seelenrelief des Kindes durchaus
das praktische Verhalten vorwaltet, stützt
darum Kerschensteiner die fundamentale
pädagogische Forderung, die Bildungs-
leistung der Volksschule nach der Richtung
der Arbeitsschule auszugestalten, wie er
dies selbst in der großzügigen Neuorgani¬
sation des Münchener Volksschulwesens in
vorbildlicher Weise ausgeführt hat. Ker¬
schensteiner fühlt sich in der Verkündung
solcher Bildungsbestrebungen als Erben
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PRINCETON UNIVER
371
Zeitschriftenschau
Pestalozzischer Erziehungsideen. Jene älte¬
ren Gedanken, vertieft durch eine neuere
psychologische und kulturphilosophische
Betrachtungsweise, für die Organisation
des modernen Bildungswesens fruchtbar
gemacht zu haben, darin liegt die Lebens¬
leistung des als Theoretiker und praktischer
Organisator gleich großen Pädagogen, der
eben jetzt vom Schauplatze seines so er¬
folgreichen Wirkens zurückgetreten ist. —
Die „Vierteljahrsschrift für philo-
sophischePädagogik“, 5 ) herausgegeben
von Wilhelm Rein, Jena, bringt in ihrem
2. Hefte einen Aufsatz von Gymnasialdirektor
rungen gelangt wie KerschenstdflHBVon der
psychologischen Seite her. Vor oder unter
den Kulturprovinzen der Religion, der Ge¬
sittung, der Kunst und der Wissenschaft,
bei deren Förderung die menschliche Lei¬
stung von den Zweckgedanken oder Idealen
des Heiligen, des Guten, des Schönen und
des Wahren geleitet wird, steht das Gebiet
der Wirtschaft mit seinen Teilfunktionen
der Urproduktion, der Stoffveredelung und
des Handels, die sämtlich bestimmt und
regiert werden von dem Ideal des Nütz¬
lichen. Es ist gegenüber jenen eine ele¬
mentarere, reale Kulturfunktion, die ein
Dr. Alfred Rausch und Lehrer Friedrich
Rausch über „die wirtschaftliche Er¬
ziehung der deutschen Jugend“, der
von der Seite der Wertgebiete oder Kultur¬
güter aus zu ähnlichen, wenn auch nicht so
weitgehenden bildungstheoretischen Forde-
2) Inhalt: 2. Heft (Januar 1919): O. Götze,
Friedrich Fröbels Stellung zur Heimat¬
kunde. — F. Neubauer, Kants „Grund¬
legung zur Metaphysik der Sitten“ im Unter¬
richt. — Alfred Rausch und Friedrich Rausch,
Die wirtschaftliche Erziehung der deutschen
Jugend. — W. Rein, Die deutsche Einheits¬
schule. — H. Weber, Ferienkurs für staats¬
bürgerliche Unterweisung in München. —
E. Katzer, Die Doppelreligion der christ¬
lichen Kulturvölker. — Baronin P. W. v.
Bülow, Kinderheimstätten. — E. Bonebakker,
Schulorganisationspläne in Holland. — Paul
Menge, Konzentration zwischen dem deut¬
schen und altsprachlichen Unterricht in der
Prima des Gymnasiums. — A. Volkmer,
Eigene Beobachtungen über die Klärung
von Tätigkeitsbegriffen bei Kindern polni¬
scher Haussprache.
3. Heft (April 1919): Paul Oldendorff,
Eine Rüstkammer deutscher Kultur. — Vogel¬
sang, Wie Dörpfeld über Herbart urteilte.
— H. Löbmann, Ober die musikalische Ap¬
perzeption. — Fr. Förster, Zwanzig Jahre
Landerziehungsheim. — Eberhard, Schleier¬
machers Gedanken zum Aufbau des Bil¬
dungswesens. — Joh. Meyer, Das Verhältnis
des Robinson zur Pädagogik. — Gertrud
Janke, Zum Problem der Unterrichtsfrage.
4. Heft (Juli 1919): Hermann Schwarz,
Aphorismen über intellektuelle Bildung. —
W. Rein, Die Volkshochschule. — W. Klatt,
Die höhere Schule als Schulgemeinde. —
Scholz, Universitäts-Übungsschulen oder
nicht? — Luise Rhenius, Überblick über
die Reformpläne auf dem Gebiet des Bil¬
dungswesens während der französischen
Revolution. — H. Lietz Deutsche Volks¬
hochschulen. — Bruno Bauch, Kant als
Deutscher, ein Erzieher zum Deutschtum.
Reich der Lebenserhaltung darstellt, wie
jene höheren oder idealen Kulturgebiete
die Sphäre der Lebenserhöhung ausmachen.
Diese verschiedenen Kulturreiche bilden
einen natürlichen Zweckzusammenhang,
eine organische Ordnung von Werten, die
erst in ihrer Verbindung das Ganze des
Lebens erschöpfen. Zur Bewältigung des
Lebens gehört das Hineinwachsen in alle
diese Wertgebiete. Weder Realisten noch
Idealisten haben für sich allein recht, son¬
dern erst die gegenseitige Durchdringung
dieser Lebensmüchte gewährleistet das Be¬
stehen der Lebensprobe. In der Entwick¬
lung des Bildungslebens ist der Weg in
der Würdigung dieser Kulturgüter von oben
nach unten gegangen: der jahrhunderte¬
langen ausschließlichen Pflege der rein
geistigen Güter folgte seit dem 17. Jahr¬
hundert auch die Fürsorge für das ökono¬
mische Gebiet, die sich dann im 18. Jahr¬
hundert organisatorisch in dem Entstehen
der Realschule auswirkte. So gilt für die
Schide der Gegenwart ganz allgemein die
pädagogische Forderung, daß sie neben
dem, was sittlich und religiös wertvoll, was
schön und wahr ist, auch dem wirtschaft¬
lich Wertvollen Beachtung zu schenken hat,
freilich mit dem Abmaße, daß unter diesen
Wertgebieten die rechte Rangordnung her¬
zustellen ist, so, daß sich die niederen
Kulturzwccke den höheren unterordnen, wie
entsprechend auch das Leben der Völker
nicht bloß von den sich hier mehr als dort
vordrängenden Zielen der Lebenserhaltung
beherrscht bleiben darf, sondern darüber
hinaus mehr und mehr die höheren Kultur¬
ideale zur Anerkennung bringen muß. Erst
zuletzt mündet dieser wesentlich kultur¬
philosophische Gedankengang in die psy¬
chologische Überlegung aus, daß auf den
frühesten Stufen der Schulbildung gerade
die Pflege des Wirtschaftlichen durch Vor-
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373
Zeitschriftenschau
374
anstellung der praktischen Betätigung in
ihren verschiedenfachen Formen (wie gärt¬
nerische, hauswirtschaftliche, gewerbliche
Arbeiten) der Eigenart der kindlichen In¬
teressen und Bedürfnisse besser entspreche
als die einseitige Hinlenkung auf die höhe¬
ren Wertgebiete. Für die nähere Aus¬
führung all dieser Gedanken verweisen die
Verfasser auf das bald zu erwartende Er¬
scheinen einer selbständigen Schrift, die
gleichmäßig die Theorie und die Praxis der
wirtschaftlichen Erziehung der Jugend be¬
handeln werde.*) Erst in dieser besonderen
Anwendung auf das unmittelbare Leben
der Schule werden die hier kurz skizzierten
grundlegenden kulturphilosophischen Ideen
ihre pädagogische Fruchtbarkeit zu erwei¬
sen haben. —
Eine pädagogische Notwendigkeit, die
der Krieg klargelegt und sein tragischer
Ausgang nur noch mehr erhärtet hat, findet
in dem im 3. und 4. Heft der „Vierteljahrs¬
schrift für philosophische Pädagogik“ ent¬
haltenen Aufsatze des Studienrates Paul
Oldendorff: „Eine Rüstkammer deut¬
scher Kultur“ ihre Darstellung: das Ver¬
langen nach einer innigen Vertiefung in
deutsche Art und deutsches Wesen, dem
nicht nur in der engeren Welt des Schul¬
lebens, sondern auch auf dem Wege freier
Bildungsvermittlung Geltung verschafft wer¬
den soll. Als den naturgegebenen Boden
für diese Bemühungen betrachtet der Ver¬
fasser die Pflege des Heimatsinnes durch
die Schule, für die eine ganze Gruppe von
Fächern: Deutsch, Geschichte, Erdkunde,
Naturkunde, Zeichnen und Gesang, sich
gegenseitig helfend, wirken können. Darüber
hinaus aber fordert er die Errichtung einer
Zentralstelle zur Pflege des heimatkund¬
lichen Interesses, der eine ganze Reihe vor¬
zugsweise organisatorischer Aufgaben zu¬
gewiesen werden. So hätte sie etwa die
der Pflege des vaterländischen und heimat¬
lichen Sinnes am besten dienenden An¬
schauungsmittel zu sammeln, ein Buch von
der deutschen Heimat zu schaffen, das Na¬
tur und Kultur des Vaterlandes, das deut¬
sche Volksleben nach Stämmen und Stän¬
den wie Persönlichkeiten von ausgeprägtem
Deutschtum zur Darstellung brächte, Samm¬
lungen heimatkundlicher und deutschkund-
licher Literatur wie ein heimatkundliches
Lichtbilderarchiv einzurichten, die Begrün¬
dung von Heimatsarchiven an den höheren
3) Osterwieck a. Harz, A. W. Zickfeldt.
Schulen zu befördern, die Erfahrungen zu
sammeln, die die verschiedenen Anstalten
mit heimatkundlichen, geologischen, natur¬
kundlichen oder kulturgeschichtlichen Aus¬
flügen gemacht haben, Lehrgänge an Mu¬
seen zu veranstalten, den Besuch bedeut¬
samer Kunststätten durch Lehrer in die
Wege zu leiten u. ä. Aber alle diese der
sog. Volkskunde dienenden Bemühungen
müssen in Zusammenhang gebracht werden
mit den allgemeinen kulturellen Problemen
unseres Volkstums, d. h. das Bild des deut¬
schen Volkslebens muß verstanden werden
durch die ganze innere Geschichte unseres
Volkes, aus den Wurzeln und Bedingungen
unseres ganzen geistigen und sozialen
Lebens heraus. So muß, um der Pflege
der Volkskunde den rechten Resonanzboden
zu geben, die Kulturphilosophie und die
Kulturgeschichte die Grundkräfte für das
organische Wachstum deutschen Lebens
und Wesens zu enthüllen suchen. Die
Zentralstelle hätte für diesen Zweck vor
allem ein reiches Vortragswesen auszu¬
bauen und in einer Bibliothek der Deutsch¬
kunde alle Literatur zur Erkenntnis des
Deutschtums zu sammeln. So würde sie
zuletzt die Bedeutung einer „Rüstkammer
deutscher Kultur zur Belebung bewußtdeut¬
schen Empfindens und Denkens“ gewinnen.
Ihre Tätigkeit würde vor allem auch auf
das Leben der Schule zurückwirken und
dieses endlich inniger mit dem Leben der
Nation verknüpfen, dadurch, daß sie inner¬
halb ihrer Fächer die seit langem ersehnte
Einheit herstellt in der von einem einflu߬
reichen Mittelpunkt aus geförderten Pflege
volkskundlichen und deutschkundlichen In¬
teresses. Der Verfasser erblickt in dieser
innern Wandlung den sichersten Weg für
die humanistische Ausgestaltung der Schule
in nationalem Geiste, insofern hier alles
darauf angelegt wäre, eine innere Anschau¬
ung vom Deutschtum zu gewinnen. Die
Zentralstelle glaubt er am besten mit dem
„Zentralinstitut für Erziehung und Unter¬
richt“ in Berlin verbinden zu können, das
mit seinen „Deutschen Abenden“ und man¬
cherlei anderen Veranstaltungen ja schon
das Ziel verfolge, die Schule zu einer
Pflegestätte deutscher Kulturideale auszuge¬
stalten. — Es bedürfte noch einer näheren
Auseinandersetzung mit dem Bildungsberuf
der Schule, besonders auch der verschie¬
denen Formen der höheren Schule, etwa
in der Art, wie sie Hermann Itschner in
seinem Buche: „Lehrerbildung und Volks-
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375
Zeitschriftenschau
tum“ 4 ) gegeben hat, um die Anwendbar¬
keit der in ihrem Kern gewiß durchaus be¬
rechtigten Forderungen auf die einzelnen
Funktionen der Sdiularbeit prüfen zu kön¬
nen. Weiterhin tritt an den Keformwün-
schen Oldendorffs der für die Eigenart un¬
seres Reformzoitalters ganz allgemein cha¬
rakteristische Grundzug hervor, daß aller
Fortschritt wesentlich von der Schaffung
neuer Organisationsformen erwartet wird.
Während man die Hoffnungen oft zu ein¬
seitig auf neue Einrichtungen setzt, über¬
sieht man zuweilen, daß alles pädagogische
Wirken doch zuletzt eine Tat der Persön¬
lichkeit ist, die wohl durch äußere An¬
regungen bereichert werden kann, die aber
doch den besten Teil ihrer Kraft aus der
Tiefe der eigenen Seele schöpft. —
Unter den zahlreichen wertvollen Ar¬
tikeln, die die Katholische Monatsschrift
„Pharus“, herausgegeben von der Päda¬
gogischen Stiftung Cassianeum in Donau¬
wörth, im laufenden Berichtsjahre veröffent¬
licht hat 4 ), erscheint uns besonders beach-
4) Leipzig 1917, Quelle & Meyer.
5) Inhalt: 11. 12. Heft 1918: Kiefl, Foer-
sters Kritik an der Religionspädagogik und
Seelsorge der Kirche. — J. Göttler, Vom
Geist der Kleinkinderanstalts-Erziehung in
Vergangenheit und Gegenwart. — A. Luible,
Die Jugendwehr nach dem Kriege.
1./2. Heft 1919: Remigius Stöizle, Päda¬
gogische Neuorientierung und unser Er¬
ziehungsziel. — Josef Weber, Fr. W. Foer-
sters Bedeutung für die praktische Er¬
ziehung. — J. Hoffmann, Elterntypen. —
Joseph Schröteler, Zur Frage der Jugend¬
ideale.
3./4. Heft: W. Toischer, Willmanns Le¬
benswerk und die moderne Pädagogik. —
Fr. Sawicki, Zur Ethik der Gesinnungen. —
P. Kasperczyk, Das Problem der Schwer-
erziehbarkeit in seiner Beziehung zur Für¬
sorge- und zur Normalerziehung. — J. Hoff¬
mann, Schülerautonomie. — Hugo Löb-
mann, Zur Sicherung der Schuldisziplin.
5.6. Heft: Heinrich Kautz, Der neue Geist
und die Pädagogik. — Hermann Rolle, Die
Fortbildung der höheren Lehrer. — Her¬
mann Dimmler, Karl May als Jugend- und
Volksschriftsteller. — M. E. Peters, Umler¬
nen in der Mädchenerziehung. — Rudolf
Prantl, Ober die Grenzen des erziehenden
Unterrichts und der Erziehung überhaupt.
7.<8. Heft: G. Grunwald, Gedanken zur
besseren Erziehung der Erzieher. — Her¬
mann Dimmler, Der konfessionslose Sitten¬
unterricht. — Engert, Foerster als Pädagog.
— W. Matthiesen, Der erzieherische Wert
des Märchens. — J. Orth, Bildungsziele und
tenswert der Aufsatz: „Bildungsziele
und Berufsfortbildungsschule“ von
Lehrer Dr. J. Orth. In der Bestimmung
der Aufgabe der Fortbildungsschulen strei¬
ten sich seit längerer Zeit zwei gegensätz¬
liche Auffassungen. Die eine argumentiert
so: Da die Volksschule ihre Zöglinge ge¬
rade im bildungsfähigsten und bildungsbe¬
dürftigsten Lebensalter, in der Pubertäts¬
periode, entläßt, in der nicht nur der phy¬
sische, sondern auch der geistige Mensch
feste Formen annimmt, fordert diese im
wesentlichen erziehungslose Zeit eine Aus¬
füllung durch Bildungsveranstaltungen, die
effte allgemein menschliche Ertüchtigung
erstreben durch Erziehung des Menschen
zum Wahren, Guten und Schönen, d. h.
durch Charakter- und Persönlichkeitsbil¬
dung. Für diese Ansicht hat die Fortbil¬
dungsschule wesentlich die allgemein
menschliche Bildung der Volkschule fortzu¬
setzen und zu vertiefen. Die zweite Ge¬
dankenrichtung geht von dem werktätigen
Leben des Volkes aus, dessen Erfolge sie
abhängig sieht von der innigen Verbindung
von Wissenschaft und Technik und von
der persönlichen Tüchtigkeit der wirtschaft¬
lich tätigen Personen. Die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit wird daher um so wirk¬
samer gefördert werden, je mehr die werk¬
tätige Hand sich dem denkenden und fin¬
denden Geiste nähert und sein fähiges und
williges Organ wird. So erscheint eine
neben der Lehre herlaufende gründliche
berufstheoretische Durchbildung und beruf¬
liche Ertüchtigung der werktätigen Jugend
in einer Berufsfortbildungsschule als wich¬
tiges Mittel für die Beförderung des wirt¬
schaftlichen Fortschritts. Der Verfasser ent¬
scheidet sich dahin, daß beide Bildungs-
Berufsfortbildungsschule. — Ferdinand
Eckert, Strömungen und Strebungen im
Gymnasial-Schulwesen.
9./10. Heft: G. Grunwald, Gedanken über
Scheinbildung und wahre Bildung. — Mat¬
thias Lechner, Die personalistische Psycho¬
logie W. Sterns. — A. Böhm, Haus und
Schule — Elternräte, Elternabende. — P. Jo¬
sef Hettwer, Eine Schicksalsfrage der Inter¬
natserziehung.
11.12. Heft: Johann Ude, Der Lehrberuf.
— R. Guardini, Ober die Bedeutung der
reflexiven und direkten Akte für das reli¬
giöse Leben. — Franz Weigl, Elternrecht
und Schulkind. — E. Leitl, Akademische
Schulräte für großstädtische Volksschulen?
— A. Volkmer, Innere Fragen der Lehrer¬
bildung.
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Zeitschriftenschau
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ziele, das allgemein menschliche und das
berufliche, in der Fortbildungsschule ver¬
eint erstrebt werden müssen, da für den
einzelnen wie für die Gesamtheit ebenso¬
wohl die menschliche Vervollkommnung
wie die berufliche Tüchtigkeit eine unab-
weisliche Notwendigkeit sind. Damit aber
entsteht das schwierige Problem, wie in
der Fortbildungsschule allgemein-mensch¬
liche und Berufsbildung, ohne sich gegen¬
seitig zu beeinträchtigen, nebeneinander
bestehen können. Das aber ist eine Lehr¬
planfrage, die, wie der Verfasser meint, sich
lösen lasse, sobald es möglich ist, die eine
Aufgabe in den Dienst der andern zu stellen.
Soll die Allgemeinbildung der beruflichen
dienstbar werden, dann müssen aus den
im Lehrplan der Fortbildungsschule wieder¬
kehrenden Volksschulfächern diejenigen
Lehrgüter besondere Bevorzugung erfahren,
die für den Beruf der einzelnen Schüler¬
gruppen besonders bedeutungsvoll und
nützlich sind. Will man umgekehrt vom
Berufe aus zum allgemein Menschlichen
gelangen, dann muß der Beruf selbst in all
seinen Einzelheiten, der ganze Mensch, wie
er in seinem Berufe lebt und wirkt, Gegen¬
stand des Unterrichts werden. Aber in der
Bestimmung der Lehrziele für die einzelnen
Berufsfächer dürfte man sich dann nicht
nur auf das Maß der für den Beruf un¬
mittelbar erforderlichen Kenntnisse be¬
schränken, sondern müßte überall vom Be¬
ruflichen zum allgemein Menschlichen fort¬
schreiten: so etwa in der Material-, Waren-
und Produktenkunde zur Berücksichtigung
der volkswirtschaftlichen, wirtschaftsgeo¬
graphischen und historischen Momente, in
der Werkzeug- und Maschinenkunde zur
Ableitung und Würdigung der in ihnen zur
Anwendung kommenden Naturgesetze, im
Berufszeichnen zur Weckung des Ge¬
schmacks und künstlerischen Empfindens,
in der Geschäftsverkehrskunde zur Betonung
moralischer Gesichtspunkte, in der beruf-
lidien Gesetzeskunde und der Berufsge¬
schichte zur Erweckung staatsbürgerlicher
und vaterländischer Gesinnung usw. So
tritt dann mittelbar die Berufsbildung in
den Dienst der Allgemeinbildung und bietet
in spezifisdi beruflichen Fächern die Lehr¬
güter und das Bildungsmaterial zu einer
Erziehung zum Wahren, Guten und Schö¬
nen. Diese zwei Wege, die beiden Bil¬
dungsziele zu vereinen, sind sowohl metho¬
disch entgegengesetzt wie audi in ihrem
Ergebnis verschieden. Der erste stellt ein
deduktives Lehrverfahren dar, bei dem aus
dem allgemeinen Bildungsgut das in die
Berufsinteressen fallende Besondere aus¬
gewählt wird, d. h. die allgemein mensch-
lichen Werte an Berufswerten gemessen
und unter den Gesichtswinkel des persön-
lidi Nützlichen gestellt werden, so daß bei
diesem Wege die Gefahr eines engherzigen
Berufsegoismus naherückt. Der andere Weg
bedient sidi eines induktiven Verfahrens,
das dem im Berufe tätigen Menschen die
Perspektive zu allem Wissens- und Erstre¬
benswerten eröffnet, die Berufssphäre in
die allgemeine Kultursphäre erweitert, da¬
durch, daß es die Berufswerte an den höhe¬
ren geistigen und sittlichen Werten mißt.
Das ist der Weg, auf dem der Jüngling
den gewählten Beruf in seinem Zusammen¬
hänge mit der gesamten Kulturgemeinschaft
erfassen lernt, sich seiner Abhängigkeit von
ihr bewußt wird und so die Notwendigkeit
begreift, sich als dienendes Glied in das
soziale Ganze einzuordnen. So wird der
zum allgemein Menschlichen fortschreitende
Unterricht der Berufsfortbildungsschule zu¬
letzt zu einer „Erziehung zum Volke.“ Des¬
halb, aber auch weil durch dieses induktive
Verfahren gleichzeitig auch die eigentliche
Berufsbildung sicherer fundiert wird als
durch das deduktive, verdient die Ausge¬
staltung der Fortbildungsschule als beson¬
dere Berufsfortbildungsschule den Vorzug
vor jener, die in ihrer Verfassung wesent¬
lich in der Nähe der Volksschule bleibt.
Es ist lehrreich, zu beobachten, wie in
dieser Lösung des Fortbildungsschulpro¬
blems allgemeinere pädagogische Gegen¬
wartsströmungen zur Geltung kommen.
Denn dieses ist ja nur ein besonderer Fall
für die pädagogische Antinomie von in¬
dividueller Bestimmung und universaler
Ausweitung, die für alle Berufsarten, die
höheren geistigen ebenso wie die werk¬
tätigen, gilt. Dafür aber haben schon vor
hundert Jahren (im Gegensatz zu den mei¬
sten der zeitgenössischen Vertreter der
idealistischen Philosophie) Pestalozzi und
Goethe die Lösung angedeutet, deren Her¬
übernahme in die gegenwärtige Bildungs¬
theorie") mehr und mehr die Organisation
6) Namentlich Georg Kerschensteiner
(Das Grundaxiom des Bildungsprozesses
und seine Folgerungen für die Schulorga¬
nisation. Pädagogische Blätter, 1917) und
Eduard Spranger (Grundlegende Bildung,
Berufsbildung, Allgemeinbildung. Preußi¬
sche Fortbildungsschulzeitung, März 1918:
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379
Zeitschriftenscliau
3*0
unserer Schule zu beeinflussen beginnt:
nicht in einem unbestimmten Menschentum
liegt für sie das eigentliche Ziel der Bil¬
dung, sondern es gilt, den Menschen zuerst
in den vollen Besitz seiner selbst zu brin¬
gen, damit er von seinem Kreise aus die
allgemeine und ideale Bildung ergreife,
die sich dann wie ein Kranz um den Mittel¬
punkt der eigenen Lebensnotwendigkeit
herumlagern werde. So offenbart sich in
diesem induktiven Gange ein allgemeines
Bildungsgesetz, das aber erst die landläu¬
fige Auffassung von der Vornehmheit der
reinen Allgemeinbildung und die historisch
ererbte „Furcht vor der Berufsschule“ über¬
winden muß, ehe es wird seine volle or¬
ganisatorische Auswirkung finden können. -
Die „Pädagogischen Blätter“, Zeit¬
schrift für Lehrerbildung und Schulaufsicht,
herausgegeben von Karl Muthesius, haben,
ihrem Sonderzwecke entsprechend, in dem
zu überschauenden pädagogisch so beweg¬
ten Zeitabschnitte sich vor allem lebhaft
an der Erörterung über die Neugestaltung
der Lehrerbildung beteiligt. 7 ) In Heft 1
und 2'3 beschäftigt sich mit dieser Frage
der Aufsatz des Herausgebers über „die
Zukunft der Volksschullehrerbil-
dung.“ Muthesius kämpft hier für sein
altes Ziel, die Lehrerbildung aus ihrer bis-
auch in der Aufssatzsammlung „Kultur und
Erziehung“, Quelle & Meyer, Leipzig 1919,
enthalten) haben an diese Bildungsphilo¬
sophie angeknüpft und sie zu ihren speziel¬
len pädagogischen Folgerungen hingeleitet,
7) Inhalt: Heft 1M2, 1918: Karl Muthe¬
sius, Ansprache, gehalten am 11. November
im Seminar zu Weimar. — Friedrich Nie¬
bergall, Die Zeichen der Zeit. — Hermann
Rolle, Schleiermachers Bildungstheorie.
Heft 1, 1919: Karl Muthesius, Die Zukunft
der Volksschullehrerbildung. — Walter Vor-
brodt, Das erste Berliner Seminar für Stadt-
schuliehrer.
Heft 2/3: Schluß, bzw. Forts, obiger Auf¬
sätze. — Friedrich Niebergall, Die Zukunft
des Religionsunterrichtes.
Heft 4: Sigismund Rauh, Befreiung von
der Schulaufsicht. — W. Vorbrodt, Schluß
ob. Aufs.
Heft 5/6: S. Rauh, Schluß d. ob. Aufs. —
Karl Reumuth, Zur Psychologie und Er¬
ziehung der Jugendlichen.
Heft 7: Hermann Schwartz, Die Lehrer¬
bildungsfrage. — Hermann Rolle, Erzie¬
hungsnotwendigkeiten im neuen Volksstaate.
Heft 8 9: Karl Muthesius, Die Lehrerbil¬
dung in der Reichsverfassung. — Paul
Brohmer, Vererbung und Erziehung.
herigen Abgeschlossenheit zu befreien durch
ihre Eingliederung in den Gesamtorganis¬
mus des nationalen Bildungswesens. Das
soll dadurch erreicht werden, daß man die
wissenschaftliche Allgemeinbildung auf eine
höhere Schule verlegt und für die berufs¬
mäßige Fachbildung dann völlig neue For¬
men schafft. Ersteres kann nicht einfach
durch eine mechanische Übertragung auf
eine der bestehenden höheren Schulen ge¬
schehen. Denn deren Bildungscharakter
entbehrt der direkten Beziehung zur deut¬
schen Kultur, während gerade für die be¬
sonderen Zwecke der Lehrerbildung eine
breite national-volkstümlicheBildungsgrund-
lage ein wesenhaftes Erfordernis ist. Aber
auch ganz unabhängig davon wird durch
die Bedürfnisse des nationalen Lebens die
Schaffung einer neuen Art der höheren
Schule gefordert, deren Bildungsplan sein
Lehrgut um seiner Wichtigkeit für die
deutsche Kultur willen auswählt. Diese
höhere deutsche Schule (deutsche Ober¬
schule, deutsches Gymnasium), die in ihrem
Lehrplan nur eine fremde Sprache führt,
soll sich zugleich im Sinne der Einheits¬
schulidee organisch aus der deutschen Volks¬
schule entwickeln als geradlinige Fortsetzung
der dort gepflegten Bildung und deshalb
als Hauptstamm der über Grundschule und
mittlere Schule hinausgehenden Schulorga¬
nisation. Sie soll eine höhere deutsch-volks¬
tümliche oder bürgerlich-deutsche Bildung
vermitteln, die ebendeshalb, weil sie we¬
sentlich im deutschen Volkstum wurzelt,
zugleich auch den besonderen Bedürfnissen
des Lehrers, der ja den innigsten Zusammen¬
hang mit dem Volke erstreben soll, am
besten gerecht werden wird. 8 )
Für die berufsmäßige Fachbildung des
Lehrers bedarf es dann besonderer neuer
Veranstaltungen, die sowohl das gesamte
Gebiet der pädagogischen Theorie (Psy¬
chologie, Äslhetik, Ethik, Jugendkunde,
allgemeine Erziehungswissenschaft, Unter¬
richtslehre und Geschichte der Pädagogik)
wie auch die praktische Berufsvorbereitung
in einer besonderen Übungsschule umfassen
müssen. Muthesius lehnt die von einem
großen Teile der Lehrerschaft geforderte
8) Einen völligen Um- und Neubau des
gesamten höheren Schulwesens fordert
neuerdings Walter Kühn in seiner Schrift:
„Die neue höhere Schule für die männliche
Jugend.“ Frankfurt a. M. 1919, Franz Ben¬
jamin Auffarth.
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Verlegung der pädagogischen Berufsbildung
an die Universität ab, weil diese weder
die Einrichtungen für die volle pädagogi¬
sche Ausbildung, am wenigsten für die
praktische Vorbereitung, besitzt, noch auch
die Neigung hat, künftig die Pädagogik in
der für die Lehrerbildung erforderten Weise
auszubauen. Es bleibe daher nur übrig,
eigene Anstalten für diesen Zweck zu grün¬
den, pädagogische Hochschulen, die das
Gesamtgebiet der theoretischen und prak- >
tischen Berufsausbildung umfassen. Wenn
diese zugleich in die Universitätsstädte ver¬
legt würden, könnten sie sich in enger An¬
lehnung an die Universitäten als eine Art
Zweiganstalten entwickeln, um so auf die
von einer späteren Zukunft zu erwartende
Vereinigung mit jenen hinzuarbeiten. —
Die hier entwickelten Forderungen sieht
ein weiterer in Heft 8/9 enthaltener Aufsatz
des Herausgebers: „Die Lehrerbildung
in der Reichsverfassung“ durch die
verfassunggebende Arbeit der Deutschen
Nationalversammlung um ein gutes Stück
der Verwirklichung entgegengeführt. Denn
Artikel 143, Absatz 2 der neuen Reichs¬
verfassung: „Die Lehrerbildung ist nach den
Grundsätzen, die für die höhere Bildung
allgQmein gelten, für das Reich einheitlich
zu regeln“, kann Muthesius als die end¬
liche Anerkennung seines schulpolitischen
Programms begrüßen, die Lehrerbildung
durch Verlegung ihres allgemeinwissen¬
schaftlichen Teils auf eine höhere Schule
und der beruflichen Vorbereitung auf eine
Hochschule aus ihrer bisherigen Isolierung
zu befreien. Diesen bedeutsamen Entwick¬
lungsfortschritt, der zugleich für die Lehrer¬
schaft die Anerkennung ihrer seit Jahrzehn¬
ten vertretenen Ansprüche auf eine den
andern wissenschaftlichen Berufen gleich¬
wertige Bildung bedeutet, glaubt Muthesius
für die Sonderbedürfnisse der Lehrerbildung
am fruchtbarsten machen zu können, indem
er für diese beiden Teile der Ausbildung
die deutsche Oberschule und die pädagogi¬
sche Hochschule in Anspruch nimmt. In
dem Ausbau dieser beiden neuen Schulformen
habe man daher die gegenwärtig wichtigste
Aufgabe der Schulpolitik zu erblichen. —
Mit dem gleichen Problem beschäftigt
sidi in Heft 7 Geh. Oberregierungsrat Her¬
mann Schwartz in seinem Aufsatze:
.Die Lehrerbildungsfrage“. Auch er
verteilt die Lehrerbildung auf die beiden
Anstalten des deutschen Gymnasiums und
der pädagogischen Hochschule. Die allge¬
382
meine Bildung, die das deutsche Gymna¬
sium vermittelt und die für den Volksschul¬
lehrer zugleich auch ein wesentlicher Teil
der Berufsbildung sein wird, will der Ver¬
fasser aber gegenüber dem Kursus der be¬
stehenden drei höheren Schulen um zwei
Jahre verlängern, da sie nur so für die Auf¬
gabe des Lehramts ausreichend sein würde.
Denn die wissenschaftliche, technische und
künstlerische Ausbildung, die dazu nötig
ist, daß der Lehrer in allen Fächern der
Volksschule unterrichten kann, vermöge die
pädagogische Hochschule nicht selbst zu
übernehmen. Diese müsse sich auf die
theoretische und praktische pädagogische
Ausbildung der Lehrer beschränken, die
niemals eine Nebenaufgabe der philosophi¬
schen Universität werden könne, sondern
bei der großen Anzahl der auszubildenden
Lehrer und Lehrerinnen nur in weitgehen¬
der Dezentralisation auf einer größeren
Anzahl von pädagogischen Hochschulen zu
leisten sei. —
Für den Nachweis dieser letzteren Not¬
wendigkeit ist besonders lehrreich der Be¬
richt, den Muthesius im gleichen Hefte über
eine Denkschrift: „Zur Reform der Leh¬
rerbildung“ gibt, die Seminardirektor Bär
auf Grund von Beratungen der Konferenz
preußischer Seminardirektoren und Lehrer¬
bildner bearbeitet hat. Bär erhärtet die
Unmöglichkeit, die Berufsbildung der Leh¬
rer an die Universität zu verlegen, durch
den Hinweis auf zwei Haupthindernisse:
auf die viel zu große Zahl der studierenden
Lehrer und Lehrerinnen und die innere
Unvereinbarkeit der Erfordernisse der be¬
ruflichen Bildung mit der speziellen Sonder¬
funktion der philosophischen Fakultät. Ein
Vergleich der Zahl der in den einzelnen
Provinzen Preußens vorhandenen studieren¬
den Lehrer und Lehrerinnen mit der Be¬
sucherzahl der philosophischen Fakultät
der betreffenden Provinzialuniversitäten er¬
gibt bei der Annahme einer dreijährigen
Dauer der pädagogischen Universitätskurse
eine Vermehrung der Besucherzahl der ver¬
schiedenen Fakultäten um etwa 68 % (Ber¬
lin) bis 350°/ 0 (Breslau) 9 ). Ein so unge-
9) Die Vergleichszahlen lauten
Stud. d.
Stud. d.
Vermeh¬
phil. Fak.
päd. Fak.
rung um
für Berlin
4392
3027
68%
„ Kiel
837
996
119%
„ Königsberg 714
1594
223%
„ Bonn
2150
5465
254%
„ Breslau
1108
3856
350 V*
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Original from
PRINCETON UNIVERSITY
383
Zeitschriftenschau
heures Anschwellen der Besucherzahl müßte das Wesen der pädagogischen oder Bildner
die philosophische Fakultät völlig umge- hochschule, die eine wissenschaftliche Ab-
stalten. Gänzlich unmöglich wäre es auch, teilung (zu der auch die theoretische Päda-
für solche Zahlen von Kandidaten die Ein- gogik gehört), eine technische und künst-
richtungen für die praktische Ausbildung lerische und eine praktisch-pädagogische
zu schaffen, was ja schon für die Bewerber umschließt, sie alle bezogen auf^>dbn Ein-
> um das höhere Schulamt nicht durchführbar heitspunkt der Selbstbildung und der Er-
war. Namentlich zeigt auch das reiche Ar- Ziehungsaufgabe, der ihr Gravitationszen
beitsprogramm, das die Denkschrift der I trum ist. Im Gegensatz zu den Organisa-
Übungsschule zuweist, die absolute Unmög- ! tionsentwürfen von Muthesius, Bär und
lichkeit, diese Arbeit so nebenher der phi- auch Schwarte, die den allgemeinbildenden
losophischen Fakultät anzuhängen. - Teil der Lehrerbildung ganz der deutschen
Zu derselben Ablehnung dieser schul- ! Oberschule zuweisen, wird hier eine er-
politischen Programmforderung des Deut- j höhte Form derselben in wesenseigene Ver¬
sehen Lehrervereins gelangt von einer noch bindung mit dem pädagogischen Teil der
breiteren Basis aus die soeben erschienene Aufgabe gebracht und so die pädagogische
Schrift Eduard Sprangers: „Gedanken Hochschule gegenüber jenen andern Kon-
über Lehrerbildung“, 10 ) die um der struktionen zu einer weit bedeutsameren
hohen Bedeutung willen, die ihr für dieses j Anstalt erhoben. Zugleich ist mit dieser
Problem zukommt, auch in diesem Zusain- Neugestaltung eine glückliche Möglichkeit
menhange kurz erwähnt sei. Spranger fol- i gefunden, die Gefahr der enzyklopädischen
gert aus der Zweckwidrigkeit der philoso- I Ausbreitung der Sachbildung, die für die
phischen Fakultät, die durchaus im Dienste Lehrerbildung die Hauptschwiengkeit ist.
theoretischer Wissenskultui steht, für die zu vermeiden durch die vorgesehene Spal-
Erregung der vom Lehrer geforderten Bild- tung in eine geisteswissenschaftliche und
nergesinnung die Errichtung einer neuen eine naturwissenschaftliche Abteilung, deren
Stätte, an der der eigentliche Bildungsge- jede wieder mit ihren wissenschaftlichen
danke, der nicht gleichbedeutend ist mit Stammfächern eine Gruppe von Wahlfächern
dem theoretisch-wissenschaftlichen Geiste, ihres Gebietes oder von technisch-künstle-
als solcher zu seiner höchsten Darstellung rischen Wahlfächern verbinden kann. Mit
kommt: einer Bildnorhochschuie. Wie der dieser zwei Jahre umfassenden Sachbildung
Techniker aus den Wissenschaften das her- geht Hand in Hand die theoretisch-päda-
auslöst, was technisch bedeutsam ist, so löst gogische Bildung; denn „Pädagogik für sich
der Menschenbildner aus ihnen heraus, was allein kann man ebensowenig studieren wie
zur Bildung verhilft, d. h. zur Formung des Philosophie allein“. ") Ein drittes Jahr, das
Menschen, zur Herausbildung seiner idealen s °g- praktische Jahr, bringt dann eine
Persönlichkeit. Dazu helfen aber im Kreise aus der Theorie erwachsende praktische
der Volksschule neben den Wissenschaften Einführung in den Beruf, die, soll es mög-
auch technische Fertigkeiten, Musik und lieh werden, die Teilnehmerzahl an den
Turnen mit, zu deren Erwerbung man den verschiedenen Unterrichtsübungenden durch
Lehrer, ebenso wie für die Wissenschaften d * e Sache selbst gegebenen Bedingungen
auf die Universität, dann konsequenterweise anzupassen, nur bei starker Dezentralisation
auch auf die Technische Hochschule, in die der neuen Einrichtung durchführbar ist. -
Musikhochschule und in die Turnakademie Wir haben in dem Sprangerschen Programm
schicken müßte. Aber weder Wissenschaft der Lehrerbildung, das aus dem Wesen des
noch Technik und Kunst vermögen den Er- Bildungsvorganges selbst die neue Orga-
zieher zu schaffen, sondern die Erziehung nisationsform herauszugestalten weiß, die
besteht darin, „die objektiven Werte, die am tiefsten durchdachte Behandlung des
jene erzeugen, in die menschliche Seele Problems zu begrüßen, die, in der Abwei-
hineinzubilden und ihnen dort eine Einheit sung aller Beweisgründe, die von Macbt-
zu geben, die nirgends anders möglich ist Einsprüchen und Standesgegensätzen herge-
als in der lebendigen formenden Seele.“ ") nommen zu werden pflegen, sich als ein
Von diesem Punkte aus erfaßt Spranger reines Bild der sie gestaltenden Idee dar-
10) Leipzig 1920, Quelle & Meyer. Ste i—— -
11) E. Spranger, a. a. 0. S. 44. 12) S. 47.
Für die Schrittieitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, LultpoldstraBe 4
Druck von B. G. Teubner in Leipzig.
RNATIONALE MONATSSCHRIFT
WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG
HEFT 5
APRIL 1920
Die Zukunft der morgenländischen Studien
in Deutschland.
Von Franz Babinger.
Bis vor hundert Jahren etwa war
es das natürliche Schicksal der morgen-
ländischen Studien*) in Deutschland ge-
1) Unter morgenländischen Studien
verstehe ich hier zunächst die Beschäfti¬
gung mit dem Vorderen Orient. Eine
Erörterung der Aussigen etwa der In¬
dienkunde oder gaijMer Ostasienkunde
liegt somit nicht Tm Plane dieser Skizze.
Nur so viel sei darüber zu sagen verstattet,
daß die unerfreulichen Aussichten, die
C. H. Becker in seinen „Gedanken zur
Hochschulreform“ (Leipzig 1919), auf S. 54
u. a. der Sanskritwissenschaft eröffnet, vom
rein zahlenmäßigen Gesichtspunkt aus
mir zu schwarz erscheinen. Die deutsche
indienforschung hat sich im Laufe der
letzten Jahrzehnte, nicht zu ihrem Nachteil
In steter engster Fühlungnahme mit der
englischen Indologie, zu einer glänzenden
Schule entwickelt und eine stattliche Reihe
von jüngeren Kräften herangezogen: nie¬
mals wohl gab es so viele Privatdozenten
für Sanskrit wie heutzutage, womit gleich¬
zeitig wieder einmal bewiesen wird, ein
wie großes Stück deutschen Hochsinns den
fürchterlichen Zeiten zum Trotz noch im
Privatdozententum steckt. Wie freilich sich
deren Aussichten gestalten, wo man, durch
praktische Rücksichten gezwungen, wenig¬
stens an kleineren Hochschulen immer mehr
die sog. Sprachvergleicher den reinen Sans¬
kritisten vorzuziehen beginnt, ist eine an¬
dere Sache. (Dieses Bestreben muß letzten
Endes doch wohl dazu führen, die deutschen
Indologen von dem Wettbewerb um das
Sanskrit auszuschalten und an seine Stelle
eine öde, unfruchtbare Lautschieberei zu
setzen, zu der man freilich die ausländische
Wissenschaft ganz und gar nicht nötig hat.
Gerade die Sanskritkunde wäre geeignet
dem Ausland zu zeigen, daß es ohne die
deutsche Beteiligung und Förderung ein¬
fach nicht auskommen kann.) Was nun end¬
lich die Chinakunde belangt, so kann für
wesen, daß sie nur von den theologi¬
schen Fakultäten getragen, gepflegt
und gefördert wurden. Lediglich in
Österreich, wo Handels- und politische
Verbindungen die Staatsleitung und die
Bevölkerung praktisch mit den Ländern
des Ostens in Beziehung brachten,
konnten und mußten Pflanzschulen zur
Ausbildung von Dolmetschen und
Diplomaten entstehen; so ist Wien
schon sehr frühe eine tüchtige Pfleg¬
stätte für die Sprachen der islamischen
Welt geworden. Im Reiche hingegen,
wo diese Berührungen sich nur selten
ergaben, lag ein solches Bedürfnis
nicht vor, und es waren in der Haupt¬
sache gelehrte, vor allem mit dem Al¬
ten Testamente gegebene Notwendig¬
keiten, die den Blick dem Morgenlande
zuwandten. Da brachte um die Wende
des 19. Jahrhunderts die von Sil-
vestre de Sacy zu Paris begründete
Orientalistenschule einen plötzlichen
Umschwung in die Verhältnisse. Aus
allen Ländern strömten lernbegierige
dieses sehr zeitgemäße Gebiet auf die Schrift
des Heidelberger Privatdozenten F. E. A.
Krause .Die Aufgaben und Methoden der
Sinologie* (Heidelberg 1919, Weiß) verwie¬
sen werden, Ausführungen, denen man von
einem höheren Gesichtspunkt aus im gro¬
ßen ganzen nur beipfiichten muß. Der .Die
sinologischen Studien in Deutschland“ über-
schriebene Anhang zu dem ausgezeichne¬
ten Werke des Hamburger Chinaforschers
Otto Franke .Ostasiatisdie Neubildungen“
(Hamburg 1911) ist auch jetzt noch in die¬
sem Zusammenhang höchst beachtenswert
13
aÄ " "‘igitizedby ’^lC
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
387 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 388
Jünglinge in die französische Haupt¬
stadt, um sich bei dem Meister Beleh¬
rung zu holen und mit reichem Wissen
beladen in die Heimat zurückzukehren
und eigne Stätten zur Pflege der mor¬
genländischen Studien ins Dasein zu
rufen. Heinrich Leberecht Fleischer,
der größte deutsche Orientalist des ver¬
flossenen Jahrhunderts, zählte zu den
gelehrigsten Jüngern S. de Sacys, und
dem Kreis von Schülern, die er in
Leipzig mehr als fünfzig Jahr hindurch
um sich scharte, gehören wiederum die
bedeutendsten Forscher des ln- und
Auslandes an. Eine unheimliche Be¬
triebsamkeit setzte in Deutschland ein.
Die arabische Sprache, bisher nur als
Nebensache meistens von Bibelfor¬
schern und zum Zwecke ihrer Wissen¬
schaft gepflegt, ward zum Gegen¬
stand gründlichster sprachlicher Durdh-
spürung, das geschichtliche, erdkund¬
liche, vor allem das dichtenscheSchrift-
tum : der Araber ward in gelehrten Text¬
ausgaben und Erläuterungen verbrei¬
tet und in Europa eingebürgert, Glaube
und Weltweisheit der Anhänger Mo¬
hammeds fanden eifrige Ergründer in
deutschen Gelehrten. An diesem Ort,
wo von der Zukunft gehandelt wer¬
den soll, kann füglich nicht von den
Großtaten der Vergangenheit gespro¬
chen werden. Nur so viel sei vermerkt,
daß es in der Mehrzahl deutsche Na¬
men waren, die jenen Zeitabschnitt ver¬
herrlichten und die zur Vertiefung mor¬
genländischer Gelehrsamkeit beitrugen;
in einer Zeit, in der die Phrase
Triumphe feiert und jenseits der Voge¬
sen, selbst in bisher ernst genommenen
Köpfen, der nationalistische Wortschwall
derer Beachtung findet, die als Franzo¬
sen, mit weiß Gott wieviel germanischem
Blut im Leibe, von der Herrlichkeit der
„lateinischen Rasse“ reden, in einer sol¬
chen Zeit können auch derartige Bin¬
senwahrheiten nicht oft genug wieder¬
holt und ins Gedächtnis gerufen wer¬
den. So ward im Laufe des 19. Jahr¬
hunderts eine Überfülle wissenschaft¬
lichen Stoffes angesammelt. Dazu trat,
daß schon im letzten Viertel des 18.
Jahrhunderts durch das Bekanntwer¬
den der indischen Sprachen die Vor¬
stellung, die, wenigstens an den Hoch¬
schulen, unter morgenländischen Stu¬
dien praktisch nur die semitische
Gruppe nebst den Literatursprachen
des Islam, also Türkisch und Persisch,
verstand, erschüttert und durchbro¬
chen wurde. Freilich hatte gerade die¬
ser Zweig der Orientalistik besonders
lange zu kämpfen, bis er sich aus den
Fesseln romantisch-ästhetischer Ver¬
himmelung nicht richtig verstandener
Lebensformen emporrang zur geschicht¬
lich wahren und durchgeistigten Dar¬
stellung des Tatsächlichen.
J. V. v. Scheffel hat in der köstlichen
Vorrede zu seinem „Ekkehard“ in un¬
vergeßlichen Worten über die damals
drohende Verknöcherung in den alt¬
deutschen Studien gespottet. Das Sam¬
meln altertümlichen Stoffes könne zu
einer Leidenschaft werden, meinte der
Dichter, die zusammenträgt und zusam¬
menscharrt, eben um zusammenzuschar¬
ren, und ganz vergißt, daß das ge¬
wonnene Metall auch gereinigt, ge¬
schmolzen und verwertet werden soll.
Damit werde nichts anderes erreicht
als ein ewiges Befangenbleiben im Roh¬
stoff, eine Gleichwertschätzung des Un¬
bedeutenden wie des Bedeutenden, eine
Scheu vor irgendeinem fertigen Ab¬
schließen, weil ja da oder dort noch
ein Fetzen beigebracht werden könnte,
der neuen Aufschluß gibt, und im gan¬
zen eine Literatur von Gelehrten für
Gelehrte, an der die Mehrzahl der Na¬
tion teilnahmlos vorübergeht und mit
einem Blick zum blauen Himmel ihrem
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PRINCETON UNIVERSlTr““"'*
389 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 390
Schöpfer dankt, daß sie nichts davon
zu lesen braucht. So wenig die Bedeu¬
tung morgenländischer Gelehrsamkeit
für die Belange des Staates und des
Volkes überschätzt werden soll, so si¬
cher begründet ist die Meinung derer,
die auf den bisherigen Betrieb unserer
orientalischen Studien den Vorwurf
Scheffels mutatis mutandis anzuwen¬
den berechtigt sein wollen. Hat mit
Ausnahme der Politik auf allen andern
Gebieten geistigen Schaffens die Er¬
kenntnis bereits erfreulich an Boden
gewonnen, wie unsäglich unser Den¬
ken und Empfinden unter der Herr¬
schaft der Begriffe und Schlagwörter
geschädigt wurde, so daß sich bereits
da und dort Rüstung zur Abkehr aus
dem Abgezogenen, Blassen, Gedank¬
lichen zum Greifbaren, Sinnlichen, Far¬
bigen, statt müßiger Selbstbeschauung
des Geistes Beziehung auf das Leben
und die Gegenwart, statt der Zerglie¬
derung die Zusammenfassung voll¬
zieht, so haben vor allem die letzten
Kriegsjahre gezeigt, wie erschreckend
richtig das Volksempfinden urteilt,
wenn sich mit seiner Vorstellung vom
Orientalisten der Begriff des Ausbun-,
des weltfremden, überflüssigen Gelehr¬
tentums unangenehm zwanglos ver¬
bindet.
Um denen, die auf diese Worte hin
einen Vorschlag zur Vervolkstümli-
chung und Verflachung der morgen¬
ländischen Studien erwarten, indem
man sie etwa aus dem Hochschulbe¬
trieb heraus in den der Handels- oder
gar der Volkshochschulen verweist, von
vornherein den Grund zu dieser Be¬
fürchtung zu nehmen, sei gesagt, daß
man damit der Orientalistik wohl den
schlechtesten Dienst erwiese und sie
jenes Ansehens und jener Größe be¬
raubte, das gerade die Vertreter dieser
Wissenschaft auch im Auslande zu
Verkündern deutscher Geistesgröße als
einer unzerstörbaren Macht seit langem
gestempelt hat. Aber gerade der sehn¬
liche Wunsch, daß die deutsche Orien¬
talistik auch fürderhin dazu beitrage,
den Ruf des so schmählich geschände¬
ten deutschen Namens weiter macht¬
voll zu künden, darf die Augen nicht
blind machen gegenüber den Forderun¬
gen der Gegenwart, der auf die Dauer
sich zu entziehen nur mit der Schädi¬
gung zeitgemäßer wissenschaftlicher
Geltung erkauft werden könnte.
Dem etwaigen Einwand, daß man in
der Ansicht des Volkes nicht einen
Gradmesser für die Wertung einer Wis¬
senschaft erblicken könne, läßt sich die
gewiß berechtigte, vom Volk erhobene
Forderung entgegenhalten, daß in der
Gegenwart mit Fug und Recht die mög¬
lichste Dienstbarmachung verlangt wer¬
den dürfe, jeder Pfennig vor seiner
Verausgabung angesehen werden müsse.
Mit der Anerkennung dieses Verlangens
setzt man sich noch lange nicht jenen
unentwegten „Politikern“ gleich, die in
der Beseitigung aller nicht rein prak¬
tischen Nutzfächer vom Lehrplane der
Universitäten ein Endziel ihrer partei¬
lichen Ansprüche erblicken.
2 .
Der Weltkrieg hat wie in so vielem
auch in der Orientalistik gezeigt, daß
die Ausnützung unserer wissenschaft¬
lichen Kenntnisse vom Morgenland zum
Wohle des Vaterlandes nicht das Er¬
gebnis zeitigte, das hoffnungsfreudige
Seelen von ihr erwarteten. Als gleich
im Herbst des Jahres 1914 die Frage
des sog. Heiligen Krieges die deutsche
Allgemeinheit beschäftigte, ließen sich
zwar im Blätterwalde häufig Stimmen
vernehmen, die von dieser Einrichtung
zu sprechen die Berechtigung zu ha¬
ben glaubten. In all dem bekundete
13*
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393 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 394
sit auribusl, nein .. .!) 3 ); daß sich aber
ein süddeutscher Lyzealprofessor da¬
zu hergab, vor etwa 300 Zuhörern
das Osmanische (in altbayrischer Beto¬
nung!) zu lehren, ist eine geradezu un¬
entschuldbare Bloßstellung eines aka¬
demischen Grades gewesen und ein
von keuschen Gelehrten beseufzter
Skandal. Unus multorum! Wenn auch
an deutschen Hochschulen das Tür¬
kische Mode wurde, so sind daran sicher¬
lich nicht in dem Maße die Orientalisten
schuld, die diesen Wünschen glaubten
Rechnung tragen zu sollen, sondern wohl
eher die Unterrichtsverwaltung, die
etwa vom Professor für Assyrisch ver¬
langte, daß er einen Lehrauftrag für
Türkisch übernehme. 4 ) Die weitere Folge
3) Für Einbildungskräftige sei gesagt, daß
er den Ausdruck lautlich mit einer alt-
testamentlichen Person (vgl. 1. Mos. 38, 4,
8—10) in Verbindung brachte und auch den
Begriff in Beziehung zu jener Figur setzte.
4) Während zu Ausgang des 19. Jahr¬
hunderts in den morgenländischen Studien
wie überall die Pfade, auf denen Gelehrte
und Forscher wandelten, sich immer stren¬
ger schieden, immer schmäler wurden, auf
stets kleinere Ziele hinführten, indem ge¬
naue sprachliche und sachliche Ermittlungen
in unermeßlicher Zahl sich häuften und eine
immer weitergehende Spaltung der Ein¬
sichten und der geistigen Arbeit überhand
nahm, erwartet, ja verlangt man anderseits
nicht selten heute noch vom Orientalisten
schlechtweg, daß er auf den verschieden¬
sten Gebieten dieser ungeheuren Wissen¬
schaft beschlagen, daß er „Mädchen für alles“
sei. Der frühverstorbene Straßburger Iranist
und Turkologe Paul Horn hat gerade die¬
sen Übelstand in einem beweglichen Klage¬
ruf einmal grell beleuchtet (vgl. W. Gei¬
er und E. Kuhn, Grundriß der iranischen
hilologie II, 551 ff., Straßburg 1904). Solch
übertriebene Anforderungen an das Fach¬
wissen des einzelnen mußten dann eben
bei überheblichen und selbstüberzeugten
Naturen den weiteren, wegen seines uner¬
quicklichen Gefolges von Abgeschmackt¬
heiten, Unzulänglichkeiten, ja Ungeheuer¬
lichkeiten, womöglich noch betrüblicheren
Mißstand zeitigen, daß diese, in fester Über¬
zeugung von ihrer Allwissenheit, über al¬
les das Morgenland Betreffende ein zustän¬
diges Urteil sich bilden zu können und zu
war eine Flut von Lehrbüchern für das
Türkische, mit denen sich mancher Ge¬
lehrte um das auf anderm Gebiete
wohlbegründete wissenschaftliche An¬
sehen brachte. Die Überzeugung frei¬
lich, daß das frohe Bewußtsein nicht
genüge, auf einer flüchtigen Fahrt nach
Stambul mit einem Lastträger sich zur
Not verständigt zu haben, um mit Er¬
folg und Nachhaltigkeit im Osmani-
schen unterrichten zu können, setzte
sich bei Lehrenden und Lernenden er¬
freulich bald durch und machte jener
Tragikomödie ein verhältnismäßig ra¬
sches Ende, die ein unerfreuliches
Schlaglicht auf die sonst so gründ¬
liche deutsche Wissenschaft warf. Man
erhielte eine völlig falsche Vorstellung,
wenn man etwa vermutete, daß in
Deutschland sich nicht Gelehrte fan¬
den, die jene Sprachen auch wirklich
verstanden und mit einer Geläufigkeit
redeten, die sie in nichts von dem Ein-
gebornen unterschied. Aber man hat
diese Männer fast niemals auf den Platz
gestellt, auf dem sie dem Vaterland
und nebenbei ihrer eignen Wissen¬
schaft unschätzbare Dienste hätten lei¬
sten können. Zum Beweis dessen sei an
Enno Littmann in Bonn erinnert, ein
Sprachgenie sondergleichen, der nicht
nur fast alle europäischen Sprachen,
sondern auch die östlichen (darunter
eine Anzahl arabischer Mundarten) mit
einer unerreichten Meisterschaft be¬
herrscht. Statt ihn nach dem Osten zu
schicken, mußte er Jahre hindurch auf
müssen währiten. Auf diesen Umstand mag,
zum Teil wenigstens, die unleugbare Tat¬
sache zurückzuführen sein, daß in wenig
Wissensgebieten seit alters (über einen be¬
sonders grassen Fall aus dem 17. Jahrh.
vgl. meine Ausführungen in „Die Welt
des Islams“, VII. Jahrg. Berlin 1919, S. 124ff.)
die gelehrte Fehde so unerquickliche For¬
men an- und einen so breiten, so unver¬
hältnismäßig breiten Raum eingenommen
hat wie in der Orientalistik.
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39 => Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 396
einer Berliner Kanzlei in einer Stelle
seiner vaterländischen Pflicht genügen,
Idie ein Anfänger in einer Wissenschaft
gut hätte ausfüllen können, in der er
König und Meister ist.
Fas est et ab hoste doceri. Der alte
Spruch des Ovid kann uns auch heute
noch nutzen, wenn auch die Belehrung
reichlich spät kommt. Es war den Ken¬
nern der östlichen Verhältnisse schon
während des Krieges kein Geheimnis
mehr, daß die Gegner, vorab die Eng¬
länder, alle Orientalisten und Orient¬
reisenden, Frauen eingeschlossen, in
das Kampfgebiet entsandten, wo sie der
gemeinsamen Sache unbeschreibliche
Förderung brachten. Erst jetzt wird
beispielsweise der ungeheure Einfluß
des Oxforder Arabienforschers und
Archäologen T. E. Lawrence in Ein¬
zelheiten bekannt 5 ) Dieser Orientalist
ist einer der romantischen Figuren des
Weltkrieges, der auf einem der weniger
beachteten, aber keineswegs unwichti¬
gen Kriegsschauplätze seine Hand ent¬
scheidend im Spiele hatte. Den „unge¬
krönten König von Arabien“ nannte man
ihn nicht ohne guten Grund. War er es
doch, der die Araber auf Seite des Viel¬
verbandes brachte, das Königreich Hed-
schaz begründete und ein arabisches
Heer auf die Beine brachte, das in die
Kämpfe um Syrien erfolgreich eingriff.
Lawrence ist wohl einer der größten le¬
benden Kenner Arabiens und seiner Al¬
tertümer, der die sämtlichen Mundarten
5) Thomas Edward Lawrences (geb.
1888 zu Carnarvon, Wales) so abenteuerlich
bewegten Lebenslauf führt soeben der ame¬
rikanische Zeitungsschreiber Lowell Tho¬
mas der britischen Welt mündlich (Albert
Hall und Covent Garden Opera House vor
angeblich einer halben Million Zuhörern)
und schriftlich (vgl. The Strand Magazine,
59. Band, 1. u. 2. Heft, London 1920, „to be
continued“!), Dichtung und Wahrheit an¬
mutig und bedachtsam mengend, als den
einer „of the most remarkable and roman-
tic figures of modern times“ vor Augen.
Mittelarabiens geläufig spricht. Auf die¬
ser seltenen Fähigkeit, auf diesem Ver¬
ständnis des arabischen Wesens und sei¬
nen Kenntnissen beruhten seine Erfolge.
Bei Eintritt des Krieges unterbrach er
seine Forschungsreise im Innern Ara¬
biens und diente zunächst als Leutnant
in der Kartenabteilung des britischen
Hauptquartiers zu Kairo. Aber knir¬
schend unter dem zopfigen Zwang der
Armeeverordnungen und nach man¬
cherlei Reibungen mit dem General
Sir Archibald Murray, dem damaligen
Oberbefehlshaber der englischen Trup¬
pen im' Osten, nahm er Urlaub, um einen
Vertreter des englischen Auswärtigen
Amtes nach dem Roten Meere hinunter
zu begleiten. Hier war die arabische Um-
sturzbewegung mit zeitweiligen Erfol¬
gen gerade im Gang, und nachdem er
zwei Wochen im Lande geweilt hatte,
gewann Lawrence die Überzeugung, daß
die Möglichkeit, ein ansehnliches ara¬
bisches Freischärlerheer zu bilden, ge¬
geben sei. Es gelang denn auch dem
jungen Offizier, nicht nur eine einzig¬
artige Armee von rund 200000 Mann
aufzustellen und sich ihr Vertrauen zu
erhalten, sondern auch einen wirkungs¬
vollen Kleinkrieg gegen die türkischen
Verbindungslinien einzuleiten. Auf je¬
den Fall verursachte er den Osmanen
derartigen Schaden, daß sie eine Be¬
lohnung von 100000 Pfund auf seinen
Kopf aussetzten. Mit allen Kriegsorden
geschmückt, die die englische und die
französische Regierung zu vergeben
hatten, begab sich Lawrence, nach ein¬
zigartiger erfolgreicher Tätigkeit zum
Oberst befördert, in die Heimat
zurück; mit der gleichen Selbstver¬
ständlichkeit, mit der er seine Alter¬
tumsforschungen aufsteckte, als der
Kriegsruf an ihn erging, hängte er das
Soldatenhandwerk an den Nagel, als er
seine Aufgaben erfüllt hatte, und kehrte
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397 F ranz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 398
in die Weltabgeschiedenheit seiner Ox-
forder Studierstube zurück.
Gewiß, auch bei uns hatte man aben¬
teuerliche Pläne, und an Unterneh¬
mungslust hat es hier so wenig ge¬
fehlt wie drüben auf feindlicher Seite.
Aber all die kühnen Taten, mit denen
man orientkundige Deutsche während
des Weltkrieges betraute, zeigen zumeist
schon in ihren Plänen und dann in ihren
Ausführungen, daß sie mit einerschwer
beschreibbaren Unkenntnis der Verhält¬
nisse ins Werk gesetzt worden waren
und alle Voraussetzungen vermissen
ließen, die einen nachhaltigen und der
Opfer werten Erfolg vefbürgten. Es ge¬
nügt hier den Namen Oskar v. Nie¬
dermayers zu nennen, der, in ähn¬
licher Eigenschaft wie Lawrence ver¬
wendet, gerüstet und unterstützt, dem
Krieg im Orient unabsehbare Wendun¬
gen hätte geben können.
Ein Grundfehler wäre es, wollte man
für all diese Mißgriffe in unseren po¬
litischen und kriegerischen Maßnahmen
im Morgenland etwa die deutschen
Orientalisten verantwortlich machen.
Daß unsere völlig unzureichende diplo¬
matische Vertretung im Orient, vor al¬
lem aber die nun schwer gerächte Ver¬
nachlässigung unserer Orientdeutschen
die Hauptschuld an diesen Unverständ¬
lichkeiten tragen, ist heute wohl unbe¬
strittene Tatsache. Trotz alledem hätte
manche Enttäuschung, mancher fol¬
genschwere Fehlschlag vermieden wer¬
den können, wenn bei uns der Betrieb
der morgenländischen Studien nicht seit
langen Jahren eine Richtung genommen
hätte, die nicht immer mit praktisch
Verwertbarem gleichlief. Die Ursachen
liegen offen zutage. Während man in
Frankreich und in England seit lan¬
gem zum orientalischen Lehrbetrieb
Gelehrte verwendet, die sich durch län¬
geren Aufenthalt im Morgenland eine
hinreichende Sachkenntnis von Land,
Leuten und Sprachen erworben hat¬
ten, hat man in Deutschland auf derlei
Dinge erstaunlich wenig Wert gelegt.
Dem Einwurf, daß bei den Englän¬
dern die weltumspannenden Beziehun¬
gen es ermöglichten, ihre Orientalisten
mit den Ländern des Aufgangs leichter
in engere Fühlungnahme zu bringen,
kann man die unumstößliche Tatsache
entgegenhalten, daß es eben Zweige
der Wissenschaft gibt, die nicht von
der Stube aus gefördert und nutzbar
gemacht werden können. 6 ) So gut man
beispielsweise bei einem Geographen,
der über Südamerika eine brauchbare
Vorlesung halten muß, billigerweise
die vorherige Bereisung des Landes zur
Voraussetzung nimmt, ebensogut darf
man fordern, daß ein Orientalist sich
wenigstens einmal im Leben gründlich
und nicht als Cook-Reisender („Kuki“)
5n den Zonen umgesehen habe, die er
zum Gegenstand seines Berufes erwählt
hat. Daß S. de Sacy etwa oder un¬
ser verehrter Altmeister, der 84 jährige
Theodor Nöldeke in Straßburg, in
.seinem langen Leben, wie er oft scher¬
zend meint, nach Osten niemals über
Wien vorgedrungen sei, scheint mir
ebensowenig gegen die Berechtigung
jener Forderung zu beweisen, da, nun
da eben nicht jeder mit der gleichen
erstaunlichen Anpassungsfähigkeit und
Vergegenwärtigungskraft sich in die
Gedankenwelt des Ostens einzuleben
versteht, wie dies Nöldeke, Fleischer
oder de Sacy gelang. Dann liegt gewiß
auch nicht die Hauptstärke dieser Ge-
6 ) Was Aloys Sprenger, der glänzende
Orientforscher, vor mehr als 50 Jahren auf
S. XX—XXI des 1. Bandes seines Werkes
„Das Leben und die Lehre des Mohammed“
(2. Ausg., Berlin 1869) sagte, gilt leider heute
noch. Für unsäglich viele bedeutet das
Morgenland eben nicht mehr als eine statt¬
liche Zahl sprachlicher und geschichtlicher
dcnoglai.
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399 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 400
lehrten in der Richtung orientalisti-
scher Betätigung, wie sie die Zukunft
mit größerem Nachdruck denn jemals
fordern wird. Daß ein Verweilen im
Lande selbst überdies das Verständnis
morgenländischer Schriftsteller erleich¬
tert, ist selbstverständlich. Mit den Wor¬
ten:
Wer den Dichter will verstehen.
Muß in Dichters Lande gehen
leitet Goethe seine Noten zum Westöst¬
lichen Diwan ein. Sie gelten gewiß auch
von den morgenländischen Studien,
die das Einleben in eine Welt ver¬
langen, die von der unsrigen durch
Denkart, Sitte, Gefühl und Glaube un¬
endlich weit entfernt ist. Die Erkennt¬
nis davon scheint freilich in weitesten
Volkskreisen noch nicht zu der wün¬
schenswerten Tiefe durchgedrungen zu
sein. Sonst wäre während des Krieges
wohl das unsäglich dreiste Treiben je¬
ner Persönlichkeiten nicht in dem Maße
erfolgreich gewesen, „deren Namen die
Erwähnung nicht verdienen, die jeder¬
mann kennt, die unter dem Anschein
wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher
Interessen und, so unberufen sie waren,
allein von der alten Regierung heran¬
gezogen und unterstützt, schon ein
Jahrzehnt vor dem Kriege und vor al¬
lem während des Krieges ihr unerhört
verderbliches Wesen in der Türkei ge¬
trieben haben“. In diesem Satz hat sich
ein so gewissenhafter Forscher und
Orientkenner wie E. Herzfeld in sei¬
nem lesenswerten Aufsatz über „Ver¬
gangenheit und Zukunft der Erfor¬
schung Vorderasiens“ (Der neue Orient-
IV. Bd., 1919, 7./8. Heft) gegen diese
Leute gewandt, die die deutsche Öffent¬
lichkeit so lang in verheerender Weise
über Fragen des Orients irreführen
durften. Der ehrliche Blick erschrickt
vor dem Wüste von Unwahrheiten,
Flachheiten, Unrichtigkeiten, durch den
die öffentliche Meinung bei uns ge¬
fälschtwurde. Schriften und Abhandlun¬
gen über die schwierigsten Fragen der
Orientpolitik und -Wirtschaft flössen
aus der Feder gewissenloser Dilettanten,
und ein gewiegtes Urteil über türkisch¬
arabische Zustände schien eine Spie¬
lerei für jeden, der einmal im Leben
etwa die Halbmonde der Moscheen von
Stambul oder gar Damaskus im Schein
der östlichen Sonne erglänzen sah.
Also, daß ein gutmütiger Gesell über
all dem Gerede und Geschreibe zu dem
Glauben gelangen mußte, in Deutsch¬
land wimmle es von erfahrenen Orient¬
kennern. Wenn diesem unerwünschten
Gebaren seitens der zünftigen Erfor¬
scher des Morgenlandes nicht mit der
gebührenden Schärfe entgegengetreten
wurde, so liegt dies wohl weniger an
der bescheidenen Zurückhaltung unse¬
rer Orientalisten oder etwa an der Ver¬
bitterung, daß sie nicht befragt und
zu Rate gezogen wurden, sondern wohl
eher daran, daß die Zahl der wirklich
gründlichen Landeskenner bei uns nicht
so zahlreich ist, als man gemeiniglich
annehmen möchte.
3.
Erhebt sich also für die Zukunft die
unabweisbare Forderung einer mehr
praktischen Veräußerlichung im mor¬
genländischen Studienbetrieb, so tritt in
diesem Zusammenhang die Frage auf,
(wie sie sich im Rahmen der bestehenden
Verhältnisse am besten erfüllen läßt
Daß wir nicht nur kaufmännisch, son¬
dern auch wissenschaftlich, für die
nächste Zeit wenigstens, von einer Be¬
tätigung im Orient selbst ausgeschlos¬
sen bleiben, darüber haben uns z. B.
die Gewaltverfügungen der Engländer
gegen F. Sarre, dem man die Einreise
nach Persien rundweg verwehrte, nicht
im unklaren gelassen. Nicht einmal die
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401 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 402
Bergung der wissenschaftlichen Aus¬
beute gestattet man, indem man Herz¬
felds und Sarres prachtvolle Grabungs¬
funde von Samarra ohne auch nur den
Schein eines Rechtes nach London ver¬
schleppte, So wenig also von dieser
Seite Rücksichten zu erwarten sind, so
wenig können wir durch sie an be¬
scheidenen praktischen Umgestaltungen
im orientalistischen Lehrbetrieb gehin¬
dert werden. Im Ausland, vorab in Eng¬
land, hat man schon seit langem den
morgenländischen Sprachunterricht in
die Hände sogenannter Lektoren ge¬
legt. Welche Entlastung diese Ma߬
nahme bedeutet, kann ein Blick in die
Vorlesungsverzeichnisse lehren, wo
mancher Gelehrte, der gerne einem grö¬
ßeren Teilnehmerkreis durch Abhalten
zusammenfassender Sachvorträge ent¬
gegenkäme, im Drange philologischer
Betätigung nicht die Zeit dazu findet.
Die reichere Ausnützung der Lektor-
Einrichtung (man hat bisher an einigen
Universitäten bereits türkische Lekto¬
ren zugezogen) käme sicherlich auch
dem praktischen Sprachunterricht zu¬
gute. Daß eine gründliche, allseitige
Kenntnis vom Sprachbau nicht gleich¬
bedeutend mit der Fähigkeit ist, sich in
der betreffenden Zunge auch geläufig
auszudrücken, ist eine alte Tatsache.
Eine praktisch verwertbare Sprach-
kenntnis wird also in der Hauptsache
wohl nur auf Hochschulen vermit¬
telt werden können, an denen ein
sprechgeübter, landerfahrener Gelehrter
wirkt. Wenn die Zahl solcher Leute
in nichtdeutschen Ländern auffallend
groß ist, so ist daran gewiß auch der
Umstand schuld, daß man eine statt¬
liche Anzahl früher im Konsulatsdienst
tätig gewesener Männer zuzog. Ein
Blick in die Geschichte etwa der fran¬
zösischen Orientalistik lehrt zur Ge¬
nüge, daß gerade die bedeutendsten
Forscher aus dieser Laufbahn hervor¬
gegangen sind. Auch wir besitzen eine
Reihe glänzender Gelehrter, die sich
durch langes Verweilen im Morgen¬
land eine beneidenswerte Kenntnis von
Land, Leuten und Sprachen erworben
haben; es sei hier nur an Namen wie
(f) A. D. und J. M. Mordtmann, (f) P.
Schröder, (f) J. G. Wetzstein erinnert
die Heranziehung von Kräften wie diese,
die an wissenschaftlicher Bedeutung hin¬
ter wenigen zurückstehen, könnte nur
Sm Interesse unserer Wissenschaft lie¬
gen. Da neuerdings die Meinung, daß
lediglich ein Jurist zur Übernahme der
Konsulatsgeschäfte geeignet sei, nicht
unbegründeten Zweifeln begegnet, so
wäre vielleicht der Orientalistik in
der Weise ein guter Dienst erwie¬
sen, daß man jüngere Forscher, denen
eigne Mittel ausgedehnte und kostspie¬
lige Reisen nicht erlauben, zum Konsu¬
latsdienst heranzieht und ihnen später
etwa den Übertritt an eine Hochschule
gestattet. Die ohnedies nicht sehr zahl¬
reichen Stiftungen zur Förderung orien¬
talischer Studien haben bei der derzei¬
tigen Geldentwertung nahezu jegliche
Bedeutung verloren. Zur Unterstützung
von Forschungsreisen kommen sie hin-
für ebensowenig in Betracht wie für
die Drucklegung morgenländischer
Werke. Der zumal während des Krie¬
ges ernstlich erwogene Plan, in Stam-
bul, ähnlich wie in Athen und Rom,
eine Anstalt zu begründen, an der jün¬
gere Gelehrte ihren Studien obliegen
und durch Reichsunterstützung die
Muße zu wissenschaftlichen Arbeiten
aufbringen können, hat durch die grau¬
same Wendung des Geschickes eine
jähe Zerstörung erfahren. Dennoch wäre
vielleicht die Schaffung sog. wissen¬
schaftlicher Attaches an den Haupt¬
gesandtschaften des Orients ein Vor¬
schlag, dem nicht allein um der öst-
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403 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deut
liehen Studien willen näherzutreten ; Museum für Völkerkunde, auch
sich empfehlen dürfte. Wird auch der einige neuorientalisch gerichtete Ge-
Umschwung der Verhältnisse nicht ver- lehrte eine dauernde und lohnende
hindern können, daß den neuorientali- Stätte. Die Lehrtätigkeit ist nicht nach
sehen Studien an deutschen Hochschu- jedermanns Neigung und Geschmack.
len nach wie vor die Teilnahme und Nach wie vor macht allein der Vortrag
Unterstützung erhalten bleiben muß,
so kann man nicht ohne bange Sorgen
der Zukunft der altmorgenländischen
Wissenschaft entgegensehen. Abgesehen
davon, daß fürderhin nur ganz wenige
große Universitäten sich den Luxus
einer Zweiteilung des orientalischen
Lehrstuhls werden gestatten dürfen, in¬
dem ein Gelehrter etwa Assyrisch, Su¬
merisch usw., der andere aber die isla¬
mischen Studien pflegt, wird die not¬
wendige Betonung praktischer Ge¬
sichtspunkte wohl dazu führen, den
einen oder andern mit einem Assyrio-
logen besetzten Lehrstuhl nach seiner
Erledigung etwa durch einen Islam-
forscher zu besetzen. Eine gewisse Ent¬
schädigung freilich bilden die Mu¬
seen, die für ihren Betrieb assyrio-
logisch und altorientalisch geschulte
Kräfte benötigen. Aber abgesehen da¬
von, daß diese Gelehrten dann als Leh¬
rer nicht in Frage kommen, weil an
den Museumsorten wie Berlin, Leipzig,
München ohnedies im Lehrplan der
Assyriologie Rechnung getragen wird,
ist die Zahl dieser Unterbringungsmög¬
lichkeiten eben auch nur beschränkt.
Schließlich wird aber an vielen Hoch¬
schulen die Assyriologie von Alttesta¬
mentlern mitversorgt, deren fachliche
Gebundenheit durchaus nicht hindert,
daß unter ihnen sich eine Reihe glän¬
zender Sprachkenner befindet, und je¬
mand, der sich tiefer in dieses Gebiet
hineinzuarbeiten beabsichtigt, wird nicht
um den Zwang herumkommen, an einer
großen Hochschule einen Sonderfach¬
mann zu hören. Die Museen bieten, wie
das Kaiser-Friedrich-Museum oder das
des Redners Glück, und es mag man¬
chen Orientalisten geben, der zwar ein
angesehner Forscher und Büchergelehr¬
ter ist, dessen Stärke aber auf einem
ganz andern Gebiet als auf dem des
Vortrags liegt. Diesem Schlag von Ge¬
lehrten müßte in erster Linie der Zu¬
tritt zur Museumslaufbahn offen ge¬
halten werden, wo sie, umgeben von
ihren Sammlungen und Büchern, sich
weit wohler und sichrer fühlen würden
als auf der Lehrkanzel.
In diesem Zusammenhang wäre wohl
auch der schwierigen Frage näherzu¬
treten, inwieweit sich etwa die Aus¬
gestaltung des Orientalischen Seminars
in Berlin zu einer Ausland-Hochschule
empfiehlt. Die Einwände, die Adolf
v. Harnack vor zwei Jahren in dieser
Zeitschrift 7 ) mit guten Gründen dage¬
gen erhoben hat, lassen sich in ihrer
Gesamtheit jetzt vielleicht nicht mehr
aufrechterhalten. Die Überzeugung von
der Notwendigkeit der Auslandstudien
hat sich längst durchgesetzt; eine be¬
sondere Betonung des Morgenlandes
wird sich dabei auch trotz des gewalt¬
sam unterdrückten deutschen Einflus¬
ses im nahen und fernen Osten nicht
umgehen lassen. Die Gewißheit, daß
einschlägige Unterrichtsgegenstände wie
Sprach- und Länderkunde, Gesell¬
schaftslehre und Volkskunde etwa in
Berlin oder Hamburg eine ausreichende
Pflege finden werden, darf die übrigen
Hochschulen des Reiches nicht in das
laue Bewußtsein einwiegen, daß des¬
halb anderwärts nichts hierfür ge¬
schehen müsse. Im bescheidenen Rah-
7) 13. Jahrgang, Sp. 181 ff.
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405 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 406
men sollte auch an den kleineren Uni¬
versitäten der praktischen Orientkunde
Rechnung getragen werden. Daß das
Orientalische Seminar allein nicht aus¬
reicht, eine richtige Kenntnis der öst¬
lichen Verhältnisse zu vermitteln, hat
ebenfalls der Krieg erwiesen. Sonst
hätte die Zahl derer, die sich im Mor¬
genland dtwa wie in der Mark Bran¬
denburg einrichteten und benahmen,
nicht so erschreckend hoch sein kön¬
nen. Das Maß von Unverstand, mit
dem man z.B. unsere türkischen Bun¬
desgenossen behandelte, übertrifft jede
noch so verstiegene Vorstellung. Daß
der gute Wille, sich dem fremden
Volkstum anzupassen, allein nicht aus¬
reicht, haben viele unerfreulich deut¬
lich gezeigt, die sich mehrere Jahre im
Orient aufhielten. Ihr Benehmen war teil¬
weise ebenso unverständlich wie älterer
Orientfahrer schriftliche Ergüsse, die
nach Zettelkästen schmeckten oder,
um mit Pytheas zu sprechen, nach der
Lampe rochen.
Die Gefahren, die mit einem derartig
gerichteten Kurs auf einem nur schein¬
bar so abgelegenen Gebiet wie die mor¬
genländischen Studien erwachsen müs¬
sen, hat man im Ausland längst er¬
kannt. Und wenn bei Vergleichen, wie
sie etwa T. W. Rhys Davids in seinem
Aufsatz „Oriental studies in England
and abroad“ darlegte (Proceedings of
the British Academy, I. Bd.), Deutsch¬
land verhältnismäßig glänzend ab-
schnitt, so ist das auf die ausschlie߬
liche Verwertung zahlenmäßiger Unter¬
lagen zurückzuführen. Zahlen entschei¬
den eben trotz J. F. Benzenberg nichts
oder nur wenig. 8 ) Höchst lehrreich we¬
gen de r darin enthaltenen Gutachten
8) Das gleiche gilt m. E. auch von dem
Aufsatz S. Levis „L’enseignement de l’Orien-
talisme en France. Son £tat actuel — les r£-
formes nöcessaires“ in der Revue de syn-
thöse historique, XX. Band, S. 261—277.
auch von Großkaufleuten, Reisenden
und Ausländern sind für die Neuge¬
staltung des morgenländischen Stu¬
dienbetriebes in Deutschland die „ML-
nutes of evidence taken by the Com¬
mittee appointed by the Lords Com-
missioners of His Majesty’s Treasury
to consider the Organization of orien¬
tal studies in London“ (London, 1909,
324 Ss.) sowie der „Report of treasury
committee on the Organization of orien¬
tal studies in London“ (London, 1909,
Wyman). 9 ) Die Berücksichtigung der
dort vor allem auch um des auswärti¬
gen Regierungsdienstes willen getrof¬
fenen Bestimmungen hat zweifellos ein
gut Teil der englischen Erfolge auf den
morgenländischen Kriegsschauplätzen
bewirkt, ganz abgesehen von den übri¬
gen, auf feines Verständnis der öst¬
lichen Seele gegründeten diplomati¬
schen Maßnahmen des schlauen Briten¬
volkes.
Es wäre verkehrt, grundverkehrt,
wollte man etwa vom lebenden Ge-
schlechte der deutschen Orientalisten
ein Aufgeben ihrer bisherigen Lehrwei¬
sen verlangen oder ihnen gar zumu¬
ten, in beschwerlichen Orientreisen die
etwaigen Lücken in ihrer Landeskennt¬
nis auszufüllen. Zumal von den älte¬
ren unserer Orientforscher wird man
ein Mit-der-Zeit-Gehen 10 ) nicht mehr
verlangen dürfen. Manche unter ihnen
haben übrigens seit langem in weiser
Voraussicht die Wichtigkeit gewisser
Zweige der morgenländischen Studien
9) Vgl. dazu M. in dieser Zeitschrift,
III. Band, 1909, Sp. 1397—1400 sowie H[enri]
D[£herain] „La nouvelle Organisation des
etudes orientales en Grande Bretagne" im
Journal des Savants, 1909, S. 521—523, fer¬
ner Journal Asiatique, X. Reihe, 14. Band,
S. 545.
10) Vgl. dazu die trefflichen Worte Richard
Hartmanns „Der nähere Orient im Lehr¬
betrieb unserer Hochschulen“ im II. Jahrg.
des Deutschen Vorderasien- und Balkan-
ardiivs, Leipzig 1919, S. 77—79.
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407 Franz Babinger, Die Zukunft der morgenländ. Studien in Deutschland 4Qg
betont und in ihrem Lehrbetrieb berück¬
sichtigt. Ich denke z.B. an Georg Jacob
Sn Kiel, der als einziger Deutscher sdhon
vor 30 Jahren ein Hauptgewicht auf das
Osmanische legte und erst durch die
Gegenwart die angenehme Bestätigung
erhielt, wie gut er daran getan habe.
Auch wird niemand etwa die unbillige
Forderung erheben, daß die in Jahr¬
hunderten bewährte reinsprachliche Ar¬
beit etwa durch ein seichtes, im Feuille¬
tonstil gehaltenes Gerede ersetzt werde.
Der Wunsch, daß die alte Fleischersche
Schule ihre ehrwürdige Überlieferung
aufrechterhält, wird auch in Zukunft
von allen Einsichtigen geteilt werden.
Ist ja Leipzig heute noch nicht nur eine
treffliche Pflegstätte für Islamkunde
und die klassisch-orientalischen Stu¬
dien, sondern auch für die sprachwis¬
senschaftliche Erforschung der Islam¬
welt ganz im Sinne des guten „Schejch"
geblieben. Trotz alledem wird man zu¬
geben müssen, daß nicht allein im Uni-
versitätsbetrieb, sondern auch in der
Stubenarbeit immer noch eine Rich¬
tung vorherrscht, die den Bedürfnissen
der Neuzeit nicht immer entgegen¬
kommt. Mit jedem Jahre bringen die
Meßkataloge eine Menge tiefgründiger
Untersuchungen und vermehren die im
letzten Jahrhundert erschienene Reihe
ähnlich gearteter Schrifterzeugnisse. An
zusammenfassenden, dringend erfor¬
derten Hilfsmitteln oft notdürftigster
Gattung fehlt es dagegen bedenklich.
In diesem Sinn allein kann man als
Schreiber vielleicht das Eingehen so
zahlreicher Fachzeitschriften begrüßen,
die eine Unzahl kleiner Forschungen
brachten und damit die großzügige Ar¬
beit behinderten.
4.
Im vorstehenden konnten nur An¬
deutungen darüber gemacht werden,
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wie etwa die morgenländischen Stu¬
dien sich den Erfordernissen der Ge¬
genwart anzugleichen haben. Ins ein¬
zelne gehende Vorschläge zu machen,
liegt ebensowenig in meiner Absicht
wie in meiner Zuständigkeit. Seit den
letzten Monaten ist eine große Bewe¬
gung innerhalb der deutschen Orien¬
talistenwelt im Gange, die sich im Rah¬
men eines Verbandes für morgenlän¬
dische Forschung mit diesen Dingen
zu befassen sicherlich angelegen sein
läßt, sobald der von C. H. Becker und
E. Herzfeld entworfene großzügige und
ganz zeitgemäße Plan verwirklicht wor¬
den ist. Es ist ein Segen für die deutsche
Orientalistik, daß in einer Zeit, wo die
drohende feindliche Haltung großer
wissenschaftlicher Kreise des Auslan¬
des ihren Lebensnerv zu lähmen droht,
wo Lohnverhältnisse und Stoffmangel
die Schreibmöglichkeit in einer fast
hicht mehr erträglichen Weise be¬
schränken, ihre Belange von einem
Manne getragen und gefördert wer¬
den, dessen Persönlichkeit die zuver¬
sichtliche Bürgschaft gibt, daß die
schwere Not der Zeit dereinst überwun¬
den und in der Zukunft wieder erträg¬
liche Daseinsbedingungen für die deut¬
sche Orientalistik geschaffen werden:
ich meine Carl Heinrich Becker. Selbst
dem Hochschullehrerberuf entstam¬
mend, wo er, mit dem Ruf eines der be¬
sten lebenden Islamkenner, in Hamburg
bürg und zuletzt in Bonn eine anregende,
weitausgreifende Lehrtätigkeit entfaltete
und sich zugleich als gedankenreicher
und zielbewußter Umgestalter erwies,
ward er schon vor dem Umsturz, noch
von der alten Regierung in das
preußische Unterrichtsministerium be¬
rufen. Dort wurden ihm als Wirkungs¬
feld die Universitäten übertragen. In sei¬
ner neuen Eigenschaft ward er dann vor
die ebenso dankenswerte wie undank-
409 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 410
bare Aufgabe gestellt, die Umgestaltung
der Hochschulen durchzuführen. Daß
dabei von einem so hervorragenden
Orientalisten die Interessen seines alten
Sonderfaches sachgemäß und nach¬
drücklich vertreten werden, steht wohl
ebenso außer Frage, wie die Hoffnung
nicht zuschanden werden wird, daß
diese Umwandlung unter der Leitung
eines so welterprobten und praktischen
Führers in einer zweckmäßigen, berech¬
tigten Ansprüchen der Neuzeit angepa߬
ten Form erfolgen wird.
Eine Hauptschwierigkeit wird auch hier
der nervus rerum; sein, der der Betäti¬
gung eines guten Willens an einer ge¬
wissen Stelle ein Ziel setzen wird.
Doch steht zu hoffen, daß gerade vom
Gesichtspunkt der praktischen Umbil¬
dung des morgenländischen Studien¬
betriebes aus auch der geldliche Auf¬
wand vom Reiche mit offenerer Hand
bestritten werden wird, als dies etwa
bisher der Fall war, wo man über die
Orientalistik als einen untergeordneten
Zweig des Wissenschaftsbetriebes
glaubte hinwegsehen und sie als not¬
wendiges Obel betrachten zu dürfen.
Kein Zweifel, der östlichen Wissen¬
schaft dienen so treffliche Kräfte, daß
auch weiterhin das ernst und sachlich
urteilende Ausland in ihr ein gewalti¬
ges Bollwerk deutschen Geistes er¬
blicken wird. Wir dürfen getrosten
Mutes in die Zukunft schauen. Der neue
Orient muß sich auch dem Deutschen
wieder öffnen, und das alte Morgenland
wird seine Bedeutung bewahren, so¬
lange die Kirchen etwas gelten, die
ihm ihre Urkunden verdanken.
Neue Veröffentlichungen über die Vorgeschichte
des Weltkrieges.
Von Justus Hashagen.*)
II.
Außer den bisher besprochenen
Sammlungen und Editionen sind auch
zwei lehrreiche Darstellungen erschie¬
nen, von denen die Hiltebrandts
die umfassender ist; denn sie behan¬
delt unter dem Gesichtspunkte der Vor¬
geschichte des Krieges drei Gegen¬
stände von größter Tragweite: 1. Die
traditionelle Politik der großen Mächte.
2. Den Ausbruch und die Ausbreitung
des Weltkrieges. 3. Den Kampf der po¬
litischen Ideen.
Von Idiesen Abschnitten ist der zweite
durch die neuen Veröffentlichungen
über die diplomatische Geschichte des
Kriegsausbruchs zwar teilweise über¬
holt, aber besonders wegen seiner all¬
gemeinen brauchbaren Gesichtspunkte,
*) Siehe Heft 4.
in deren Aufstellung der umsichtige
Verfasser nicht hier nur große Ge¬
schicklichkeit bekundet, recht lesens¬
wert, zumal da Hiltebrandt, ohne der
geschichtlichen Wahrheit zu nahe zu
treten, eifrig und erfolgreich bemüht
ist, den Umfang und die Stärke der
deutschen Friedensliebe, wie sie sich
noch während der unglücklichen Drei¬
zehn Tage mehr als ein Denkmal ge¬
setzt hat, gebührend hervorzuheben.
Einen sprechenden Beweis dafür er¬
blickt der Verfasser mit Recht auch in
der Tatsache, daß ein „Hyperpazifist“
wie Lichnowsky fast zwei Jahre lang
Vertreter des Deutschen Reiches in
London sein konnte. Andererseits wird
der Haltung der englischen Regierung
während dieser letzten Krise eine of-
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411 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 412
fene Kritik gewidmet, und was S. 232 ff.
über die Schuldfrage im ganzen gesagt
wird, ist durchweg wohlbegründet und
gehört mit zu dem Besten, was bisher
darüber geschrieben ist. Unter der
Überschrift „die Ausbreitung des Krie¬
ges“ wird dann noch die Haltung Bel¬
giens, Italiens und der Vereinigten Staa¬
ten von Amerika erörtert.
Nicht minder beachtenswert ist der
dritte den „Kampf der politischen Ideen“
darstellende Teil. Indem Hiltebrandt
hier, wenn auch in gedrängter Kürze,
die Prestige-, Verleumdungs- und Ideali¬
sierungspropaganda der Entente ein¬
drucksvoll und auf Grund umfassen¬
der Kenntnis der feindlichen Ziele und
Mittel zur Anschauung bringt, gräbt
er politisch und historisch weit tiefer
als Rohrbach mit seinem ersten Bande.
So hat der Verfasser gerade mit diesem
Kapitel seinem formal aufs beste
durchgearbeiteten Werke den wirksam¬
sten Abschluß geben können. Auch an
andern Stellen kommt er auf dies un¬
erschöpfliche Thema zurück. Trefflich
gelungen ist S. 150 ff. die Kritik des
englischen „Pazifismus“ und seines
„moralischen Alibi“, auf das er ver¬
weisen konnte, wenn es trotz seiner Ab¬
rüstungsvorschläge zum Kriege kam.
Der Schwerpunkt der Darstellung
liegt jedoch durchaus im ersten Teile,
dessen Überschrift „die traditionelle Po¬
litik der großen Mächte“ noch nicht
einmal deutlich genug erkennen läßt,
um was es sich handelt. Man findet
hier eine großzügige Einführung in die
Hauptprobleme der Vorgeschichte des
Weltkrieges im weiteren und weite¬
sten Sinne (auch die Staatengeschichte
früherer Jahrhunderte wird mit Er¬
folg herangezogen) vom Standpunkt
der besonderen Eigenart der großen
Mächte aus, gewissermaßen eine zeit¬
gemäße, durch die Kriegserfahrungen
befruchtete Weiterbildung der klassi¬
schen Arbeiten von Ranke und M.Lenz
über die großen Mächte. Wenn man
auch Italien, die Vereinigten Staaten
und Japan in dieser sonst durchaus
weltgeschichtlich orientierten Aufstel¬
lung nur ungern vermißt, so dürfen
doch diese Darlegungen trotz ihres ver¬
hältnismäßig knappen Umfangs als eine
Zierde unsers neusten politisch-histo¬
rischen Schrifttums bezeichnet werden.
Sie sind, wie man sich denken kann,
ihrem allgemeinen Zwecke entsprechend
nicht zeitlich, sondern örtlich-sachlich
gegliedert. Das war unvermeidlich,
wenn die Haupt- und Grundzüge der
auswärtigen Politik der großen Mächte
mit der nötigen Klarheit he raus gearbei¬
tet werden sollten. Wiederholungen lie¬
ßen sich dann nicht ganz vermeiden.
Aber der kritische Leser nimmt diese
und kleinere chronologische Versehen in
Kauf, wenn er sonst, besonders mit der
Aufstellung allgemeiner Richtlinien, so
reich entschädigt wird.
Von einem deutschen, unter dem
Eindrücke des Waffenstillstands abge¬
schlossenen Kriegsbuche kann man völ¬
lige Unparteilichkeit nicht verlangen.
Einer blutleeren und politisch selbst¬
mörderischen Objektivität vermag sich
der seiner vaterländischen Aufgabe
durchaus bewußte und in seinem deut¬
schen Gewissen gebundene Historiker
nicht zu verschreiben. Vielmehr führt
Hiltebrandt mit scharfem Geiste und
mit scharfer Feder die historisch-poli¬
tische Verteidigung seines unglücklichen
Vaterlandes. Er gibt ferner dieser von
der ersten bis zur letzten Seite fesseln¬
den Verteidigung damit die richtige
Spitze, daß er in seinem ersten Teile
Licht und Schatten mit Absicht un¬
gleichmäßig verteilt: der britischen
Festlands- und Weltpolitik wird mit
vollem Bewußtsein der breiteste undzu-
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PRINCETON UNIVERSEll“ 1 *^
413 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 414
/
gleich der dunkelste Platz angewiesen.
Gerade in diesem für die allgemeine
Beurteilung der Vorgeschichte des Krie¬
ges im weiteren Sinne und der ganzen
Schuldfrage entscheidenden Punkte
bleibt er hinter dem angeblich so all¬
deutschen, noch zu würdigenden Gra¬
fen Reventlow kaum eine Schrittlänge
zurück. Als Apologet läßt er sich von
ihm durchaus nicht übertreffen, ob¬
wohl er selbst mit den Alldeutschen
nichts zu tun haben will. In Hilte-
brandts ganzem Werke gibt es keinen
Abschnitt, der auf einen so scharfen,
unerbittlichen Ton gestimmt ist wie
der über England.
Die große Apologie der deutschen
Politik wird vorbereitet durch eine ein¬
dringliche Würdigung Preußen-Deutsch¬
lands, die, ohne sich von den gegen¬
teiligen feindlichen und heimatlichen
Behauptungen beirren zu lassen, dem
Staate Preußen als dem in der Ge¬
schichte bewährten Horte Deutschlands
endlich wieder die notwendige Gerech¬
tigkeit widerfahren läßt. Damit wird
der richtige Auftakt sowohl zur um¬
fassenden Schilderung der auswärtigen
Reichspolitik wie des ganzen Kapitels
über die großen Mächte gefunden. Die
paar Seiten, die der Verfasser am
Schlüsse dieser Einleitung über die All¬
deutschen anfügt, sind zur Anbahnung
eines gerechten Urteils über sie dien¬
licher als Rohrbachs ganzer zweiter
Band.
Der Abschnitt über Frankreich an¬
dererseits mit seiner Brandmarkung des
französischen Militarismus und des
französischen Hangs zu Völkerrechts¬
verletzungen (Bruch der Algeciras-
akte) führt dann allmählich in das bri¬
tische Reich der Finsternis hinüber. Auf
dem Kapitel über England liegt der
ganze Nachdruck. Es steht in einem in-
ueren, notwendigen Zusammenhänge
mit dem Kapitel über Deutschland.
Denn was früher in dieser Einleitung
als geschichtlich notwendige Wesens¬
züge deutscher Festlands- und Welt¬
politik aufgezeigt worden ist, erscheint
jetzt in dem Kapitel über England als
notwendiger Grund der englischen
Feindschaft gegen Deutschland: 1. Die
Friedens-, 2. die Gleichgewichts-, 3. die
Welthandels-, 4. die Marinepolitik (vgl.
die lichtvolle Zusammenfassung S. 137).
Der Verfasser führt hier zu dem Kern¬
punkte des schon im Titel des ganzen
Werkes packend zum Ausdruck ge¬
brachten „europäischen Verhängnisses“.
In dem trotz aller Kürze überzeugend
geführten Nachweise von der Notwen¬
digkeit dieses inneren Zusammenhan¬
ges zwischen deutschem Lebens- und
englischem Vernichtungswillen liegt der
wissenschaftliche Hauptertrag des Bu¬
ches, von dem auch Geschichts- und
Kriegsphilosophie einen Anteil erhal¬
ten können.
Der zweite Hauptgegenstand des
Englandkapitels ist die Entwicklungs¬
geschichte der von Lichnowsky (vgl.
S. 177) so völlig verkannten Einkrei¬
sungspolitik Englands. Auch hier fin¬
den sich im allgemeinen und im ein¬
zelnen viele treffende Beobachtungen.
Und doch hat selbst dieser gegenüber
England so hellsichtige Deutsche in
einer Hinsicht noch nicht alles gesagt.
Seine Entwicklungsgeschichte der eng¬
lischen Einkreisungspolitik vor dem
Kriege ist insofern lückenhaft, als die
Einbeziehung neutraler Mächte in den
großen um das Deutsche Reich von Eng¬
land vor dem Kriege geschmiedeten
Ring, ohne dessen Dasein der Krieg nie
zugunsten des allmächtigen Inselreiches
ausgeschlagen wäre, fast gar nicht be¬
rücksichtigt wird, obwohl schon die bis¬
herigen deutschen Darstellungen, wie
z.B Reventlows Hauptwerk, zur Genüge
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415 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 416
darauf eingehen. 1 ) Immer wieder las¬
sen sich lange vor dem Kriege drei
Hauptbetätigungen dieser Einkreisungs¬
politik nachweisen: die Wühlarbeit in¬
nerhalb des Dreibundes, überhaupt die
Untergrabung alter deutscher Freund¬
schaften, die Wiederbelebung alter
deutscher Feindschaften, darüber hin¬
aus aber auch die langjährige und an
mehr als einer Stelle von Erfolg ge¬
krönte Bearbeitung der Neutralen. Diese
letzte Betätigung wird vom Verfasser
unterschätzt, wie auch das S. 161 über
die Haltung der Neutralen gefällte allzu
optimistische Urteil erkennen läßt.
Noch in einem andern Punkte ver¬
mag man dem Verfasser nicht zu fol¬
gen. Im Hinblick auf den von Deutsch¬
land während der ersten Marokkokrise
von 1905 und von den Mittelmächten
während der Bosnischen Annexions¬
krise von 1908/09 errungenen diplo¬
matischen Erfolg konstatiert Hiltebrandt
das Scheitern der englischen Einkrei¬
sungspolitik. Er kann sich für diese
Feststellung nicht nur, was er wirklich
tut, auf G. Hanotaux und P. Leroy-
Beaulieu, sondern, was schwerer ins
Gewicht fiele, auch auf manchen deut¬
schen Politiker wie Jäckh berufen, be¬
sonders aber auf den Hauptspieler
selbst, nämlich den Fürsten Bülow, der
diese Anschauung auch in der Kriegs¬
fassung seiner „Deutschen Politik“ hart¬
näckig festgehalten hat. Aber selbst
solche Autoritäten können auf dem
Wege zur geschichtlichen Wahrheit
nicht das letzte Wort behalten, sondern
allein die Tatsachen aus der Zeit nach
1) Einiges habe ich 1918 in zwei Kriegs¬
vorträgen zusammengestellt: Vorgeschichte
des Weltkrieges 1890—1908 (Deutscher Staat
und deutsche Kultur S. 97 ff.) und Vorge¬
schichte des Weltkrieges seit Bismarcks Ent¬
lassung (Vorträge des Lehrgangs für den
Heimatdienst im Bereich des Stellv. Gen.-
Kommandos XXI. und XVI. A. K. S. 7!.).
Beilegung der Annexionskrise. Diese
lassen einem unvoreingenommenen Be¬
urteiler keinen Zweifel darüber, daß.
jene diplomatischen Erfolge Deutsch¬
lands oder der Mittelmächte von
1908/09 oder gar von 1905 nur
vorübergehend gewesen sind. Die eng¬
lische Einkreisungspolitik wird durch
sie so wenig zurückgedämmt, daß sie
vielmehr gerade aus jenen Erfolgen
einen um so stärkeren Antrieb erhält,
nur daß sie jetzt äußerlich allerdings
weit vorsichtiger als früher auftritt,
und daß England sich immer mehr in
das Zwielicht eines in pazifistische Fer¬
nen verschwimmenden Hintergrundes
zurückzieht und die äußere Führung
des Chors in der Tragödie immer mehr
den Russen und ihren französischen
und balkanischen Freunden überläßt,
zumal im Orient. Aber das ist nur
Schein, durch den man sich nicht blen¬
den und von der Erkenntnis des wah¬
ren Seins abhalten lassen darf. Auch
die Tatsache, daß Deutschland bis 1910
seine Flottenpolitik gegen England im
allgemeinen durchgesetzt hat, kann nur
als vorübergehender Erfolg bezeichnet
werden. Schon die vom Verfasser zu
kurz behandelte und übrigens ein Jahr
zu spät angesetzte, für die Beurteilung
der Schuldfrage im weiteren Sinne
grundlegende Berliner Mission Hai-
danes hat 1912 die deutsche Flotten¬
rüstung beeinträchtigt, womit den an¬
erkennenden Worten des Verfassers
über die Verdienste der im übrigen in¬
takten deutschen Flotte im Weltkriege
(S. 160 f.) natürlich nicht widersprochen
werden soll. Aber von dem „Scheitern
der englischen Isolierungspolitik" in den
letzten Jahren vor dem Kriege mit einer
solchen Zuversichtlichkeit zu sprechen,
wie Hiltebrandt es tut, gehört zu den
unausrottbaren deutschen Illusionen,
von denen sich gerade unser Autor
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fe
417 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 418
sonst mit Bewußtsein und Erfolg fern¬
hält. Auf solche Illusionen geht es auch
zurück, wenn das Ergebnis der außer¬
ordentlich verhängnisvollen Zusammen¬
kunft von Racconigi als nur „plato¬
nisch“ bezeichnet wird. Das Urteil über
die italienische Politik und ihre Ein¬
wirkung auf die Vorgeschichte des Krie¬
ges lautet hier und sonst viel zu gün¬
stig, obwohl der Verfasser zu den gu¬
ten deutschen Italienkennern zu rech¬
nen ist. Gewiß kam es im Tripolis¬
kriege zu Reibungen zwischen Italien
und den Westmächten. Aber die, auch
Sn einem der früheren in dieser Zeit¬
schrift erschienenen Beiträge des Re¬
ferenten 2 ) noch teilweise verkannte,
weltpolitische Hauptwirkung des Tri¬
poliskrieges liegt doch vielmehr darin,
daß Italien durch das Tripolisaben-
teuer in eine noch viel größere Abhän¬
gigkeit von den Westmächten geriet,
als vorher bestanden hatte. Auch die
friedliche Gesinnung Rußlands wird
S. 164 f. vom Autor überschätzt. In Per¬
sien war es weit mehr der schuldige
Teil, als er erkennen läßt.
Im übrigen hat jedoch der Verfas¬
ser auch für die russische Gefahr vol¬
les Verständnis. Das zeigt sich in sei¬
ner nüchternen Erörterung der deut¬
schen Ablehnung des „Bundes“ mit
England um die Jahrhundertwende
(S. 154 ff.). Heute ist es, wozu auch die
Veröffentlichungen von Hayashi, Ham-
mann und Eckardstein Anregung gege¬
ben haben, außerordentlich beliebt, über
das damalige Scheitern des deutsch-eng¬
lischen Ausgleichs zu klagen. Hiltebrandt
verweist demgegenüber sehr richtig
darauf, daß die Folge eines Ausgleichs
mit England für das Deutsche Reich
auch außerordentlich verhängnisvoll
hätte sein können, daß Deutschland
2) 9 (1915) S. 622 ff.
InternaUonale Monatsschrift
„künftighin neben dem französischen
Revanchekrieg den viel gefährlicheren
russischen zu fürchten hatte“ ...
Auch an andern Stellen tritt ein ge¬
sundes politisches Urteil zutage. So hat
Hiltebrandt zum ersten Male in helles
Licht gestellt, wie verhängnisvoll die
1911 unter englischem Druck erfolgte
Preisgabe der Algecirasakte durch
Deutschland gewirkt hat: „Man hoffte,
durch Beseitigung des marokkanischen
Konflikts den Weg zu einer Entspan¬
nung... freizumachen und den... Frie¬
den... zu sichern. In Wirklichkeit be¬
deutete die Beilegung der marokkani¬
schen Frage zugunsten Frankreichs die
Eröffnung der orientalischen Frage, die
das europäische Gleichgewicht aufs
schwerste erschüttern mußte. Ein Meer
von Wirren war die Folge" (S. 179 f).
Es verdient auch hier angemerkt zu
werden, daß sich dies Urteil von dem
Reventlows kaum noch unterscheidet.
Hiltebrandts Ansicht, daß die orienta¬
lische Frage nicht nur durch die Bos¬
nische Annexionskrise von 1908/09,
sondern auch durch die letzte und
schärfste Marokkokrise von 1911 in ver¬
hängnisvollem Umfange aufgerollt wor¬
den ist, erweist sich als durchaus be¬
gründet und fruchtbar. Man braucht
nur an den Zusammenhang zwischen
dieser Marokkokrise und dem Tripolis¬
kriege zu erinnern.
* * *
Graf Reventlow sagt im Vor¬
worte über die Anlage seines Buches,
er habe es für wichtig gehalten, „den
Zusammenhang zwischen Anlaß und
Ursache des Weltkrieges durch den In¬
halt und durch die Anordnung des
Textes sichtbar zu betonen. Das.. .
Bild vom Funken, der in das offene
Pulverfaß fällt, ist nicht zutreffend;
denn der Funke ist... ebenso zufällig
14
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419 J- Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 420
wie das Pulverfaß ... Die Ermordung
des Erzherzogs läßt sich mit diesem
Funken nicht vergleichen; denn die
Tat selbst erwuchs in jahrelanger Ent¬
wicklung aus der Lage und aus den
Verhältnissen, die zum Kriege geführt
haben“ ... Dem Verfasser ist sachlich
darin beizustimmen, daß das Attentat
von Sarajewo nicht als ein zufälliges
wie Zündstoff wirkendes Ereignis be¬
zeichnet werden kann. Es hängt viel¬
mehr als eine Art von Exponent
oder Symptom der großserbischen ge¬
gen den Bestand der Doppelmon¬
archie gerichteten Bewegung auch mit
den tieferen Ursachen des Krieges zu¬
sammen. Und es ist keineswegs über¬
flüssig, diesen allgemeinen Stand¬
punkt gegenüber mancher in Deutsch¬
land und besonders im Ausland be¬
liebten Verschleierung „sichtbar zu be¬
tonen“. Nur ist das auch ohne Änderung
der Zeitfolge möglich. Formal liegt kein
zwingender Grund dafür vor, die Zeiit-
folge zu verlassen und vom Attentate
aus den Weg nach rückwärts einzu¬
schlagen. Lästige Verweise und Wie¬
derholungen sind die Folge. Auch sonst
wird die Klarheit dadurch nicht geför¬
dert. Ebenso hätte sich „die britische
Hand“, die um so deutlicher sichtbar
werde, je weiter man sich vom Attentate
entferne, auch ohne die Umkehrung der
Zeitfolge aufzeigen lassen.
Es ist hier nicht der Ort, auf an¬
dere formale Mängel des Buches näher
einzugehen. Dem Grafen Reventlow,
der als schlagfertiger und schlagkräf¬
tiger Publizist bekannt ist, will es an¬
scheinend nicht gelingen, sich einen
eigenen historiographischen Stil zu
schaffen. Seine Stärke liegt im politi¬
schen Räsonnement, in der Erörterung
politischer Eventualitäten. Darüber
kommt die eigentliche Geschichtsdar¬
stellung zu kurz. Es werden zu wenig
Tatsachen geboten. Auch das Kompo¬
sitionstalent des Verfassers hat sich
nicht entwickelt. Bis auf die Formalien
des Stiles herunter ist Reventlows
neues, in der Form keineswegs ausge¬
reiftes Werk ein Rückschritt hinter sein
altes über Deutschlands auswärtige Po¬
litik. Daher ermüdet die Lektüre, und
der Leser hat oft den Eindruck, daß der
Verfasser es an der nötigen formalen
Sorgfalt hat fehlen lassen. In formaler
Beziehung bedürfte dies Werk einer
gründlichen Revision, und das beste
wäre vielleicht, es mit dem früheren
Hauptwerk, zu dem es eine Ergänzung
darstellt, zusammenzuarbeiten, eben¬
so wie mit dem noch nicht herausge¬
kommenen über die Kriegsverhandlun¬
gen. Dann würde auch die unhaltbare,
allem Sprachgebrauch widersprechende
Unterscheidung zwischen diplomati¬
scher und politischer Vorgeschichte
des Krieges entbehrlich.
Wenn sonst der Publizist zum Histo¬
riker wird, erwartet man von ihm eine
besonders temperamentvolle Leistung.
Manches Ereignis der älteren kleindeut¬
schen Geschichtschreibung bestätigt
diese Erwartung. Bei Reventlow aber,
obwohl er in erster Linie Publizist ist
und Historiker vielleicht nur im Neben¬
amte, macht man beinahe die gegen¬
teilige Erfahrung. Die Schreibart ist
durchweg ruhig, ja trocken. Sie hält
sich frei von dem Radikalismus des
Publizisten. Aber auch in sachlicher
Hinsicht vermeidet der Historiker über¬
triebene Zugeständnisse an den Publi¬
zisten. Reventlow verschmäht es, mit
Enthüllungen und Sensationen zu ar¬
beiten. Wer dergleichen bei ihm sucht,
wird enttäuscht. Wirklich Neues wird
man deshalb bei ihm vielleicht weni¬
ger finden als bei Hiltebrandt Eine
Ausnahme bilden nur etwa die inter¬
essanten Mitteilungen über seine Be-
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421 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen Ober d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 422
Ziehungen zum japanischen Botschaf¬
ter Sugimura in den Jahren 1913/14
(S. 290 f.). Wo sich der Verfasser vom
Boden der Tatsachen entfernt, sei es,
daß er seiner Vorliebe für breit ausge¬
sponnenes politisches Räsonnement
nachgibt, sei es, daß er pich in der
Erörterung von allerlei Eventualitäten
oder in sonstigen Vermutungen ergeht:
überall wird das klar zum Ausdruck
gebracht. An mehr als einer Stelle wird
•die Unsicherheit und Lückenhaftigkeit
unserer Kenntnis ausdrücklich betont.
Die beiden ersten Kapitel über das
Attentat von Sarajewo und über die
Balkanpolitik seit der Annexionskrise
tragen mehr einen skizzenhaften Cha¬
rakter. Schon hier wird jedoch das
Leitmotiv des Ganzen angeschlagen,
indem der aktive Anteil Englands an
der Erregung balkanischer Wirren und
an ihrer Auswertung gegen die Mittel¬
mächte zwingend nachgewiesen wird.
„Wenn über die Rolle Großbritanniens
im letzten Jahrzehnt vor dem Großen
Kriege nichts weiter bekannt wäre als
seine Balkan- und Orientpolitik, so
müßte es als Anstifter des Weltkrie¬
ges bezeichnet werden.“ 3 ) Auch die
Haltung der Westmächte zum Tripolis¬
krieg wird hier weit treffender gewür¬
digt als bei Hiltebrandt.
Reventlows Untersuchungen zur Vor¬
geschichte des Krieges sind manchen
andern besonders deshalb überlegen,
weil ihnen eine klare Einsicht in das
Wesen und die Tragweite, in die Ziele
und Mittel der englischen Auslands¬
politik zugrunde liegt. Daher ist sach¬
lich-politisch auch kein anderer so wie
Reventlow befähigt, „die europäische
Politik“ im letzten Jahrzehnte vor dem
Weltkrieg darzustellen. In der gegen
England gerichteten Grundanschauung
deckt sich dies neue Buch im wesent-
3) S. 67; vgl. S. 71 und 98 f.
liehen mit dem zuerst kurz vor dem
Kriege erschienenen Hauptwerke. Wer
sich mit ihm auseinandersetzen will,
muß sich mit dieser seiner Grundan¬
schauung auseinandersetzen.
Sie beeinflußt vor allem die Beur¬
teilung der Bülowschen Politik. Re¬
ventlow kritisiert Bülows Marokkopoli¬
tik und weist den Optimismus des Für¬
sten hinsichtlich des Mißerfolgs des
„luftigen Gebildes“ der Einkreisungs¬
politik zurück. Seines Erachtens „be¬
ruhte das Gelingen der Bülowschen Po¬
litik in der bosnischen Angelegenheit
nicht auf einer als überwältigend an¬
gesehenen Stärke Deutschlands an sich,
sondern auf der Unbereitschaft und Un¬
einigkeit der Koalition“ (S.205). Im wei¬
teren Verlaufe bemüht sich der Verfas¬
ser mit Erfolg um den Nachweis, daß
diese Unbereitschaft und diese Un¬
einigkeit in der bis zum Ausbruch des
Weltkrieges noch zur Verfügung
stehenden Zeitspanne auf seiten des
werdenden Vielverbandes immer mehr
beiseitigt worden sind. — Man wird also
nicht sagen können, daß Reventlow der
Politik Bülows kritiklos gegenübersteht.
Aber ihre Zurückhaltung gegenüber
England vermag er gerade vom Boden
seiner gegen England gerichteten
Grundanschauung aus am wenigsten
zu verurteilen. Was er zu ihrer Recht¬
fertigung anführt, verdient gerade heute
dieselbe Beachtung wie die ähnlichen
Anschauungen Hiltebrandts. Wenn die
Engländer Bülow für „falsch" erklär¬
ten, so bedeutet ein solches Zeugnis
aus Feindesmund für Rdventlow S.207
nur: „daß der deutsche Staatsmann sich
englischer Vormundschaft nicht rück¬
haltlos anvertraute, nicht für seine
Pflicht hielt, seine Karten aufzudecken,
sondern eine eigene unabhängige Po¬
litik zu treiben versuchte.“ Die Beweg¬
gründe, aus denen sich Reventlows Ver-
14*
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423 J. Hashagen, Neue Veröffentlichungen über d. Vorgeschichte d. Weltkrieges 424
teidigung dieser Seite der Biilowschen
Politik erklärt, liegen nicht neben der
Sache, sondern in Reventlows Grund¬
anschauung über England. Von der
inneren Politik ist in dem ganzen Buche
fast gar nicht die Rede.
Vom Boden seiner gegen England
gerichteten Grundanschauung aus muß
der Verfasser endlich die auswärtige
Politik Bethmann Hollwegs einer schar¬
fen Kritik unterziehen. Als die beiden
innerlich zusammenhängenden ver¬
hängnisvollen Merkmale des „letzten
Kurses“ erscheinen ihm die Illusionen
über England und die Gegnerschaft ge¬
gen die deutsche Flottenpolitik. Zu die¬
sen allgemeinen Grundfehlern kommen
aber noch eine Reihe kräftiger Irrtümer
im einzelnen. Im Gegensatz zu den
S. 238 ff. zum ersten Male genauer dar¬
gestellten aggressiven englischen Flot¬
tenbewegungen während der Agadir-
krise ist die deutsche Marokkopolitik
des Jahres 1911 ein weiterer Beweis für
die typische deutsche Versöhnungspo¬
litik. Aber sie ist völlig gescheitert.
Ähnlich wie Hiltebrandt bemerkt der
Verfasser dazu: „Die Größe des Mi߬
erfolges lag im Scheitern der Ver¬
wirklichung des politischen Leitgedan¬
kens: reinen Tisch zu machen, um
daran anschließend Verständigung mit
Frankreich und Großbritannien anzu¬
bahnen und dem labilen Gleichge¬
wichte des Weltfriedens Stabilität zu
geben... Tatsächlich wurde das Gegen¬
teil erreicht.“ Das ist in der Tat der
für das Urteil über die deutsche Aga-
dirpolitik entscheidende Gesichtspunkt;
„dabei kann man ganz von dem kon¬
kreten Ergebnisse des Marokkohandels
selbst absehen“. Ferner hat Reventlow
die Verhandlungen mit Haldane einer
eingehenden kritischen Betrachtung un¬
terworfen. Mit Recht verweist er auf
die Unzulänglichkeit des von der deut¬
schen Regierung darüber veröffentlich¬
ten (bisher nur durch Tirpitz ergänzten)
Aktenmaterials. Sodann macht er auf
die Verständnislosigkeit aufmerksam,
die von der Reichsregierung gegen¬
über dem in Berlin seit März 1913 be¬
kannten Grey-Cambonschen Briefwech¬
sel vom November 1912 bekundet
wurde. Die große Bedeutung des Zeit¬
punktes dieses wichtigen Kriegsschrit¬
tes wird treffend dargelegt. Ähnlich
werden die Limankrise von 1913/14 und
die deutsche Japan politik kritisiert.
Daß die deutsche Regierung und die
deutsche Diplomatie an dem Ausbruch
des Weltkrieges und besonders an der
ständigen Verschlechterung der inter¬
nationalen Lage zuungunsten Deutsch¬
lands nicht ohne Schuld sind, folgt
schon aus diesen leicht vermehrbaren
Mitteilungen. Auffallend ist nur, daß
auch Reventlow ebensowenig wie Hilte¬
brandt auf die schweren Bedenken, die
das Verhältnis zu Österreich-Ungarn
wachrufen müssen, genauer eingeht. Der
deutsche Grundfehler war hier, daß
man die Nibelungentreue versprach und
hielt, ohne sich den nötigen Einfluß auf
die Politik des Ballplatzes, ja ohne
sich auch nur den nötigen Einblick in
die Arbeit der Wiener Diplomatie zu
sichern. Schon jetzt läßt sich mit ziem¬
licher Bestimmtheit sagen, daß eine in¬
timere Arbeitsgemeinschaft zwischen
Ballplatz und Wilhelmstraße nie be¬
standen hat, von einer Gesinnungsge¬
meinschaft ganz zu schweigen. Sie
fehlte schon während der Annexions¬
krise und war auch während der At¬
tentatskrise nicht vorhanden. Man
schloß sich auf Gedeih und Verderb
zusammen und hegte doch gegenein¬
ander tiefes Mißtrauen. Der Verfasser
erklärt Deutschlands bosnische Politik
S.203 für eine „Lebensnotwendigkeit".
Aber er fährt dann seltsamerweise fort:
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425
Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
426
„Deshalb ist die Frage nur von man
möchte sagen diplomatisch-feuilletoni-
stischem (1) Interesse, ob und wie weit
und wann Bülow... von den An¬
nexionsabsichten Aehrenthals unterrich¬
tet worden ist.“
An andern Stellen beantwortet aber
auch Reventlow in genauer Übereinstim¬
mung mit den Ergebnissen der oben be¬
sprochenen Schriftsteller die Schuld¬
frage zugunsten Deutschlands. Immer
wieder ergibt sich trotz aller am Aus¬
wärtigen Amte geübten Kritik auch aus
dieser Darstellung einwandfrei, daß alle
Hauptziele der auswärtigen Politik des
Deutschen Reiches im Frieden erreicht
werden konnten, weil sie sich in der
Aufrechterhaltung des Statusquo er¬
schöpften, während die Feinde den
Weltkrieg entfesseln mußten, wenn sie
ihre imperialistischen Ideale verwirk¬
lichen wollten. Was der Verfasser S. 201
über die Offensive des Verbandes und
über die Defensive der Mittelmächte
sagt, gehört in denselben Zusammen¬
hang und sollte bei jeder gerechten Er¬
örterung der Schuldfrage gegenwärtig
bleiben. Nicht minder scharf hat man
dabei die vom Verfasser eindringlich
gezeichnete Größe des anglo-amerika-
nischen Kapitalismus ins Auge zu fas¬
sen, wenn man die ständig wachsende
Gefahr würdigen will, in der Deutsch¬
land schwebte. Als einer der Haupt¬
kriegsgründe ist dieser Kapitalismus al¬
ler Beachtung wert.
Von dem reichen Inhalte des vor¬
liegenden Werkes eine genauere Vor¬
stellung zu geben, ist aus Raumgrün¬
den hier leider unmöglich. Nur auf die
Analyse des Artikels 7 des belgischen
Neutralisierungsvertrages von 1839 sei
noch besonders hingewiesen.
Jean Paul im Lichte des Humors.
Von Alfred Biese.
In den mannigfachsten Schattierun¬
gen schillert die Persönlichkeit Jean
Pauls, und nicht minder bunt und
schwankend ist der Begriff des Humors.
Vielleicht aber bietet der eine Proteus
den besten Schlüssel zum Verständnis
des anderen. Doch mancher fragt wohl:
Was soll uns heute noch Jean Paul, die¬
ser verschwommene Idealist, ja Spiri¬
tualist, in einer Zeit, wo nur harte Not
und herbe, rauhe Wirklichkeit das Zep¬
ter führen? Und wohl mancher wendet
mit bitterem Lächeln ein: Der sonnige,
göttliche Humor mit der lachenden
Träne im Wappen ist längst in der
Welt vom Throne gestürzt und im Blute
von Millionen Menschen ertränkt wor¬
den, und seine Stelle hat mit grinsen¬
dem Lächeln der Tod eingenommen:
Mors imperatrix. Können wir es denn
noch verstehen, daß es eine Zeit gab in
deutschen Landen, wo man in Tränen
seligster Rührung zerschmolz über den
Schriften dieses wunderlichsten und
seltsamsten Dichters, den unser Vater¬
land hervorgebracht hat? Begreifen es
deutsche Frauen, die in seinen Werken
heute blättern, daß es nicht die schlech¬
testen unter ihnen einst waren, die zu
Jean Paul wie zu einem überirdischen
Wesen in Verzückung aufschauten, die
seinetwegen Gatten und Kinder verlie¬
ßen und nur in der Vereinigung mit
ihm ihre Seligkeit finden zu können
glaubten, die bei Jean Paul Wärme,
Liebe, Religion in weit höherem Grade
gewannen als bei Goethe und Schiller!
Denn freilich kein größerer Gegensatz
ist denkbar als zwischen Goethe und
Jean Paul. „Die plastische Sonne“, sagt
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427
Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
428
J. P., „leuchtet einförmig wie das Wa¬
chen, der romantische Mond schimmert
veränderlich wie das Träumen.“ Und
deshalb suchte er das magische Zwie¬
licht mit den verschwimmenden Um¬
rissen, das Ineinanderspielen aller For¬
men, die Vermischung des Verschieden¬
artigen, die Verwischung aller Grenz¬
linien, das Schimmernde, Schillernde,
Andeutende, in die Fernen Weisende.
„Goethe faßt alles bestimmt auf, bei
mir ist alles romantisch zerflossen“, be¬
kennt er selbst. Und Goethe schrieb, als
ihn J. P. in Weimar besucht hatte,
an Schiller: der sei ein so kompliziertes
und wunderliches Wesen, daß niemand
ihn recht anzufassen wisse, und da¬
her schwankt das Urteil zwischen Über¬
schätzung und Unterschätzung hin und
her, und er zweifelt, daß er sich ihnen
jemals nähern werde. Und J. P. er¬
schien Schiller, als er den „Hesperus“
gelesen, wie einer, der aus dem Mond
gefallen sei, voll guten Willens und
herzlich geneigt, die Dinge außer sich
zu sehen, nur nicht mit dem Organ,
womit man sieht. — Herder und Jean
Paul aber flogen einander bei der er¬
sten Begegnung im Hause der Titani-
den Charlotte v. Kalb an die Brust
und schluchzten vor Freude darüber,
daß sie beide, die in Phantasie und
Gefühl so viel Verwandtes und ein so
reges und tiefes Verständnis für ihr
Schaffen besaßen, sich endlich Auge
in Auge sahen. Es ist gewiß unrecht,
J. P. an einem Goethe zu messen, wie
etwa Dürer an Raffael, den gotischen
Dom an einem griechischen Tempel
usf. Wohl ist J. P. ein sonderbarer
Kauz, aber auch ein König zugleich
auf seinem Gebiet. Er ist ein Bahn¬
brecher und Meister in seiner Art.
Wie eine überquellende Phantasie sich
der Welt zu bemeistern sucht, wie ein
sentimentales Gemüt immer wieder
durch die rauhe Wirklichkeit in sich
selbst zurückgewiesen wird, wie an den
inneren Zweifeln über Gott und Un¬
sterblichkeit, über Frauen- und Freun¬
desliebe edle Gemüter innerlich verblu¬
ten, wie ein überschwengliches Herz
kein Genüge finden kann, weder im
Weltleben noch in der Häuslichkeit und
in der Ehe, wie das Vollkommene nur
Traum und Schaum für den Staubge¬
borenen bleibt: das schimmert und
schillert in tausend Farbenbrechungen
durch die Jean Paulsche Dichtung hin¬
durch. Die Phantasie, dieser frere ter-
rible, wie er sie nennt, das gefühlsse¬
lige Ich bleibt seine Schwäche, aber es
ist auch sein Reichtum und seine Stärke.
Wie oft ist es uns in seinen Werken,
als ob wir vor lauter Gestrüpp keinen
Schritt tun könnten, und dann wieder
grüßen uns inmitten von Wüsten lieb¬
liche Oasen, wo Palmenwipfel sich wie¬
gen und Quellen rauschen.
Jean Paul ist einer der wurzelechte¬
sten Deutschen, die unsere Erde gebo¬
ren, er ist einer der selbstherrlichsten
Sprachschöpfer und Wortbildner von
wahrhaft mächtiger Eigenart, ein Klas¬
siker der Seele und ein Klassiker der
bildlichen Rede, die jeden Kobold¬
sprung des Witzes begleitet; er über¬
schüttet uns mit Metapherngold und
entzündet unablässig ein Sprühfeuer
geistreichster Gedankenblitze und ver¬
wegenster Ideenverbindungen. Er ist
aber auch von einer Verschwommen¬
heit in der Linienführung der Hand¬
lung und von einer Unklarheit im ein¬
zelnen, die uns immer wieder von Be¬
wunderung in Verzweiflung, von
Freude in Ärger und Verdruß herab¬
stürzt. Wie senkt sich nun wohl das
Lot eines gerechten Abwägens und
eines wirklichen Verstehens in die Tie¬
fen dieser chamäleonhaften Seele hin¬
ab? Was gibt des Rätsels Lösung, was
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PRINCETON UNIVERSITY - *^- 1
429
430
Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
eine Einheit in all dem Verwirrenden
und Verworrenen? Der Humor! —
* *
*
In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als
die Hegelsche Philosophie herrschte,
war das Zauberwort, das alles Ge¬
schehen regelte, „Entwicklung“, nach
jenem Dreitakt von Thesisi, Antithesis
und Synthesis«. Zwei Gegensätze sto¬
ßen einander ab und versöhnen sich in
einer höheren Einheit. So glaubte man,
auf den Gipfeln der großen Epoche un¬
serer vaterländischen Literatur, bei
Goethe und Schiller, angelangt und den
Gang der ganzen bis dahin fortgeführ¬
ten Entwicklung überschauend, immer
noch eine höhere Vermittlung der bei¬
den Seiten des Schönen, des Idealen
und des Realen, auf historischem Bo¬
den aufsuchen zu müssen. 1 ) Man fand
in der Entwicklungsreihe von Gott¬
sched, Hagedorn, Wieland, Goethe das
Realprinzip, in Bodmer, Haller, Klop-
stock, Schiller das Idealprinzip in im¬
mer höherer Potenz, und man fragte
sich: worin kann der Fortschritt über
Goethe und Schiller hinaus liegen? Unid
man antwortete: in der Synthese des
Realismus und des Idealismus 1 , in der
Vermittlung des Endlichen und des Un¬
endlichen, und dies vermittelnde Prin¬
zip beider Weltanschauungen ist der
Humor Jean Pauls. Freilich war
man auch damals schon sich bewußt,
daß ein Vollendetes durch die Tat Jean
Pauls noch nicht erreicht, daß mit ihm
erst die Morgenröte einer neuen höhe¬
ren Kunstform angebrochen sei, jedoch
habe der Genius der deutschen Litera¬
tur in ihm den Durchgangspunkt zum
humoristischen Ideal gewonnen, und
der Humor sei als Träger und Ver¬
mittler und Versöhner des Unausge-
1) Vgl. Walter Robert Griepenkerl, Der
Kunstgenius der deutschen Literatur des
letzten Jahrhunderts. Leipzig 1846.
glichenen und des Widerstrebenden
der entsprechende Kunstausdruck für
eine in mächtigen Gegensätzen wo¬
gende Zeit.
Die Wurzeln des Humors liegen im
Komischen und im Tragischen.
Den einen wie den anderen Begriff auf
eine kurze und doch alles umfassende
Formel zu bringen, hat vom Altertum
bis zur Gegenwart, von Aristoteles bis
zu Lipps und Volkelt nicht recht glük-
ken wollen. Indessen man erkannte von
Aristoteles ab den Kontrast, das Uner¬
wartete, Widrige, das zugleich un¬
schädlich sei, als den Kern des Komi¬
schen. Kant sprach von der Auflösung
der Erwartung in Nichts, Jean Paul und
Vischer von der Verkoppelung des He¬
terogenen, der unendlichen Ungereimt¬
heit, Lipps von dem Zergehen eines
irgendwie Bedeutsamen und Erhabe¬
nen usf. Jean Paul fand das Lächer¬
liche in der Unterschiebung einer bes¬
seren Einsicht, wodurch die unbewußte
Torheit sich in eine bewußte ver¬
wandele. Wenn z. B. Sancho Pansa sich
eine Nacht hindurch über einem seich¬
ten Graben in der -Schwebe hält, in
dem Wahn, es klaffe ein ungeheurer
Abgrund unter ihm, so erscheint, diese
unbewußte Zweckverkehrung als be¬
wußte Zwecksetzung, und das Gefühl
für die unendlich irrationale Entfer¬
nung vom Zwecke ist der eigentliche
Kern des Komischen (vgl. Joh. Ziegler,
„Das Komische“). In allen Formen und
Farben und Lichtern solcher Komik fun¬
kelt und blitzt die Dichtung Jean Pauls.
Auch das Tragische beruht auf dem
Irrationalen des Lebens 2 ), auf dem un¬
auflöslichen Dualismus, der die Welt
spaltet, denken wir nun an Idee und
Erscheinung, Mensch und Welt,
Menschheit und Einzelmensdh, Tod und
2) Vgl. Joh. Volkelt, Ästhetik des Tragi¬
schen. 3. Aufl. München 1917, Bede.
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431
Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
432
Leben, Pflicht und Neigung, Sinnen¬
glück und Seelenfrieden und so ins Un¬
endliche fort. Es war wiederum die
Hegelsche Philosophie, die durch ihren
Trilogismus Klarheit in den Begriff des
Tragischen brachte. Es bedeutet das Er¬
liegen menschlicher Willenskraft im
Widerstreit mit dem Walten uner¬
bittlicher Schicksalsmachte; das indi¬
viduelle Sein sinkt auf der Spitze einer
universellen Tatäußerung vor der Macht
des Unendlichen in den Staub. Hebbel
nennt wie Hegel jede Regung des ein¬
zelnen im Kampfe mit Hemmnissen
und Widerständen der Allgemeinheit
eine Verletzung der Einheit, einen Ab¬
fall von der Idee. Er spricht von dem
Pantragismus der Welt: es ist Bedin¬
gung des Lebens, daß der Mensch seine
Kräfte gebraucht, Kraft gegen Kraft
setzt, aber das bedingt Überschreitung
der Schranke des Entfliehen. „Das
Drama“ — sagt er in einem schönen
Bilde — „stellt die beiden Kreise auf
dem Wasser dar, die sich eben dadurch,
daß sie einander entgegenschnellen,
zerstören und in einem einzigen gro¬
ßen Kreis, der den zerrissenen Spiegel
für das Sonnenbild wieder glättet, zer¬
gehen.“
Wie nun Komisches und Tragisches
in der Totalität des Humors sich ver¬
schmelzen, das hat uns niemand gro߬
artiger vorgeführt als Jean Paul, sei es
theoretisch in seiner genialen „Vor¬
schule der Ästhetik“, sei es in seinen
Werken praktisch. Er fragt sich, wie
das Komische (das unendlich Kleine)
romantisch werden könne, da es doch
bloß im Kontrastieren des Endlichen
mit dem Endlichen bestehe und keine
Unendlichkeit zulasse, denn der Ver¬
stand und die Objektenwelt kennen
nur Endlichkeit, im Romantischen (Tra¬
gischen) aber haben wir den unend¬
lichen Kontrast zwischen den Ideen (der
Vernunft) und der ganzen Endlichkeit
selber: „wie aber, wenn man ebendiese
Endlichkeit als subjektiven (d. h. durch
unsere Einsicht geliehenen) Kontrast
jetzo der Idee (Unendlichkeit) als ob¬
jektivem unterschöbe und liehe und
statt des Erhabenen als eines ange¬
wandten Unendlichen jetzo ein auf das
Unendliche angewandtes Endliche, also
bloß Unendlichkeit des Kontrastes ge¬
bäre, d. h. eine negative? Dann hätten
wir den humour oder das roman¬
tische Komische.“ —
* * *
Wenn wir den Begriff „Humor“ ent¬
wickeln wollen, werden wir zu den
Alten zurückgeführt. Hippokrates, der
große griechische Arzt und Philosoph,
machte das Wohlbefinden des Körpers
von einer harmonischen Verbindung
von vier Säften abhängig: dem Schleim
(Phlegma), dem Blut und der gewöhn¬
lichen (grünen) und der schwarzen
Galle. Diese physische Scheidung wurde
dann auf das Psychische übertragen
und zur Grundlage der vier Tempera¬
mente gemacht, und unter Vertau¬
schung von Ursache und Wirkung
wurde humor (die Flüssigkeit) zur Ge¬
mütsstimmung in ihrem — fließenden
— Wechsel, zur Laune. Ben Johnson,
der Zeitgenosse Shakespeares, schrieb
zwei Lustspiele: Every man in his hu¬
mour und Every man out of his hu¬
mour und sagt zur Erläuterung des
Wortes humour: „In einem jeglichen
menschlichen Körper sind das chole¬
rische, phlegmatische, melancholische
und sanguinische Temperament hu-
mours, weil sie beständig in irgend¬
einem Teile im Flusse sind, und so
kann man die Metapher auch auf die
allgemeinere Gemütsverfassung eines
Menschen anwenden.“ So entstand der
literarhistorische Begriff der Humori¬
sten gemäß der Darstellungsweise eines
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433
Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
434
Swift, Sterne, Goldsmith u. a. und der
ästhetische Begriff des Humors als ein
smiling in grief, tristesse dans la gait6,
als der Kuß, den Freude und Schmerz
sich geben, als der Doppelkopf mit dem
weinenden Heraklit und dem lachenden
Demokrit. Es ist nicht rosenroter Opti¬
mismus, nicht galliger Pessimismus,
sondern die höhere Versöhnung beider.
Wohl ist er die Blüte; ja die reife
Frucht des Komischen, aber er hat mit
dem Tragischen gemeinsam, daß auch
er, in tiefen Ernst gesenkt, die Zusam¬
menhänge und innersten Gründe des
Menschendaseins zu erfassen strebt.
Wie das Tragische eine doppelte Wir¬
kung, die des Niederdrückenden und
zugleich die des Erhebenden, erzeugt,
so ist er der Sieg eines starken
Herzens und eines starken Gei¬
stes über die Wirrsale der Welt
und über die Doppelseitigkeit
des Lebens; Seine Hauptquellader ist
die Liebe eines unergründlich tiefen Ge¬
müts voll Glauben und Vertrauen.
Längst hat man — von Hegel und
Vischer bis auf Lipps und Volkelt 3 )
— in den mannigfachsten Abstufungen
erkannt, daß „Humor“ erst einen Sinn
gewinnt, wenn man den Begriff nicht
bloß ästhetisch faßt, sondern als ver¬
mischt mit Weltanschauung oder bes¬
ser als Weltgefühl, denn der Humor
denkt nicht mit dem Verstände, son¬
dern mit dem Herzen. Jean Paul de¬
finiert ihn also: „Er ist die Parodie des
Großen durch das Kleine, der komische
Weltgeist. Er verknüpft und mißt mit
der kleinen Welt die unendliche, er
adelt die Narrheit zur Weisheit. Er
vernichtet das Endliche durch den
Kontrast mit der Idee; er erniedrigt das
Große, um ihm das Kleine, und erhöht
das Kleine, um ihm das Große an die
3) Vgl. Joh. Volkelt, System der Ästhetik.
II 529 f. München 1910, Beck.
Seite zu setzen und so beide zu vernich¬
ten. Seine Höllenfahrt bahnt ihm die
Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel
Merops, der zwar dem Himmel den
Schwanz zukehrt, aber doch in dieser
Richtung in den Himmel auffliegt.“
Jean Paul wird nicht müde, Satire und
Ironie und Humor oder satirischen und
versöhnten Humor (in Swift und Sterne
z. B.) zu unterscheiden, doch so wenig
klar er theoretisch beide auseinanderzu¬
halten vermocht hat, so wenig vermag
er es auch in der Dichtung, weil in ihm
selbst, dem „fleischgewordenen Wider¬
spruch“, beide Weltstimmungen mitein¬
ander im Kampfe lagen. Wohl möchte
er alles sub specie aeternitatis betrach¬
ten, erhaben über das Leben, so daß
ihm ein unaufhörliches Lustspiel be¬
reitet sei, in dem er den irdischen Mo¬
tiven der Menge seine höheren unter¬
legt und dadurch jene zu Ungereimt¬
heiten macht. Dann durchzuckt ihn
wohl „die Überzeugung von der gan¬
zen irdischen Bettelei“, von dem rela¬
tiven Gleichwert und dem absoluten
Unwert aller endlichen Bestrebungen.
Doch er sinkt immer wieder entweder
in die satirische oder in die sentimen-
talische, die elegisch-romantische Seite
des Humors zurück. Der Humor durch¬
kreist bei Jean Paul die Welt in ewig
wechselndem Fluge, bald dem tief
Ernsten und Rührenden und Patheti¬
schen, bald dem barock Komischen und
niedrig Burlesken hingegeben. 4 ) Von
der rein satirischen, herb realistischen
Periode mit den „Grönland. Prozessen“
und der „Auswahl aus des Teufels Pa¬
pieren“ gelangte er zu der humori-
stisch-sentimentalischen, d. h. dem Über¬
gewicht des schmerzlichen Kontrastes
von Idee und Wirklichkeit. Im „Schul-
4) Vgl. K. Ch. Planck, Jean Pauls Dich¬
tung im Lichte unserer nationalen Entwick¬
lung. Berlin 1867, Reimer.
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435
Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
meisterlein Wuz“ liegt noch der Hu¬
mor in der idyllischen Mischung des
menschlich Rührenden mit dem Komi¬
schen, ,ohne herben Riß; aber die „Un¬
sichtbare Loge" und der „Siebenkäs"
und gar der „Hesperus“ zeigen schon
die sentimentale, schmerzliche Seite des
Humors. Das idealistische Pathos er¬
reicht im „Titan" seinen Höhepunkt,
indem der phantasie- und gefühls¬
schwelgerische Albano sein Gegenbild
in dem realistisch-satirischen Schoppe
findet, der freilich ein Herz voll Liebe
zugleich besitzt. In den „Flegeljahren"
bricht der komische Realismus hindurch.
Dies — auch heute noch am meisten ge¬
nießbare — Werk stellt den Gegen¬
satz idealer Begeisterung und nüchter¬
ner Weltgewandtheit dar, freilich fehlt
auch hier die wirkliche Lösung des
Kontrastes. Zum derb-komischen Rea¬
lismus, zur satirisch-zynischen Erhe¬
bung über alle schmerzliche Entzwei¬
ung und Sentimentalität gelangt der
Humor im „Katzenberger" und in „Fi¬
bel".
Damit ist der Kreislauf dieses ebenso
wunderlichen wie tiefblickenden und
hochfliegenden Genius in aller Kürze
umschrieben.
* * *
Der Jean Paulsche Humor ist eine
Blüte grüblerischen Weltgefühlsi, das
mit den Rätseln und Widersprüchen
des Daseins bald in heiterer, närrischer,
bald in tiefernster Weise spielt. Denn
ein Phantasiespiel, geboren aus einem
abgründigen Herzen; das ist der Hu¬
mor in der Dichtung. Und bei J. P.
vermischt er sich mit dem feinsten
Spürsinn, der in die geheimsten Fal¬
ten der Menschenbrust dringt; und in
ihm liegt eigentlich die Größe Jean
Pauls, deren Erkenntnis sich nur liebe¬
voller, geduldiger Vertiefung erschließt.
Die Jugend J. P.s stand unter dem
Zeichen des herbsten Kontrastes zwi¬
schen der äußeren Lage voll Elend
und Armut und dem inneren Reichtum
voll ungemessenen Strebens und Selbst¬
bewußtseins. Es war kein Wunder, daß
ein grimmiger Humor ihm zuerst die
Feder führte. Er ist Realist in der ge¬
nauen Zeichnung kleinbürgerlicher Zu¬
stände und Idealist in dem Aufbau
einer reinen Phantasiewelt. In beidem
urdeutsch. Wie anheimelnd ist das
idyllische Stilleben der Schulmeister¬
lein, und wie hoch fliegen die Weltge¬
fühle im Titan, im Hesperus usw.l Es
ist ein so bezeichnender Kreislauf, der
sich in der Entwicklung unseres gan¬
zen deutschen Lebens widerspiegelt:
die Enge der Umstände fördert die
Weite der Ideen, und die Weite der
Ideen ist wieder schuld an der äußeren
Enge. Der verstiegene Idealismus wird
durch die Unbefriedigtheit, durch Weh¬
mut und Sehnsucht noch verschärft,
und die Abkehr von der nüchternen,
aber notwendigen Erwerbstätigkeit stei¬
gert die Zersplitterung, die Unfreiheit
und Kläglichkeit der Zustände. Zu einem
positiven, im Diesseits zu verwirk¬
lichenden Ideal eines reinen Menschen¬
tums gelangt J. P. auch in seinen blei¬
bendsten Werken, wie „Siebenkäs“, „Ti¬
tan“ und den „Flegeljahren“, nicht,
sondern er beharrt in der Verneinung
der Wirklichkeit und in der Flucht in
ein verschwimmendes, form- und farb¬
loses Jenseits. Mit dem Philisterhaften
kontrastiert der Universalismus einer
Gelehrsamkeit, die in wüster Bilderhatz
alle Gebiete des menschlichen Wissens
in wirrer Unordnung umfaßt. Der über¬
schwengliche, blumenhafte Stil mit all
seiner Vertracktheit und Verrücktheit
ist ein Abbild der zwischen Extremen
hin und her pendelnden Seele. Aber
wer nicht bloß die Idyllen J. P.s, son¬
dern die erschütternde Tragikomik
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Alfred Biese, Jean Paul im Lichte des Humors
438
r
j
437
eines „Siebenkäs“, die Reden eines Vik-
! tor, Ottomar, Leibgeber und eines
Schoppe auf sich wirken läßt, der er¬
kennt, daß der humoristische Philosoph
über alle Stufen optimistischen und
pessimistischen Weltgefühls sich auf
und ab zu schwingen weiß, in bunter
Mischung von Emst und Scherz, von
Weltschmerz und Weltfreude. „Man
tadelt“, sagt er selbst, „den Humoristen,
daß er den Leser ins Dampfbad der
Rührung führt und ihn sogleich wieder
ins Kühlbad der frostigen Satire hin¬
austreibt. Es muß aber — entgegnet er
—, da das Leben an einem Fuße einen
Kothurn und am andern einen Soccus
trägt, uns lieb sein, daß eine Lebensbe¬
schreibung auch in einem Atem lacht
und weint.“ Die Charaktere seiner Ro¬
mane sind Bruchstücke eines uner¬
schöpflich reichen Innenlebens, Strah¬
lenbrechungen eines* der seltsamsten
Ichs, die je unter dieser Sonne gewan¬
delt sind, selbst eine Sonne in ihrem
Herzen tragend. Und diese Sonne ist
der Humor. Verkörpert uns Hoppe-
dizel in der „Unsichtbaren Loge“ den
Humor als Laune, Scherz und Gefallen
an Schnurren, so Ottomar den gebro¬
chenen, melancholisch-tragischen: alles
ist eitel, alles ungestillte Sehnsucht;
in den Viktor des Hesperus hat J. P.
drei Seelen hineingeheimnist: eine hu¬
moristische, eine empfindsame und
eine philosophische. Zerrissene Höhen¬
naturen 5 ) sind vor allem Leibgeber und
Schoppe, aber auch Siebenkäs, von dem
krausen Kleinkram des Alltagslebens
umsponnen, ist mit seinem zerquälten,
feinnervigen Herzen ein Spielball bald
des bohrenden Mißmutes* bald wieder
weihevollster Gefühle; seine Todes¬
komödie ist die Blüte eines gespen-
~ ~
5) Joh. Volkelt, Zwischen Dichtung und
Philosophie V. „Jean Pauls hohe Menschen“.
S. 106 ff. München 1908, Bede.
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stiseh-grotesken Humors. In Schoppe
leben Faust und Manfred zugleich, und
die Begriffsgespenster Fichtes geben
sich ein Stelldichein in seinem armen
Hirn, das dem Wahnsinn verfallen ist.
Nicht minder genial ist im „Titan“
Roquairol, dessen Humor satanisch ist,
gemischt aus Himmelsäther und
Schlamm. J. P. sagt von ihm, er habe
hebende Flügel und kriechende Schlan¬
genfüße; er hat sich in Gift betrun¬
ken, und alle herrlichen Leidenschaf¬
ten erscheinen ihm wie Eingeweide¬
würmer des Ichs; bis zum Selbstmord
spielt er Theater in grausig mephi¬
stophelischem Humor. Eine gewaltige
dichterische Schöpfung ist der „Titan“
unzweifelhaft, aber wie ihm fehlt auch
den „Flegeljahren“ die eine Einheit im
Dualismus gebende Vollendung. Es ist
ein köstlicher, echt humoristischer Ge¬
danke, daß der arme treffliche Gottwalt
zum Erben des großen van der Kabel¬
seilen Vermögens gemacht und zugleich
dazu bestimmt wird, erst bei den bösen
sieben Enterbten in die ernste Schule des
Lebens genommen zu werden; die sol¬
len ihn schütteln, vexieren und schika¬
nieren. Wer nun aber wähnt, endlich
werde bei J. P. einmal nicht nur ein
Ziel gesetzt, sondern auch in stufen¬
weiser Entwicklung erreicht, der irrt
sich. Sehr bald verliert sich die Dar¬
stellung wieder ins Idyllisch-Humori¬
stische und Lyrische. Walt besitzt die
Fähigkeit eines reinen goldigen Her¬
zens, aus allem — und sei es das
Ärmste und Kleinste — unendlichen
Reichtum an Seligkeitsgefühlen zu
schöpfen; er ist ein zartes Gemüt, das
spießbürgerlich eng, unbeholfen und
ungewandt ist, aber auch allem Un¬
lauteren und Niederträchtigen ver¬
ständnislos und daher machtlos gegen¬
übersteht. Er ist der deutsche Michel,
wie er leibt und lebt und leider Gottes
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439
Ernst Goldbeck, Paul Stäckel zum Gedächtnis
440
in der Politik auch heute noch nicht
ausgestorben ist. Anderen Kalibers ist
Vult: von ätzender, satirischer Art ist
sein Humor; wie er den wackeren Walt
von seiner täppischen Art zu kurieren
sucht, das ist gar prächtig, denn er hat
unter harter Kruste ein feuriges Herz;
doch wie er sieht, daß der weltblöde
Träumer nicht zu ändern ist und doch
die auch von ihm selbst geliebte Wina
errungen hat, da reißt er sich von allem 1
los und geht ins Weite.
Wer die Schranke J. P.scher Dichtung
und die Schwäche seiner Gestalten
würdigt, der wird auch immer wieder
auf das Grundübel des deutschen Cha¬
rakters hingeführt, das zugleich mit der
Grundstärke aufs engste verwoben ist.
Es ist die weltfremde, tatenscheue In¬
nerlichkeit, die alles andere — Men¬
schen und Dinge — nur nach sich
selbst beurteilt, überall den eigenen gu¬
ten Willen, das eigene Wahrheits- und
Anständigkeitsgefühl auch bei den an¬
deren voraussetzt und daher bei den
Zusammenstößen mit einer ganz anders
gearteten Welt von einer Enttäuschung
und Niederlage in die andere geschleu¬
dert wird. Wir sind ein politisch jun¬
ges, ja in J. P.scher Art noch jüngling¬
haft unreifes Volk, unüberwindlich mit
den Waffen und doch immer wieder
zurückgeworfen und gedemütigt durch
Ränke einer in allen, auch den verwerf¬
lichsten Mitteln ergrauten Staatskunst
die fern von jeder schwächlichen Sen¬
timentalität, nüchtern, hart, brutal die
Dinge erfaßt und danach die Menschen
und Völker behandelt. Dem Walt stellt
J. P. einen Vult gegenüber. Sollte es
nicht eine Synthese beider im Leben
geben können? Bietet nicht Goethes
Herzog Alphons eine Vereinigung der
Tasso- und Antonio-Natur? J. P.wollte
eine solche Gestalt nicht gelingen.
Paul Stäckel zum Gedächtnis.
Von Ernst
Am 12. Dezember 1919 starb nach
schwerem Leiden der Geheimrat und
Professor der Mathematik an der Uni¬
versität Heidelberg Dr. phil. Paul
Stäckel in seinem 58. Lebensjahre. Er
mußte, wie so viele seiner Schicksals¬
genossen, zumal in unsrer Zeit, die Fe¬
der aus der Hand legen, ehe er gesagt
hatte, was er zu sagen hatte, denn viel¬
leicht aus seinen tiefsten Arbeiten hat
ihn der Tod herausgerissen. Eine in¬
operable Geschwulst im Gehirn hat dem
Leben dieses gesunden, unerhört ar¬
beitsfreudigen Mannes ein Ziel gesetzt.
Wir versuchen das Bild seiner kräfti¬
gen und reinen Persönlichkeit festzu¬
halten und finden so einigen, aber un¬
zureichenden Trost für ein dunkel wal¬
tendes Schicksal.
Goldbeck.
Stäckel wurde am 20. August 1862
in Berlin als Sohn eines Direktors einer
höheren Mädchenschule geboren. Das
pädagogische Interesse, das ihn zeit¬
lebens neben seiner rein wissenschaft¬
lichen Hauptarbeit begleitete, war also
erblich. Seine Schulbildung erhielt er
auf dem altehrwürdigen Joachimsthal-
schen Gymnasium von Michaelis 1871
bis Michaelis 1880. Er studierte in Ber¬
lin bis zum Oktober 1884 während der
Blütezeit der Mathematik an dieser Uni¬
versität. Seine Lehrer waren dort Kum¬
mer, Kronecker, Borchardt, Weierstraß.,
Seine Doktorprüfung bestand er am
12. August 1885 vor Weierstraß,
Kronecker, Helmholtz und Dilthey.
Glänzendere Sterne konnten ihm nicht
in sein Leben hineinleuchten. Bis Früb-
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PRINCETON UNIVERSi;
jahr 1890 blieb er Hilfslehrer am Kgl.
Wilhelms-Gymnasium in Berlin, um
dann die akademische Laufbahn einzu¬
schlagen. Anfänglich am Physikalischen
Institut in Berlin tätig, habilitierte er
sich in Halle im März 1891. Im Herbst
1895 wurde er als Extraordinarius nach
Königsberg berufen, 1897 nach Kiel, wo
er 1899 Ordinarius wurde. Das Jahr
1905 bezeichnet wieder einen Wende¬
punkt in seinem Leben, da er als Pro¬
fessor an die Technische Hochschule
in Hannover überging. 1908 folgte er
einem Ruf an die Technische Hoch¬
schule in Karlsruhe. 1913 kehrte er
wieder zur Universität zurück nach
Heidelberg. An äußeren Ehren hat es
ihm nicht gefehlt. Eine ganze Reihe
von gelehrten Gesellschaften des In-
und Auslandes ernannten ihn zu ihrem
Mitglied. Der Heidelberger Akademie
gehörte er seit 1911 an.
Stäckels zahlreiche wissenschaftliche
Arbeiten handelten vornehmlich von
Flächentheorie, Mechanik, Funktionen-
und Zahlentheorie. Es ist das Schicksal
des Mathematikers, daß die weiten
Kreise der Höchstgebildeten das Urteil
über den Wert seiner Leistungen von
den Fachgenossen auf Treu und Glau¬
ben hinnehmen müssen. Es gibt keinen
Königsweg in die Geometrie. Erst recht
aber führt den Ungeübten kein Auf¬
stieg zu jenen Gipfeln empor, die der
Mathematiker erklimmt. Was er dort
oben erschaut, enthüllt sich nur weni¬
gen. Anderen bleibt es so unbekannt
wie dem Tauben die Welt der Töne.
Es erübrigt sich von jener Idealwelt
zu sprechen, die sich geheimnisvoll und
doch in höchster Klarheit leuchtend den
Blicken des forschenden Mathematikers
auftut. Stäckel aber war für den Zau¬
ber seiner Wissenschaft in seltenem
Maße zugänglich. Es sind wohl die
höchsten Augenblicke in seinem Le¬
ben gewesen, wenn er eine neue Wahr¬
heit ergriffen hatte. Redete er von die¬
sen Dingen, so ging ein Glanz beson¬
derer Art von ihm aus. Mit einem ihm
eigenen schwer beschreiblichen Ent¬
zücken sprach er von der Eleganz ge¬
wisser Methoden und Resultate. Sonst
kein Phantasiemensch, konnte man be¬
obachten, wie sein Geist in kühnem
Fluge höher zu steigen liebte in die
noch unerforschten Fernen, aber sein
lauterer Wahrheits- und Wirklichkeits¬
sinn gestattete ihm nie die Veröffent¬
lichung rasch hingeworfener, unzuläng-
lidi geformter Ideen. Er blickte in ver¬
trauter Unterhaltung und im Selbst¬
gespräch gern ins Weite. Der Öffent¬
lichkeit übergab er nur das zur absolu¬
ten Reinheit durchgebildete Kunstwerk.
Ihn interessierte sogar im Gegensatz
zu so manchem anderen schaffenden
Mathematiker die Psychologie der Pro¬
duktion. Er hat da viel gewußt, ohne
sich im Zusammenhang darüber zu äu¬
ßern. Sein ungeheurer Überblick über
die mathematische Arbeit der Vergan¬
genheit und Gegenwart schenkte ihm
eine Fülle von Einblicken, die er ver¬
mutlich niemals niedergeschrieben hat.
Über die Seltsamkeiten so mancher
Forscher, über die Genesis der Erfin¬
dung, über das Wesen der mathema¬
tischen Intuition, besonders bei Gauß,
über die Grenzen des mathematischen
Verstehens, über die Rätsel seines ge¬
legentlich sprunghaften Einsetzens,
über die Psychopathie in mathemati¬
scher Richtung veranlagter Personen
hatte er zahllose Erfahrungen zu ver-
(zeichnen. Es ist zu fürchten, daß die¬
ses ganze Material verloren ist.
Im Zusammenhang mit solchen
psychologischen Neigungen stand sein
Bestreben, den Ursprüngen von mathe¬
matischen Ideen nachzuforschen, um
entweder ihre Kontinuität aufzudecken
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443
Ernst Goldbeck, Paul Stäckel zum Gedächtnis
444
oder ihre Diskontinuität in einem genia¬
len Kopf wenigstens festzustellen.
Stäckel hat umfassende mathematisch¬
historische Studien getrieben. Beson¬
ders die Geschichte der nichteuklidi¬
schen Geometrie hat ihn zu zahlreichen
Untersuchungen veranlaßt. Mit er¬
staunlicher Vollständigkeit sind die
Vorläufer von Gauß und der beiden
Bolyai von ihm aufgedeckt und die
Arbeiten der eigentlichen Schöpfer der
nichteuklidäschen Geometrie selbst er¬
gründet worden. Ein zweites Stoffge¬
biet gab ihm die Geschichte der Mathe¬
matik im 18. Jahrhundert ab. Für Euler
und besonders die Grundlegung der
großen Gesamtausgabe seiner Werke
hat er eine gewaltige Kleinarbeit ge¬
leistet. Seine Überblicke über die Lite¬
ratur großer Gebiete, besonders der
höheren Mechanik, sind Arbeiten von
selten erreichter Genauigkeit und Voll¬
ständigkeit. In frühere Perioden begab
er sich nicht gern zurück. Es mag sein,
daß ihn der philosophische Einschlag 1 ,
der alsdann häufig anzutreffen ist, un¬
sicher machte. Es ist eigenartig zu
sehen, daß eine Wissenschaft wie die
Mathematik, die seit Platos Zeiten so
nah an Philosophie heranführt wie
keine andere, dennoch gerade von
schaffenden Mathematikern nicht sel¬
ten mit einer gewissen Vorsicht ge¬
mieden wird. Auch Stäckel hielt sich
bei aller Hochachtung vor wissen¬
schaftlichem philosophischen Denken
doch von ihm zurück. Als er einmal
einen Schritt vom Wege in dieser Rich¬
tung gemacht hatte und ihm eine prin¬
zipielle Unklarheit in seinen Darlegun¬
gen nachgewiesen worden war, ver¬
zichtete er ein für allemal auf wei¬
tere Versuche.
War er so des höchsten Ideenfluges
auf mathematischem Gebiet fähig und
liebte er die reine Mathematik bis in
ihre weltfernsten Spekulationen hinein,
so kannte er doch auch und fürchtete
alle Ausschreitungen, die als mathe¬
matische Scholastik bezeichnet werden.
Hierin mag es begründet liegen, daß
er immer wieder zur angewandten
Mathematik zurückkehrte und seinen
Lebensweg sogar durch sein Interesse
für technische Mathematik bestimmen
ließ. Er bedurfte der Berührung mit
der Erde, um der Gefahr der Speziali¬
sierung und Steigerung auf Gebieten
zu entgehen, in die ihm nur noch we¬
nige folgen konnten. So ist sein vor¬
übergehender Übergang von der Uni¬
versität zur Technischen Hochschule zu
verstehen.
Eine rastlose Lebendigkeit seines
Denkens führte ihn von aller Erstar¬
rung, die ihm instinktiv verhaßt war,
ab. In den Worten, die er in der
„Internationalen Monatsschrift“ einmal
niederschrieb, ist der eigentliche Vege¬
tationspunkt seines Wesens aufgedeckt:
„Die Bestrebungen, den Begriff der
Funktion, das heißt den Begriff des
Werdens, in den mathematischen Un¬
terricht einzuführen und ihn von der
Starrheit der antiken Denkweise zu be¬
freien, haben den mathematischen Un¬
terricht in allen Kulturländern beein¬
flußt und werden ihn ohne Zweifel im
Laufe der nächsten Jahrzehnte noch
stärker beeinflussen.“ Sieht man von
der besonderen Anwendung auf den
Unterricht zunächst ab, so findet man
in dem lebendigen Interesse am Pro¬
zeß des Werdens den Schlüssel für
Stäckels innerstes Wesen. Er beschäftigte
sich mit der Mathematik des 18. und
19. Jahrhunderts, weil diese den Zen¬
tralbegriff des Werdens in der Funktion
ergriffen hatte. Aus demselben Grunde
reizte ihn auch die Psychologie des
mathematischen Denkens. Ein immer
von innen heraus Werdendes, Wach-
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Ernst Goldbeck, Paul Städcel zum Gedächtnis
446
sendes, natürlichem Leben Entstammen¬
des und LebenSpendendes sah er in der
Technik.
Hierher gehört auch seine Neigung
zur Pädagogik. Diese Neigung war ge¬
wiß vom Vater her eine erbliche, aber
sie war doch im Sohne persönlich ver¬
engt und geprägt. Stäckel war kein
enzyklopädischer Pädagoge. Es inter¬
essierte ihn im wesentlichen nur die
von Felix Klein eröffnete und geführte
Reformbewegung, der er sich rückhalt¬
los hingab, und die er mächtig unter¬
stützt hat. Das Wesen dieser Reform
liegt in der Überwindung der antiken
starren euklidischen Geometrie und der
ebenso starr aufgefaßten algebraischen
Formen zugunsten des Funktionsbe¬
griffs und des Infinitesimalkalküls.
Diese modernen Auffassungsweisen
wollte er bereits in die Schule ein¬
führen.
Im Interesse dieses Zieles hat er für
die „Internationale mathematische Un¬
terrichtskommission“ eine bedeutende
organisatorische, schriftstellerische und
propagandistische Tätigkeit entwickelt.
Er hat sich sogar der für ihn peinlichen
Aufgabe unterzogen, ein modernes
französisches Lehrbuch von Borei zu
übersetzen und für deutsche Schulen
zuzuschneiden. Dieses Zieles wegen und
um der mathematischen Unterweisung
des Ingenieurs willen ist er auf den
Kongressen in Rom, Paris und Cam¬
bridge hervorgetreten. In Paris sprach
er in französischer Rede eingehend
„sur la prfeparation mathömatique des
ingCnieurs dans les difförents pays.“ 1 )
1) Siehe Jahrgang 1914. Sp. 1156. Außer
diesem Bericht über die Versammlung der
Internat. Mathemat. Unterrichtskommission
zu Paris April 1914 sind von Stäckel in
der Internat. Monatsschrift noch veröffent¬
licht seine Festrede beim Rektoratswechsel
1910 an der Technischen Hochschule in
Karlsruhe Jahrg. 1911, Sp. 1 ff., .Hermann
Er, der selbst kein Politiker war und
sein gesundes Deutschtum als eine
Selbstverständlichkeit ansah, von der
man nicht spricht, ebensowenig wie
man das Lob seiner Mutter in die Welt
hinausposaunt, begab sich getrost auf
internationales Gebiet da, wo er ge¬
meinschaftliches Leben und innere Zu¬
sammengehörigkeit herausfühlte. Seine
Reisen nach Ungarn um der beiden
Bolyai willen, sein Studium des Rus¬
sischen um der Kenntnis der abgele¬
genen russischen mathematischen Lite¬
ratur willen, sein Auftreten in Italien,
Frankreich, England hatten ihren Ur¬
sprung in keiner überhitzten politischen
Phantasie, sondern in dem natürlichen
Drang zusammenzuschließen, was eben
lebendig zusammengehört.
Starkes gestaltendes Schaffen ent¬
springt oft gegensätzlichen Antrieben
des Innenlebens. Erkannten wir in die¬
ser unbeirrten jugendlichen Lebendig¬
keit seines Wesens; seiner Hingabe an
jedwedes Werden einen Grundzug sei¬
nes Wesens, so ist in dem starken
Drang nach künstlerisch geschlossener
Form eine entgegengesetzt wirkende
Kraft deutlich am Werk. Es ist be¬
zeichnend, daß er die Mathematik erst
seit dem Auftreten des Funktionsbe¬
griffs und des Infinitesimalkalküls be¬
trachtete. Hier ist es geglückt, das Wer¬
dende in scharfe mathematische For¬
men einzufangen. Die Psychologie, der
das nicht gelingt, war nur ein Neben¬
gebiet für ihn. Die starre Form der
alten Mathematik hinwiederum war
ihm peinlich. Bolyais mystische Mathe-
Graßmann, ein Beitrag zur Psychologie des
Mathematikers“ 1912, Sp. 1185ff. und der
Bericht Über den 5. Internat. Mathematiker¬
kongreß zu Cambridge 1913, Sp. 239 ff. —
Stäckels Buch über die ungarischen Mathe¬
matiker Wolfgang und Johann Bolyai (2Bde.,
Leipzig 1913, B. G. Teubner) ist besprochen
von E. Study 1914, Sp. 1231 ff. Die Red.
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447
Ernst Goldbeck, Paul Stäckel zum Gedächtnis
448
matik fesselte ihn, insofern sie zu ge¬
formten Ergebnissen gelangte. Philo¬
sophie, die dazu allermeist unfähig ist,
blieb ihm fremd. Wollte man das auf
eine Formel bringen, so könnte man
sagen, er war der Mann des in ge¬
prägten endlichen Formen sich aus¬
lebenden Werdedranges. Die „Funk¬
tion“ spiegelte sein innerstes Wesen
wider.
Diese seine eigentümliche persönliche
Prägung hat, wie nicht selten, im Reife¬
alter in Obersekunda eingesetzt. Erst
damals begann er sich für Mathematik
zu interessieren. In der Prima hat er
noch geschwankt, ob er nicht Jurist
werden sollte. Auch da hätte er Hohes
erreicht. Bezeichnend dafür ist ein Auf¬
satz aus dem Jahre 1915 im Anschluß
an Adolf Matthias’ Buch „Erlebtes und
Zukunftsfragen aus Schulverwaltung,
Unterricht und Erziehung“. Die ein¬
gehende Besprechung verlangt „bera¬
tende Behörden, Beiräte und Aus¬
schüsse für das Unterrichtswesen“.
Man liest diese Forderungen eines
Mannes, dem nichts ferner lag als re¬
volutionärer Sinn, heute, wo dies alles
auf dem Marsche ist, mit höchstem Er¬
staunen. Derselbe Mann aber lehnte
eine Berufung in das Kultusministerium
ab, „weil er die Gärten nicht vertrock¬
nen lassen mochte, die er in einem
langen und tätigen Leben angelegt und
gepflegt hatte".
Als er sich dann für das mathema¬
tische Studium entschieden hatte, führte
er es mit der ihm eigenen zielbewußten
gleichmäßigen Tatkraft durch. Wohl
selten hat jemand aus seiner natür¬
lichen Anlage soviel gemacht wie er.
Vom ersten Semester an, wo er Kirch-
hoffs Mechanik sogleich nach Tisch aus¬
arbeitete, bis zu seiner Todeskrankheit
hat er rastlos gearbeitet
Das Studium der Mathematik führt
häufig eine Verengerung des mensch¬
lichen Horizontes mit sich, und zielbe¬
wußte gleichmäßige Energie tut das
Ihre hinzu. Das bewegte Auf und Nie¬
der, die langen Ruhepausen und Tage
äußerster Arbeit die Ekstasen und ihr
Absturz fehlten in seinem Leben. Er
war aber alles andere als ein trockener
oder gar düsterer Asket. Eine schier
unfaßliche Jugendlichkeit verblieb ihm,
als seine Altersgenossen schon den Jah¬
ren Tribut zahlen mußten. Er war ein
Freund lebendiger Geselligkeit und
verschmähte einen guten, in früheren
Jahren reichlich bemessenen, Tropfen
keineswegs. Sonst aber beschränkte er
sich auf sein weites Arbeitsgebiet Aus¬
spannung in Kunst, Literatur, Politik,
Reisen und dergleichen gönnte er sich
nicht. Als er aus Rom heimkehrte, hatte
er, abgesehen vom mathematischen
Kongreß, nichts Nennenswertes ge¬
sehen. Hier hat persönliche Energie ge¬
wisse Keime in ihm unentwickelt ge¬
lassen. Ein Mitschüler und Jugend¬
freund, der ihm bis zu seinem letzten
Atemzug verbunden blieb, regte ihn
als Studenten zur Lektüre der Novelas
ejemplares von Cervantes an. Er las
sie spanisch mit ihm. Zola präparierte
er sorgfältig, aber sichtlich nur aus
sprachlichem Interesse. Scharf geschlif¬
fene französische Form lag ihm gut.
Den Zola wählte er nur „der vielen
Vokabeln wegen“. Er war überhaupt
polyglott Noch als älterer Mann schrieb
der ehemalige Joachimsthaler ein les¬
bares Latein, er beherrschte das Fran¬
zösische in gleicher Weise vorzüglich
und durfte sich erlauben, in der Sor¬
bonne in dieser Sprache eine lange
Rede zu halten. Er verstand überdies
Italienisch, Englisch und Russisch.
Sein literarisches Interesse erhielt sich
aber in einem Punkt verdichtet sein
lebelang. Derselbe Freund, der ihn als
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450
Max J. Wolff, Lope de Vega
jungen Studenten zu Cervantes geführt
hatte, wies ihn im Jahre 1882 auf Gott¬
fried Keller hin, dessen „Sinngedicht“
damals in der „Deutschen Rundschau“
erschien. Jugendeindrücke, die unserm
eigensten Wesen konform sind, haben
eine unabsehbare Wirkungssphäre. So
las er im August 1919 das „Sinnge¬
dicht“ wieder und dankte seinem
Freund für die Anregung, die 37 Jahre
zurücklag. Es mag diese Lektüre ihm
sehr entsprochen haben. Hier ist natür¬
liche Lebendigkeit in eine wunderbar
glänzende Form gegossen, und über
dem Kunstwerke schweben die Geister
eines feinen Spottes, wie ihn das
Menschliche-Allzumenschliche bei ge¬
reiften Männern manchmal hervor¬
bringt. Im Kriege hatte er als alter
Offizier aufopferungsfreudig über seine
Kräfte gearbeitet Dann sah er, der al¬
lem Pessimismus fernstand, mit seinen
klaren Augen frühzeitig das unglück¬
liche Ende kommen. Ein furchtbarer
Verlust infolge des Krieges in seiner
Familie hat ihn schwer erschüttert. So
mag er denn später das „Sinngedicht“
mit ganz eigenen Gefühlen gelesen ha¬
ben.
So stellt sich seine Persönlichkeit uns
dar. Wir könnten verzweifeln in dem
vergeblichen Bemühen, sie rein zu er¬
fassen und nachzuzeichnen, wenn nicht
das „individuum ineffabile" uns von
der letzten Verantwortung befreite.
Man könnte noch sagen, daß er ein
vollkommener gentleman und uner¬
schütterlich treuer Freund und Mensch
war, doch das sollten Selbstverständ¬
lichkeiten sein. Ihre nähere Ausführung
muß der Öffentlichkeit vorenthalten
werden. Sie bleibt ein Besitz derer,
die ihm nahe standen.
Lope de Vega.
Von Max J. Wolff.
1 .
Wenn es einen Dichter gibt, bei dem
sich Leben und Schaffen, das Werk
und der Mensch Völlig idecken, so ist
es Lope de Vega, zum mindesten so¬
weit seine dramatische Kunst reicht. 1 )
Seine „Comedia“, ein Begriff, unter dem
die Spanier sowohl Lustspiel wie
Trauerspiel verstehen, ist in erster Linie
Liebeskomödie. Die Liebe spielt auch
in seinem Leben die Hauptrolle, die
Liebe in jeder nur denkbaren Form,
dia legitime wie die illegitime, die nied¬
rige wie die erhabene, die zur Jung¬
frau wie zur Dirne. Als Jüngling von
1) Die tatsächlichen Angaben dieses Auf¬
satzes stammen zum größten Teil aus der
vorzüglichen Biographie des Dichters von
H. A. Rennert, Tne Life of Lope de Vega.
Glasgow 1904.
Internationale Monatsschrift
zwanzig Jahren fängt er an zu lieben
und er liebt noch an der Schwelle des
Greisenalters. Die Liebe füllt sein Le¬
ben aus wie seine Dichtung. Die
schwersten Schicksalsschläge treffen
ihn, aber nichts kann ihm die Kraft,
aufs neue zu lieben und zu dichten, rau¬
ben. Seine Komödie ist abenteuerlich,
so abenteuerlich wie das Leben des
Verfassers. In jungen Jahren als Ver¬
brecher aus Madrid verbannt, ist er
später das Wunder und die Sehens¬
würdigkeit der Stadt, dessen täglicher
Ausgang infolge des Andranges der
Menge einer königlichen Prozession
gleicht. In der Zwischenzeit wird der
Ruhelose durch ganz Spanien umher¬
getrieben, gelegentlich wird er das Op¬
fer eines nächtlichen Überfalls. Wer
der Täter ist? Niemand weiß es. Viel-
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Max J. Wolff, Lope de Vega
452
leicht ein eifersüchtiger Nebenbuhler,
vielleicht ein wachsamer Ehemann?
Seine Komödie ist Intrigenstück, er
selbst scheut bei seinen Liebschaften
vor keiner Intrige, weder vor Verleum¬
dung noch Fälschung zurück, und mit
allen Mitteln intrigiert er gegen Auto¬
ren, deren Anfangswerke ihm, dem all¬
mächtigen Beherrscher der Bühne, ge¬
fährlich erscheinen. Seine Komödie ist pa¬
triotisch: Lope kämpfte für sein Va¬
terland und nahm an der Ausfahrt der
„unüberwindlichen Flotte“ teil; sie ist
katholisch: der Dichter führte als Fami¬
liär der Inquisition den Vorsitz bei
Verbrennung eines Ketzers und er
geißelte sich Freitags bis aufs Blut in
Erinnerung an die Leiden Christi. Auch
tragisch kann seine Kunst werden, wie
es auch in seinem Leben an tragischen
Geschehnissen nicht fehlt: eine leiden¬
schaftlich angebetete Geliebte erblindet
ihm und verliert, vielleicht durch seine
Schuld, den Verstand; seine Tochter,
die er über alles liebt, läuft mit einem
hochgestellten Herrn davon, den der
Dichter nicht zur Verantwortung ziehen
kann. Zwei Söhne muß er begraben,
den einen in vielversprechenden Kna¬
benjahren, den anderen im besten Jüng¬
lingsalter. Zwei Frauen verliert er.
Beide haben ihn offenbar innig geliebt,
und auch er scheint ihnen von Herzen
zugetan gewesen zu sein. Und jedes
dieser Ereignisse, Freude wie Leid,
wird ihm zum Gedicht, immer hat er
das Bedürfnis, sich in Vers und Reim
auszusprechen.
Nichts Menschliches ist dem Dichter
fremd. Er ist der hingehendste Ehe¬
mann und verrät seine Frau; er ist ein
verzückter Liebhaber und erklärt da¬
bei, daß den Weibern in der Liebe das
Gemeine am besten gefällt; er ist der
zärtlichste und zugleich der nachläs¬
sigste Vater, er verdient viel Geld und
besitzt nie einen Pfennig; er erringt Er¬
folg über Erfolg und klagt immer über
Neid. Lope ist alles in einer Person,
vom Verbrecher und Bettler bis zum
Beherrscher der Bühne, dem Liebling
seiner Nation und dem größten Dra¬
matiker seines Landes. Er ist die Seele
Spaniens. So widerspruchsvoll wie diese,
gleich fähig zum Höchsten wie zum
Gemeinsten, so ist der Charakter des
Dichters. Nach seinem eigenen Wort
ist er in Extremen geboren, in Liebe
und Haß, und den Mittelweg kennt er
nicht. Er besteht nur aus Gegensätzen;
auch darin die Verkörperung eines Vol¬
kes, das nur aus Gefühlen, nie in ver¬
nunftgemäßer Erwägung handelt. Er
überläßt sich unmittelbar jeder Regung
mit der Natürlichkeit eines Kindes, die
er mit der Liebenswürdigkeit und der
Ungezogenheit eines solchen paart Jede
Spur von Pose fehlt bei ihm, selbst zu
der Zeit, da die Welt einen berühmten
Mann aus ihm gemacht hat und er das
Bewußtsein seiner Größe besitzt. So
sind die Widersprüche in seinem We¬
sen nur scheinbar, sie beruhen auf sei¬
ner innersten Natur, die nur Empfin¬
dungen und Eindrücke, keine Grund¬
sätze kennt und jenen unmittelbar folgt
Gerade im Wechsel ist Lope sich selbst
am getreuesten. Er ist wie man von
Shakespeare gesagt hat, der tausend-
seelige Dichter mit der ganzen Pro¬
teusnatur eines solchen, mit jener All¬
empfänglichkeit, die das größte Glück
und das tiefste Weh des Schaffenden
ausmacht.
2 .
Lope ist ganz Dichter, aber wenn
man unter Dichten die bewußte Aus¬
übung einer geistigen Tätigkeit ver¬
steht, so dichtet er eigentlich überhaupt
nicht Die Poesie ist für ihn eine not¬
wendige, ja die einzig mögliche Aus-
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Max J. Wolff, Lope de Vega
453
drucksform. Seine Empfindungen set¬
zen sich unmittelbar, ohne daß es eines
besonderen Willens, geschweige einer
Anstrengung bedürfte, inVers und Reim
um. In den Briefen an seinen Gönner,
den Herzog von Sessa, erklärt er mehr¬
fach, daß er auch gute Prosa schreiben
könne, und gewiß war der Zweifel
berechtigt, ob eine Begabung wie die
seine sich überhaupt anders als in Ver¬
sen auszudrücken vermöge. Die dra¬
matischen Bilder und Gestalten stehen
in greifbarer Klarheit vor seiner Phan¬
tasie. Er bedarf keiner besonderen An¬
regung, um sie zu schauen, noch we¬
niger einer besonderen Mühe, das Ge¬
schaute festzuhalten und zu Papier zu
bringen. Den aufreibenden Kampf zwi¬
schen Konzeption und Ausführung, der
kaum einem Dichter erspart bleibt,
kennt Lope offenbar nicht. Die poeti¬
schen Traumgebilde nehmen bei ihm
von selber Form und Vers an. Wenn
er dichtet, so ringt er nicht mit dem
Stoff, sondern dieser gestaltet sich un¬
ter seiner Feder aus sich selbst heraus.
Sein Dichten ist beinahe eine mecha¬
nische Niederschrift. Daher seine un¬
erhörte Fruchtbarkeit. Er selbst bezif¬
fert die Zahl seiner Komödien auf 1500.
Man hat die Angabe angezweifelt; wenn
man aber bedenkt, daß er 1618/20, also
in der zweiten Hälfte der Fünfziger,
zu einer Zeit, wo die geistige Spann¬
kraft nachzulassen pflegt, in einund¬
dreißig Monaten einhundertsiebenund
zwanzig Stücke schrieb, so erscheint
die obige Riesenzahl nicht mehr un¬
glaublich. Dazu kommen noch meh¬
rere Novellen, eine reiche Lyrik und
zahlreiche große Epen, die zusammen
schon für das Lebenswerk eines Men¬
schen ausreichen würden. In den er¬
zählenden und teilweise auch in den
lyrischen Gedichten versucht Lope mit
den Italienern zu wetteifern, mit Ariost,
Tasso, Petrarca. Darin liegt schon ihre
Verurteilung. Lope kann nur sich selber
geben; wo er in fremden Spuren wan¬
delt, versagt er trotz einzelner Schön¬
heiten und gewandtester Technik. Wer
so reich ist, daß er aus eigenem Tau¬
sende von Stücken füllen kann, kann
sich nicht zum Nachahmer entäußern.
Aber er geizte nach dem Ruhm eines
Dichters. Mit Komödien, die auf der
spanischen Volksbühne gespielt wur¬
den, war er nicht zu gewinnen. Sie
verstießen gegen die Regeln des Ari¬
stoteles und galten nicht als Kunst¬
werke. Lope schrieb sie, wie er selber
versichert, nur um Geld zu verdienen;
den Ruhm erwartete er von seinen an¬
deren Werken. Es hat etwas Rühren¬
des, wie der große Mann sich bestän¬
dig um den Beifall des Meisters der
Kunstdichtung, um den Gongoras be¬
müht, obgleich ihm dessen Schaffen,
so sehr er es bewunderte, von Herzen
unsympathisch sein mußte. Erst spä¬
ter änderte sich seine Auffassung, als
er sich von dem Jubel und der Zu¬
stimmung der ganzen Nation empor¬
getragen fühlte. Da erklärt er, daß die
großen Genies über die Regeln erha¬
ben seien, und stolz rühmt er sich als
den Schöpfer und Meister des spani¬
schen Nationaldramas. Diesen Ruhm
hat ihm die Nachwelt und, von weni¬
gen Ausnahmen abgesehen, schon die
Mitwelt zugebilligt.
Sowohl die Begabung Lopes wie die
damalige geringe Einschätzung der Ko¬
mödie bringen es mit sich, daß er so
gut wie keine Entwicklung durch¬
macht. Der Gedanke, daß selbst das
größte Talent in strenge Zucht genom¬
men werden muß, kommt ihm nicht.
Wohl hat er über seine Kunst nachge¬
dacht. ja er schreibt sogar eine Ars
poetica, aber er befaßt sich darin nur
mit der objektiven Seite des Dramas,
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456
Max J. Wolff, Lope de Vega
mit dessen Wirkung auf das Publikum,
niemals mit seiner subjektiven Grund¬
lage, mit der Person des Dichters. Mit
elf Jahren fängt er an, Stücke zu schrei¬
ben; sie sind unbeholfen und kindlich,
aber bald sind die Mängel überwunden,
und mit zwanzig Jahren hat er seinen
Stil gefunden, dem er fünf weitere
Jahrzehnte treu bleibt. Die Jahre bedeu¬
ten weder einen Fortschritt noch einen
Rückschritt in seiner Kunst. Ob ein
Drama besser oder schlechter ausfällt,
hängt in erster Linie vom Stoffe, vom
Dichter nur insofern ab, als ihm die
äußeren Ereignisse mehr oder weniger
Zeit lassen und ihn in eine freiere
oder gedrücktere Stimmung versetzen.
Wenn seine Stücke in den letzten Le¬
bensjahren mehrfach versagen, so
schiebt Lope das mit Recht auf die
Launenhaftigkeit des Publikums, das
sich neuen Größen zuwendete. Zwan¬
zig Jahre lang hat er die Bühne unbe¬
schränkt beherrscht, aber er blieb sich
immer bewußt, daß seine Herrschaft
auf schwankender Grundlage, auf der
Gunst der Menge, aufgebaut war. Je¬
des neue Talent erscheint ihm gefähr¬
lich, es kann ja der Nebenbuhler sein,
der ihn stürzt Daraus erklären sich
seine dauernden Klagen über Neid und
Anfeindung, während wir den Eindruck
haben, daß er es ist, der jeden Wett¬
bewerber neidisch bekämpft. Aber Lope
ist frei von jeder Bosheit. Die jüngeren
Dichter, die ihm als Meister huldigen,
lobt und fördert er; nur diejenigen, die
ihm die schuldige Anerkennung versa¬
gen, verfolgt er. Dabei ist ihm jedes
Mittel recht. Diese Kämpfe werden
nicht zwischen Dichtern geführt, son¬
dern zwischen Konkurrenten, die sich
gegenseitig in ihrer Existenz bedrohen.
Es sind Wirtschaftskämpfe, die mit der
ganzen Erbitterung des Wirtschafts¬
krieges ausgetragen werden.
3.
Lope wie seine Genossen waren dar¬
auf angewiesen, von ihren Stücken zu
leben, und die damalige Bühne ge¬
währte einem Autor, zumal von der un¬
geheueren Schaffenskraft des unseren,
einen ausreichenden Lebensunterhalt.
Er hatte für seine Zeit recht gute Ein¬
nahmen, aber da ihm Rechnen offen¬
bar schwerer als Dichten fiel, niemals
Geld. Um dem Mangel abzuhelfen,
mußte er sich nach damaliger Sitte
einer. Gönner suchen, d. h. er begab
sich in den Dienst eines vornehmen
Herrn. Seine ersten Versuche scheinen
nicht erfolgreich gewesen zu sein, we¬
nigstens führten sie zu keinen dauern¬
den Beziehungen, erst in dem Herzog
von Sessa fand er den richtigen Mann.
Es ist ein Verdienst dieses Aristokra¬
ten, daß er für den Dichter treu bis zu
dessen Tode gesorgt hat; die Aufgabe
war nicht leicht, denn Lopes Bedürf¬
nisse sind groß und mit jeder Kleinig¬
keit wendet er sich bettelnd an den
Gönner, sei es, daß seine Frau einen
Wagen braucht, sei es, daß seine Kin¬
der neue Kleider haben müssen. Geld
ist nie vorhanden. Der Dichter war dem
Herzog dankbar, und wenn sein Dank
zuweilen Formen annimmt, die unser
Gefühl verletzen, so liegt das in den
zeitlichen Verhältnissen begründet, ent¬
sprach aber auch dem großen Abstand,
der zwischen ihm und einem Gran¬
den des Reiches bestand. Lope küßt,
wie er schreibt den Staub, den der Fuß
seines Gönners betreten, ja der Erdbo¬
den, den jener berührt hat, ist ihm wert¬
voller als seine Frau und Kinder. Aber
Huldigungen genügten dem Herzog
nicht, er beanspruchte weitere Dienste.
Er besaß wie sein Schützling eine
starke Neigung für das weibliche Ge¬
schlecht, besonders für die Damen des
Theaters, und die Korrespondenz mit
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Max J. Wolff, Lope de Vega
458
diesen Freundinnen mußte Lope de
Vega führen. Daß man sich Liebes¬
briefe von einem poetisch veranlagten
Diener schreiben ließ, war in der Re¬
naissance nichts Außergewöhnliches,
aber die des Herzogs trugen einen
eigentümlichen, offenbar höchst unmo¬
ralischen Charakter. Der Dichter emp¬
fand später Gewissensbisse, diese Tä¬
tigkeit fortzusetzen, und der Priester
verweigerte ihm sogar die Absolution,
falls er das Amt nicht aufgäbe. Man
kann zur Entschuldigung des großen
Dramatikers nicht sagen, daß er sich
ausschließlich auf Befehl des Gönners
mit solchem Schmutz befaßte, denn er
muß zugeben, daß auch seine eignen
Briefe an Amarilis, die der Herzog drin¬
gend zu lesen wünscht, „mehr Zoten
als Witz“ enthalten. Er war eine stark
erotische Natur, die nicht nur wie alle
Zeitgenossen an der gut vorgetragenen
Pikanterie, sondern am Obszönen sel¬
ber Gefallen fand.
Das Kapitel „Lope und die Frauen“
würde, wenigstens nach dem vorhan¬
denen Material, trotz der Vielheit der
Erscheinungen an einer gewissen Ein¬
förmigkeit leiden, vor allem würde der
moderne Leser eine Liebe zu einer gei¬
stig hochstehenden Frau vermissen.
Das ist eine anachronistische Auffas¬
sung. Höheres geistiges Leben gab es
damals nur in der vornehmsten Aristo¬
kratie, und diesen Herzoginnen und
Marquisen durfte der Dichter wohl hul¬
digen und seine Werke widmen, aber
für seine Liebe standen sie viel zu
hoch. Das Höchste, was ihm erreich¬
bar war, war die reiche Bürgersfrau.
Eine solche hat er in seiner Amarilis
gefunden, aber auch diese Liebe ist
derb-sinnlich und der Gesang der Ge¬
liebten ist der einzige nichtkörperliche
Vorzug, den er an ihr zu rühmen weiß.
Was er sonst liebt, sind zumeist Schau¬
spielerinnen. Ihre Selbständigkeit und
ihre Tätigkeit brachten es mit sich, daß
sie geistig freier und regsamer waren
als die gedrückten Frauen des Bürger¬
standes; desto schlechter war ihr Ruf.
Lope macht sich keine Illusionen und
gelegentlich nennt er sie spöttisch:
mehr Dirnen als Damen. Es kommt
nicht darauf an, wen man liebt, son¬
dern wie man liebt. Der Dichter stürzt
sich in diese „Verhältnisse" mit der
ganzen Wucht der großen Leidenschaft,
die selbst das Gemeine adelt. Seine
Liebe ist sinnlich, sogar roh, aber nie¬
mals lüstern. In jedem Weibe sucht er
das Ideal, und wenn ihn die Sinnen¬
gier von einer Frau zur andern jagt, so
liegt es daran, daß er das Ideal niemals
findet. Freilich ist es ein körperliches
und menschliches Ideal, nach dem er
trachteL Dem übermächtigen Petrarkis-
mus macht er selbst in seiner Lyrik so
wenig Zugeständnisse, als es im 16.
Jahrhundert möglich war, und in sei¬
nen Komödien zeichnet er Frauen, die
gesund und fest mit beiden Füßen auf
der Erde stehen, keine ätherischen We¬
sen, keine deklamierenden Heroinen,
aber auch keine Teufelinnen. So na¬
türlich wie seine Liebe sind seine
Frauengestalten, sie wollen begehrt,
aber nicht vergöttert werden.
Diese Liebschaften begleiten den
Dichter durch sein ganzes Leben; selbst
seine zweimalige Vermählung unter¬
bricht sie nicht. Dabei hat er offenbar
seine erste Gattin innig geliebt und
mit der zweiten eine gute Ehe geführt.
Er weiß das Glück der Häuslichkeit zu
würdigen, er schwärmt für seinen klei¬
nen Garten und mit Entzücken beob¬
achtet er die geringen täglichen Fort¬
schritte seines Söhnchens. Aber so sehr
ihm auf der einen Seite die Ruhe und
das stille Glück willkommen sind,
ebensosehr braucht er den Sturm der
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Max J. Wolff, Lope de Vega
460
Leidenschaft. Dafür ist er ein Dichter.
Eine alte Geliebte kehrt aus Italien zu¬
rück. Die Erinnerung an die genosse¬
nen Freuden wird übermächtig, Lope
verläßt Weib und Kind, um in die
Arme dieser Theaterprinzessin zu stür¬
zen, die er selbst nur als die „Tolle"
(Ia Loca) bezeichnet. Sein Herz war
groß genug für Gattin und Geliebte. Er
findet bei solcher Gelegenheit sogar er¬
greifende Töne, um den Schmerz der
verlassenen Frau und Mutter zu schil¬
dern, wie ihn auch seine soeben ge¬
schlossene Ehe nicht verhindert, den
Todestag einer verstorbenen Freundin
mit wehmütigen Klagen erinnerungs¬
still zu begehen. Lope brauchte ne¬
ben der Frau eine Geliebte, die seine
Sinne entflammte, die ihn durch ihre
wechselnden Launen abstieß und an¬
zog, kurz, die ihm das gewährte, was
ihn zum Dichter machte. Ob seine
Frauen unter seiner Untreue litten? Ob
sie einer so tiefen Empfindung über¬
haupt fähig waren, wie sie der Dichter
Sn dem schon erwähnten Gedicht der
einen in den Mund legt? Wir wissen
es nicht, aber nach der damaligen Stel¬
lung und Erziehung der spanischen
Mädchen müssen wir es bezweifeln.
Vermutlich trugen sie ihr Schicksal in
dumpfer Ergebung; sollten sie aber
ihre Zeitgenossinnen überragt haben,
so wurden sie, wie die Frauen großer
Männer zumeist, das Opfer dieser
Größe.
Lope war ein liebevoller, zärtlicher
Vater, sowohl für seine ehelichen wie
unehelichen Kinder, die er bereitwillig,
wenn auch nicht gegen die Gewohn¬
heit seiner Zeit, in sein Haus aufnahm.
Er hat das Vaterglück, aber noch mehr
den Vaterschmerz bis zur Hefe aus-
gekostet Die meisten seiner Kinder
starben vor ihm, und ihm blieb nur der
Trost, ihren Verlust im Gedicht zu be¬
weinen. Als schwerster Schlag aber traf
ihn ein Jahr vor seinem eignen Ende
die Entführung seiner siebzehnjährigen
Tochter Antonia Clara, des Kindes der
einst heißgeliebten Amarilis. Sie war
die Freude seines Alters, in ihr lebte
die Erinnerung an seine Jugend, an
seine Geliebte und an das eheliche
Glück, das er dereinst genossen. Daß
sie für ihn „eine Seele aus Stein und
ein Herz von Eis" besaß, muß ein ent¬
setzlicher Schlag gewesen sein. Noch
schwerer freilich mochte er empfinden,
daß der hochgestellte Verführer für die
Gerechtigkeit wie für seine Rache un¬
erreichbar war, am schwersten aber,
daß er sich selbst die mittelbare Schuld
an diesem Unglück zuschreiben mußte.
„Wie der Baum, so die Frucht", mit die¬
sem bittern Selbstvorwurf schließt das
Gedicht, in dem der Zweiundsiebzig-
jährige diesen vielleicht herbsten
Schmerz seines Lebens beklagt Er
mußte sich sagen, daß er trotz aller
Liebe kein guter Vater gewesen war,
wenn man unter Vater den Erzieher
und das Vorbild der Kinder versteht.
4.
Lope hatte schon manches Bittere
erduldet, als er sich zweiundfünfzig-
jährig dem geistlichen Stande wid¬
mete. Ein gläubiger Katholik war er
zeit seines Lebens, das war in dem da¬
maligen Spanien selbstverständlich; der
Entschluß wäre also begreiflich, wenn
der Dichter damit die Absicht einer
Ein- und Umkehr verbunden hätte.
Aber trotz zweimaliger Witwerschaft,
trotz des Todes des kleinen Carlos wa¬
ren seine Lebenskraft und Lebenslust
unvermindert. In ungebrochener Frische
stand er da und dachte nicht an Reue
und Buße. Als er in Toledo weilt, um
die Weihen zu empfangen, wohnt er
bei seiner Geliebten, einer bekannten
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Max J. Wolf!, Lope de Vega
462
Schauspielerin, und seine Briefe aus
dieser Zeit befassen sich mit Theater¬
klatsch, aber nicht mit Weltentsagung.
Man kann nur annehmen, daß er aus
materiellen Gründen Geistlicher wurde,
vermutlich in der Hoffnung auf eine
gute Pfründe. Die Frömmigkeit spielt
nur insoweit mit, als sie dem Dichter
gestattete, diesen Schritt aus voller
Überzeugung zu tun. Heuchelei ist
Lope fremd, im Gegenteil, er neigte
dazu, seine Fehler zur Schau zu stellen;
und nichts lag ihm ferner als der Ge¬
danke, unter dem Schutze des Priester¬
kleides einen ausschweifenden Wan¬
del zu führen. Er war aufrichtig wie
immer, aber der Geistliche konnte in
ihm weder den Dichter noch den Men¬
schen ertöten. Die Kirche in Spanien
stand dem Theater duldsamer gegen¬
über als in andern Ländern, aber die
Gegensätze waren doch unversöhnlich.
Lope hat diesen Konflikt offenbar nicht
gefühlt, so wenig wie den zwischen
seiner Ehe und seiner Liebe. Er erfüllte
seine priesterlichen Pflichten und er
schrieb weiter Bühnenstücke. Das eine
hat nichts mit dem andern zu tun. Erst
mit den Jahren kommen ihm Gewissens¬
bedenken, er macht sich Vorwürfe,
daß er noch immer verliebte Komödien
schreibt, er will sich vom Theater zu¬
rückziehen, ja er schlägt sogar dem
Herzog von Sessa vor, sein Hauskap¬
lan zu werden. Dieser seelische Kampf
schließt, nachdem zeitweilig die Fröm¬
migkeit die Oberhand gewonnen hatte,
mit dem Siege der Bühne. Der Greis
von zweiundsiebzig Jahren erklärt, daß
er sich aufs neue in den Dienst
des verehrten Publikums stelle, und er
schreibt ein Stück so frisch und leben¬
dig wie in seiner besten Zeit. Aber ein
neues Geschlecht saß im Theater, das
neue Reizmittel verlangte. Lopes letzte
Stücke führten nur zu halben Erfol¬
gen, wenn nicht gar zu Mißerfolgen.
Er hatte sich selber überlebt. Die
schwerste Kunst, zur rechten Zeit auf¬
zuhören, die Shakespeare besaß, war
ihm versagt. Er mußte es erleben, daß
der Zauber, den er auf die Massen aus¬
geübt hatte, versagte.
Lope de Vega in seiner Gesamtheit
ist eine der wunderbarsten Erscheinun¬
gen der neueren Literatur, ja der neue¬
ren Geschichte überhaupt. Die Natur
selber spricht aus ihm. Er ist ein Voll¬
mensch, ungebrochen, von keinem Be¬
denken gehemmt, von keinem Zweifel
zerrissen, wie er auf dem Boden des
Christentums kaum wieder vorkommt.
Aus dieser unverkünstelten Ganzheit
fließt die unverwüstliche Lebensenergie
des Mannes, aus ihr auch das Wesen
seiner Begabung. Er gehört zu den
Genies, die nur sich selber zu geben
brauchen, und sie geben der Mensch¬
heit das Höchste, was ihr zuteil wer¬
den kann. Diese Glücklichen wissen
nichts von dem qualvollen Ringen der
Tantaliden, die sich auf der Folter des
eigenen Ichs winden. Lope war in die¬
ser Hinsicht in seltenem Maße begün¬
stigt. Und doch hat auch er das Leben
als Kampf empfunden, sich selbst als
Kämpfer betrachtet. Auch er zog dahin
„unbefriedigt jeden Augenblick“. Er ist
völlig einig mit seiner Zeit, daran liegt
es, daß er erst spät nach innen zu le¬
ben beginnt, nachdem seine stürmi¬
schen Jugend- und Mannesjahre vor¬
über sind; erst an der Schwelle des Al¬
ters stellt sich bei ihm das Gefühl der
Glücklosigkeit ein. Es entspringt nicht
dem Titanentrotz und der jugendlichen
Zerrissenheit wie bei Goethe, sondern
der reifen Erkenntnis; es äußert sich
nicht als ein Aufbäumen gegen das
Schicksal, sondern als wehmutsvolle
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464
463 Nachrichten und Mitteilungen
Unterwerfung, und es ist mit der Ein¬
sicht gepaart, daß uns diese Unbefrie-
digtheit nicht zum Fluch, sondern zum
Segen gegeben ist, daß der Mensch
nicht bestimmt ist, behaglich zu ge¬
nießen, sondern dauernd zu streben.
Als gläubiger Christ erwartet er den
Frieden im Jenseits, auf Erden dage¬
gen, so faßt er die Weisheit seines
langen und arbeitsreichen Lebens zu¬
sammen, ist das Ringen das Wert¬
vollste, wertvoller als das Besitzen.
Nachrichten und Mitteilungen.
Neue Literatur zur Geschichte des Altertums.
Wir stehen an einer Weltenwende wie
in den Tagen des Übergangs vom Altertum
zum Mittelalter. Zweigeteilt als Westrom
und Ostrom hatte das Imperium Romanum,
in welchem die antike Kultur wie in einem
großen Sammelbecken zusammengeflossen
war, sich hinübergerettet in die neue Zeit
Europas, die durch Christentum, Germanen¬
tum und Slawentum heraufgeführt wurde.
Heute sehen wir die beiden Erben Ostroms,
Rußland und die Türkei, die so lange um
das Wahrzeichen des Ostreiches, die Hagia
Sophia, im Kampf miteinander gelegen
haben, aufs tiefste getroffen am Boden liegen.
Das Zarentum, das mit dem doppelköpfigen
Adler der Paläologen einst das byzantinische
Griechentum mit seinen Weltherrschafts¬
plänen nach Moskau verpflanzt hatte, hat
aufgehört zu existieren, und das Khalifat,
das trotz der Vernichtung des romäischen
Kaisertums im inneren Aufbau des türkisdien
Staates so unendlich viel von dem Byzan-
tinertum ererbt hatte — auch hier gilt das
Horazische Wort: Graecia capta cepit vic-
torem —, ist ein Schatten seiner ehemaligen
Größe. Mit dem Habsburger-Staate aber
ist der letzte Rest des römischen Kaiser¬
reiches deutscher Nation, des mittelalter¬
lichen Westroms, das unter Kaiser Sigis¬
mund ebenfalls den oströmischen Doppel¬
adler rezipiert hatte, dahingesunken.
Bei der letzten großen Weltenwende war
die Geschichte Europas vom Süden des
Kontinentes nach dessen Mitte gewandert,
heute scheint es, als wolle sie Europa ver¬
lassen. Der .Untergang des Abendlandes“
ist im Anzug, die Weltgeschichte beginnt.
Wir sind mit unserem jungen Reiche trotz
höchster Kraftanstrengung nach schier über¬
menschlichen militärischen Leistungen, wie
sie noch kein Volk bis heute vollbracht hat, in
den Zusammenbruch Europas, dessen räum¬
liche Mitte, dessen Seele und Gewissen zu¬
gleich wir waren, mithineingerissen worden.
Kein Wunder, daß viele unserer Besten
in diesen Tagen, da das Schicksal unserem
armen Volk so furchtbar mitspielt, den Blick
rückwärts wenden, über das letzte Säku-
lum europäischer Geschichte hinweg, in die
alte Geschichte der Mittelmeervölker, wo
die Entwicklung großer Reiche durch die
Jahrtausende hindurch sich überschauen
läßt und Völker uns entgegentreten, die
nach Jahrhunderten des Aufstieges auch
solche des Niedergangs aufweisen, um dann
wieder wie verjüngt von neuem emporge¬
tragen zu werden.
Wie in allen großen und entscheidenden
Entwicklungsphasen unseres Volkes sehen
wir auch heute wieder in diesen Zeiten der
inneren und äußeren Not viele unter uns vor
allem .das Land der Griechen mit der Seele
suchend“. Zeugnis hiervon legen zwei kleine¬
re Werke ab, von denen das eine — eine Sam¬
melschrift .Vom Altertum zur Gegenwart“ —
in dieserZeitschrift bereits eingehend gewür¬
digt ist. 1 ) Das andere ist das Werk eines
Einzelkämpfers *). Beide versuchen die gro¬
ßen Zusammenhänge zwischen Altertum und
Gegenwart nach dem Stande und mit den
Mitteln der neuesten Forschung aufzuzeigen,
offenbar aus dem instinktiven Gefühl heraus,
daß in einer Zeit, die im Dasein unseres
Volkes nach außen und im Inneren so vieles
niederreißen will, die Tradition und zwar
als produktives Element für die weitere Ent¬
wicklung gepflegt werden muß. Denn .alles,
was in unserem Volkstum alt und von Adel
ist, alle Urkräfte, die mitgewirkt haben an
der Kraft und Schönheit seines unvergleich¬
lichen Aufstiegs, den niederzuschmettern
1) Siehe Alfred Körte im Augustheft 1919
(Jahrg. 13, Sp. 767—782).
2) Otto Immisch, Das Nachleben der An¬
tike. Das Erbe der Alten. Neue Folge I.
Leipzig, Dietrich 1919. Vgl. auch E. Stemp-
linger und H. Lamer, Deutschtum und An¬
tike in ihrer Verknüpfung. Aus Natur- und
Geisteswelt Bd. 689. Leipzig 1920, Teubner.
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Nachrichten und Mitteilungen
466
465
nur der Übermacht einer ganzen Welt rühm¬
los gelang, alles was uns nach rückwärts
bindet an das, was das Edelste und Beste
in unserer Art war, das bedarf jetzt sorg¬
samerer Pflege als je zuvor“ 3 ). Unter den
Mustern kurzer wissenschaftlicher Orien¬
tierung, die das Sammelwerk bietet, ist ein
Kabinettstück die Skizze von L. Curtius
über das Verhältnis der nachantiken Kunst
zur Antike, in der das immer wieder von
neuem aufgenommene Ringen jedes Zeit¬
alters mit der alten Welt gewissermaßen
.als immanentes Schicksal der ganzen neuen
Geschichte“ zur Darstellung gebracht wird 4 ).
Die Wissenschaft, die solche Problem¬
stellungen in den Vordergrund schiebt, hat
zur Voraussetzung eine klare Erfassung des
Altertums und zwar des gesamten Alter¬
tums vom alten Orient bis nach Byzanz.
Wenn manche der betrachteten Skizzen
noch etwas vermissen lassen, so ist es eine
lebendige Erkenntnis der Bedeutung des
alten Orients. Die Antike ist nichts Ein¬
heitliches, zum mindesten sind es zwei
Welten und zwei Weltanschauungen, die
innerhalb derselben miteinander ringen, die
des Orients und des Okzidents, wie schon
der alte Herodot erkannt hat. Eine Über¬
sicht über die das Altertum behandelnde
neueste Literatur kann daher den Orient
nicht beiseite lassen, muß vielmehr bei der
heutigen Lage der Altertumswissenschaft
von ihm ausgehen.
In der orientalischen Geschichte hat heute
die Archäologie das Wort, die unausgesetzt
neues Material herbeischafft und dadurch
allmählich die großen Lücken unserer Er¬
kenntnis ausfüllt. Keine Entdeckung aber
verspricht so weittragende Früchtezu bringen
als diejenige des Reichsarchivs der Hethiter-
Hauptstadt in Bogahzköi, für die Hugo
Winckler sein freudeloses Forscherleben
hingegeben hat 3 6 ). Die Wissenschaft ist eben
daran, die neuen Funde der Öifentlichkeit
bekannt zu machen. Am besten orientiert
über die Hethiter-Literatur ein Aufsatz von
WalterOtto 8 ). Die Entzifferung der Sprache
3) O. Immisch, a. a. 0. S. 63.
4) .Kunst* in „Vom Alt. z. Gegw.“ S. 173
-192.
5) Vgl. die zwei Gedächtnisreden von
A. Jeremias und 0. Weber nebst Winckler-
Biographie von O. Schroeder in den Mitt.
der Vorderasiat. Gesellschaft 20, 1 (1916.)
6) Historische Zeitschrift CXVII, (1917)
S. 189 ff.
und andere Indizien haben erwiesen, daß
ein indogermanischer Bestandteil in diesem
ostanatolischen Volkstum, das dann auch
nach Syrien übergegriffen hat, steckt. Für
ein anderes Volk Kleinasiens, das lydische,
haben die Ausgrabungen der Amerikaner
in Sardes neue Erkenntnis geliefert, und es
ist zu begrüßen, daß Enno Littmann 7 )
die inschriftlichen Ergebnisse dieser Aus¬
grabungen, einheimische lydische Denk¬
mäler, darunter zweisprachige (lydisch-ara-
mäische und lydisch-griechische) in muster¬
gültiger Weise veröffentlicht und die Be¬
ziehungen des Lydischen zu den übrigen
kleinasiatischen Sprachen und zum Etrus¬
kischen untersucht hat, der erste große Fort¬
schritt über Paul Kretschmers glänzende
„Einleitung in die Geschichte der griechischen
Sprache“ hinaus. Auch die Assyriologie und
Ägyptologie stehen im Zeichen neuer, um¬
fangreicher Materialveröffentlichungen, die
hier aufzuzählen zu weit führen würde. Da-
nebenher gehen große Arbeiten zur Aus¬
wertung vorhandener Quellen. L. Bor-
chardt 8 ) hat die auf dem Stein von Pa¬
lermo erhaltenen Annalen des alten Reiches
scharfsinnig rekonstruiert und die seither üb¬
liche, von Eduard Meyer aufgestellte ägyp¬
tische Chronologie der älteren Zeiten ernstlich
in Frage gestellt. Nach Borchardts Zeitrech¬
nung ist die ägyptische Geschichte viel älter,
als wir seither annahmen (erstes Jahr des
Menes gleich 4186 statt seither 3315 + 100).
Ein sehr verdienstliches Unternehmen hat
der Königsberger Professor WalterWre-
szinski“) begonnen, das unsdurchWort und
Bild in ausgezeichneter Weise in altägyp¬
tisches Kulturleben einführt. Aus langjäh¬
riger Beschäftigung mit der ägyptischen
Kunst ist das Werk Heinrich Schäfers 10 )
hervorgegangen. Es ist wie kein zweites
7) Sardis. Publications of the American
Society for the excavation of S. Vol. VI Ly-
dian inscriptions Part. I by Enno Littmann.
Leyden 1916.
8) Quellen und Forschungen zur Zeitbe¬
stimmung der ägyptischen Geschichte 1(1917);
vgl. dazu C. F. Lehmann-Haupt, Klio
XVI (1919/20). S. 200ff.
9) Atlas zur altägyptischen Kulturge¬
schichte, bis jetzt fünf Lieferungen (I. Band,
1. Hälfte) 1914/15.
10) Von ägyptischer Kunst, besonders der
Zeichenkunst. Eine Einführung in die Be¬
trachtung ägyptischer Kunstwerke. I. Bd.
(Text). II. Bd. (Tafeln). Leipzig 1919, J. C.
Hinrichs. M. 18 ohne Teuerungszuschlag.
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469
Nachrichten und Mitteilungen
470
einmal der Renaissance gelungen ist. Es
ist äußerst reizvoll zu sehen, wie Dichter,
Philosophen, Mediziner, Redner und Histo¬
riker in den drei großen Epochen griechischer
Geschichte an derselben Aufgabe sich ver¬
suchen, wie das Problem sich erweitert und
vertieft, wie z. B. Euripides das psycholo¬
gische Rätsel des Weibes erfaßt, wie Ari-
stophanes zum erstenmal darüber gelacht
hat, wie endlich ein Aristoteles, dem der
Mensch wie das Tier in gleicher Weise
Gegenstand der Forschung wird, die Cha¬
rakterkunde auf psychologischer Grundlage
zur Wissenschaft erhebt, so daß in seiner
Schule dann die Biographie, das größte
literarische Produkt der hellenistischen Zeit,
geschaffen werden konnte. Einen einzelnen
dieser griechischen Menschenschilderer, den
größten Historiker des Altertums, hat Ed.
Schwartz“) sich zum Vorwurf genommen,
um das alte Problem von der Entstehungs-
weise des thukydideischen Werkes der Lö¬
sung näherzubringen. Ausgangspunkt ist
die Tatsache, daß das Werk Urkunden ent¬
hält, die mit der streng gewahrten Stilein¬
heit des Ganzen in unerträglichem Wider¬
spruch stehen. Die Teile, die diese Urkun¬
deneinlagen enthalten, sind erst nach 404
verfaßt oder wenigstens damals von neuem
in Arbeit genommen worden, um unfertig
zu bleiben. Ein Herausgeber hat den jetzigen
Zustand der Dinge in diesen Partien her¬
beigeführt. Von hier aus wird dann in
kühnem Zugreifen der Gegensatz der älteren
Darstellung des Archidamischen Krieges
und der letzten „Retraktation“ des Werkes
zu erweisen gesucht, und zum Schluß ein
Bild gezeichnet, das auf den deutschen
Leser von heute erschütternd wirkt. Nach
des Vaterlandes Zusammenbruch kehrte der
Historiker aus der Verbannung zurück und
stand einsam unter seinen Landsleuten,
deren Denken und Handeln er nicht mehr
begriff. Da hat er sich zu seinem Lebens¬
werk geflüchtet und hat es aus den bitteren
Erfahrungen der nun beginnenden Leidens¬
zeit Athens heraus von neuem überarbeitet.
„Sein starker, durch das eigene Schicksal
und die Katastrophe des Vaterlandes nicht
gebrochener Geist sträubte sich dagegen,
in dem Krieg, dessen Größe ein Teil seines
eigenen besten Seins geworden war, das
Resultat eines groben Fehlers zu sehen, den
24) Das Geschichtswerk des Thukydides,
Bonn 1919, Friedrich Cohen.
Perikies hätte vermeiden können, wenn er
nur gewollt hätte; in dem leidenschaftlichen
Groll gegen das neue Geschlecht, das, nicht
zufrieden mit dem Unglück der Gegen¬
wart, Athen auch um den unvergänglichen
Glanz der Vergangenheit betrügen wollte,
verstand er die eigene Darstellung nicht
mehr, die er unter dem Eindruck des Frie¬
dens von 421 entworfen hatte, und beschloß
etwas ganz Neues an die Stelle zu setzen.
Mit dem gewaltsamen Subjektivismus des
Künstlers, dem das, was er geschaffen hat,
fremd geworden ist, schob er jetzt (an Stelle
des früher betonten Gegensatzes Athen-Ko¬
rinth) ausschließlich den erst gewordenen
Gegensatz zwischen Athen und Sparta in
die Mitte, um den theoretischen Lakonismus
an der Wurzel zu treffen; geschichtlich be¬
trachtet hatte er insofern recht, als Griechen¬
land an diesem Gegensatz allerdings zugrun¬
de gegangen ist“ (S. 238f.). Und was die
innerePolitik betrifft, wurdedasWerkjetztzu
einer Apologie Athens und des Perikies, so
fern auch der Verfasser der Demokratie ge¬
standen hatte. Ein neuer, bis auf die Fun¬
damente veränderter Bau erstand und wuchs
rasch empor. Da nahm, ehe das Ende er¬
reicht war, der Tod dem Greis die Feder
aus der Hand. „Die Fittiche des Ruhmes,
die den Toten über die Jahrtausende hin¬
wegtragen sollten, haben den Lebenden
nicht einmal gestreift.“ Der Analyse des
Werkes im ersten Abschnitt folgt ein zweiter
Teil, der der Textkritik gewidmet ist. Neben
manchen Gewaltsamkeiten finden sich hier
Perlen philologischer Textbehandlung und
Interpretation. Hingewiesen sei nur auf die
Behandlung des berühmten Stückes III82—84,
wo Thukydides von der Zerrüttung der na¬
tionalen Sittlichkeit durch den Geist der
Selbstsucht infolge des verlorenen Krieges
spricht, Kapitel, die in unseren Tagen leider
wieder ganz modern anmuten. Von Schwanz’
bedeutendem Buch wird eine neue Belebung
der Thukydidesforschung ausgehen, wie wir
jetzt schon sehen können.“)
Seit 404 hat der griechische Stadtstaat ab¬
gewirtschaftet Die nun folgende Übergangs-
25) M. Pohlenz, Thukydidesstudien.
Nachrichten der Gesellschaft der Wiss. zu
Göttingen, phil.-hist. Kl. 1919 I S. 95—138,
U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Das
Bündnis zwischen Sparta und Athen. (Thu¬
kydides V), Sitz.-Ber. Ak. Berlin 1919 XLIX
S. 934 ff. Beide lassen den Herausgeber min¬
der selbständig arbeiten als Schwartz.
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471
Nachrichten und Mitteilungen
472
zeit zur hellenistischen Epoche ist, wie be¬
kannt, angefüllt mit Versuchen, ein neues
Staatsideal aufzustellen, da die politischen
Verhältnisse der Gegenwart die Besten der
Nation abstießen. Die Ansichten der größten
Geister sind neuerdings von führenden
Männern unserer Wissenschaft dargestellt
worden. Grundlegend war Sokrates' Kritik
des perikleischen Staates, worüber Hein¬
rich Maier*®) kurz vor dem Krieg gehan¬
delt hat. Was der große Bahnbrecher der
neuen Zeit an die Stelle der zusammenge¬
brochenen Demokratie gesetzt wissen wollte,
war die Aristokratie der Wissenden mit
einer neuen, auf derselben Grundlage auf¬
gebauten Gliederung der Gesellschaft, die
jeder ehrlichen Arbeit Raum und Anerken-
nungzuteil werden ließ. Auf diesen Gedanken
des großen Meisters hat dann Platon sein
Staatsideal aufgebaut, worin er das Ver¬
hältnis des Individuums zum Staate auf eine
ganz neue Basis zu stellen suchte 17 ). Diese
Geisteshelden aber stehen himmelhoch über
ihrer Zeit, und speziell Platon verliert sich
in die reine Spekulation, In die Zeit selber
dagegen werden wir versetzt, wenn wir
uns mit Geistern zweiten Ranges beschäf¬
tigen, wie das Erwin Scharr*®) tut, der
Xenophons Staatsideal einer erneuten Prü¬
fung unterzogen hat. Im Mittelpunkt des
Werkes steht die Untersuchung über den
großen Staatsroman der Kyrupädie, über
den manche unhaltbare Hypothese aufge¬
stellt worden ist. Dabei entwickelt Sch.,
da er den Roman aus der Zeit zu verstehen
sucht, über die Geschichte der ersten Hälfte
des 4. Jahrh. recht gesunde Ansichten, die
gegenüber manchen Verstiegenheiten neu¬
erer Forscher recht lesenswert sind. Wir
sehen, wie die Gedanken der neuen Zeit
der Monarchie sich zuwenden und zwar
bei Xenophon einem sozialen Königtum
auf konstitutioneller Grundlage, wie die
Schätzung der Berufsarbeit immer mehr zu-
nimmt in ein er Welt, die die Arbeitsteilung
26) Sokrates, sein Werk und seine ge¬
schichtliche Stellung. Tübingen 1913, J. C.B.
Mohr.
27) Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellen-
dorff, Platon I, II. Berlin 1919, bes. I S.389ff.
»Der Staat der Gerechtigkeit“ und S. 647ff.
„Resignation“ (über die Gesetze); dazu die Be¬
sprechung des Werkes durch H. von Arnim
in dieser Zeitschrift Okt. 1919.
28) Xenophons Staats- und Gesellschafts¬
ideal und seine Zeit. Halle 1919, Max Nie¬
meyer.
im weitesten Umfang durchgeführt hatte.
Xenophon selber ist Spezialist als Offizier
und Landwirt. Daneben treten dann bei
ihm sokratische Gedanken auf, so die Be¬
hauptung, daß der Staat die Idee der Ge¬
rechtigkeit zu verwirklichen habe, daß aus
der obersten Schicht der freien Bürger (den
öfioTifiot) diejenigen hervorgehen müssen,
die den Staat verwalten, also das tun, was
später das Staatsbeamtentum der helleni¬
stischen Zeit zu leisten hat. Überhaupt er¬
scheint Xenophon in vielem als Vorläufer
jenes Staates, wie ihn Alexander und seine
Nachfolger in die Wirklichkeit umgesetzt
haben. Eine auch für den Historiker sehr
wichtige Arbeit verdanken wir Karl Trü-
dinger* 9 ), der die antike Ethnographie von
den ersten Anfängen in Ionien an bis auf
Tacitus’ Germania darzustellen versucht hat
Wir lernen da die Stellung Herodots zu der
ionischen Ethnographie kennen und erhalten
zum erstenmal ein scharf umrissenes Bild
der völkerkundlichen Arbeiten des Posei-
donios, der der erste wissenschaftliche Dar¬
steller der Nordvölker war.
Das Hauptwerk über das hellenistische
Zeitalter, das Buch von Julius Kaerst* 0 ),
ist mit dem ersten Band unter neuem Titel
in zweiter Auflage erschienen. Vorzüge und
Schattenseiten des Werkes sind dieselben
geblieben. Eine Vertiefung hat das schöne
Kapitel über die griechische Polis erfahren,
eine starke, sehr notwendige Erweiterung
dasjenige über den Orient vor Alexander.
Die Darstellung der Anfänge Makedoniens
und von Philipps Politik ist in gleicher Güte
wie früher wieder herausgekommen: Dem¬
gegenüber kann der Alexander-Darstellung
im zweiten Teil nicht das gleiche Lob ge¬
spendet werden. Ich habe die letzten Pläne
Alexanders kürzlich neu aus den Quellen
zur Darstellung gebracht* 1 ). Alexander war
nicht, wozu Kaerst und Ed. Meyer ihn stem¬
peln wollen, die große „Eroberungsbestie“,
sondern er hat zum Schluß nur die große
Landherrschaft von der Adria bis zum Indus
durch die Herrschaft über die angrenzenden
29) Studien zur Geschichte der griechisch-
römischen Ethnographie. Leipzig 1918,
Teubner.
30) Geschichte des Hellenismus I 2. Aufl.
Leipzig 1917, Teubner. XII, 536 S. M. 16,
geb. 19.80.
31) E. Kornemann, Die letzten Ziele der
Politik Alexanders d. Gr., Klio XVI (1920)
S. 209 ff.
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473 Nachrichten und Mitteilungen 474
Meere ergänzen und damit ein großes Welt¬
handelsgebiet schaffen wollen, in dessen
Mittelpunkt das Alexanderreich mit Babylon
als Hauptstadt zu liegen kam. Darüber ist
der große König gestorben, und die Ptole¬
mäer sind in diesem Punkte seine Erben
geworden. Die Zeit nach Alexander wird
heute am stärksten befruchtet durch die Pa¬
pyruskunde. Eine neue Einführung in diese
Hilfswissenschaft hat W. Schubart’ 1 ) er¬
scheinen lassen, die sich neben dem großen
Werke von U. Wilcken und L. Mitteis sehr
wohl sehen lassen kann. Wie in dem älteren
Werke wird auch hier ein Gesamtbild des
Lebens im griechisch-römischen Ägypten zu
geben versucht, das durch die zahlreichen
Hinweise auf die moderne Spezialliteratur
unseren Dank verdient. Fast die Hälfte des
Buches ist den literarischen Papyri gewid¬
met, die am Schluß nach Schriftstellern ge¬
ordnet zusammengestellt sind. Hierdurch
wie durch die ausgezeichnete Behandlung
der Probleme der Schrift und des Buch¬
wesens erhält das Werk seine eigenartige
dauernde Stellung in der Literatur JS ). Eine
Einführung in die juristische Papyruskunde
nennt sich mit Recht das schöne, soeben er¬
schienene Buch von P. M. Meyer 34 ). Es
will an der Hand von 96 Urkunden, die
musterhaft ediert und erklärt werden, in
ersterLiniepapyrologischnichtvorgebildeten
Juristen sowie Historikern und Philologen
dienen. Den meisten Abschnitten sind kurze
orientierende Einleitungen mit Literaturan¬
gaben vorausgeschickt. Unter den Texten
sind möglichst solche gegeben, welche die
Chrestomathie von L. Mitteis nicht enthält,
d. h. es sind die neueren Publikationen seit
1912 bevorzugt. Eröffnet wird die Sammlung
mit einem Neudruck des Glanzstückes der
Gießener Papyri, der Constitutio Antonini-
ana. Unter Nr. 50 , 70 und 74 stehen die
alexandrinischen Gesetze und Verordnungen
des großen Hallenser Papyrus (Dikaiomata);
in einem Anhang (Nr. 93) ist der von Schu¬
bart neuerdings veröffentlichte Gnomon
(über mandatorum) des Idios Logos aus der
32) Einführung in die Papyruskunde, Ber¬
lin 1918, Weidmann.
33) Vgl. auch das Büchlein von Fr.Prei-
sigke, Antikes Leben nach den ägyptischen
Papyri. Aus Natur u. Geisteswelt Bd. 565.
Leipzig 1917, Teubner. Geb. M. 2.65.
34) Juristische Papyri. Erklärung von Ur¬
kunden zur Einführung in die juristische
Papyruskunde. Berlin 1920, Weidmann.
Zeit des Antoninus Pius wieder abgedruckt.
Wie Schubart neben Wilcken, so wird man
Meyers Buch neben Mitteis oft und gern zu
Rate ziehen. Die Publikation von neuem Pa¬
pyrusmaterial ist durch den Kriegnur verlang¬
samt, nicht ganz unterbrochen worden. Er¬
wähnt sei, daß der XIII. Band der Oxyrhyn-
chus-Papyri 36 ) unterNr.l610Fragmenteeines
Historikers zur Geschichte des 5. Jahrh. ent¬
hält, die offenbar von Ephoros stammen.
Aus der Masse der das Material verarbeiten¬
den Werke greife ich nur zwei heraus, ein¬
mal das Werk von Wilckens Schüler Fried¬
rich Oertel 38 ). Den Inhalt der „Liturgie“
bestimmt der Verf. als den zwangsmäßig
von Staat oder Kommune auferlegten Dienst
für das Gemeinwesen, entsprechend etwa
dem, was der Römer als munus bezeichnet
und daher wie dieses vom Amt (&qzv, ho-
nor) scharf zu trennen. Bei dem Inein¬
anderfließen von Staat und Wirtschaft im
Altertum ist dies ein ungeheures Gebiet, und
Oertels Buch bedeutet für uns eine große
Bereicherung unserer Kenntnis der ptole-
mäischen und römischen Verwaltung Ägyp¬
tens. Ein juristisches Thema behandelt Mit¬
tels’ Schüler H. Kreller 37 ). Es galt das Erb¬
recht auf juristischem Neuland, wo ein be¬
schränkt empfundenes Eigentum an einem
sozial durchaus gebundenen Besitz vorliegt,
zur Darstellung zu bringen. Neben dem
einheimischen ägyptischen Recht steht die
Weiterbildung des griechischen Rechtes im
Vordergrund, während das römische Recht
auf die herrschende Minderheit beschränkt
bleibt. „Nichts wäre falscher als der Glaube,
daß mit der römischen Herrschaft im Orbis
terrarum das römische Privatrecht als allein
geltendes eingezogen sei“, sagt 011 o E g e r =a )
in seinem interessanten Büchlein, das das
rechtshistorische Material der Papyrusur¬
kunden zur Aufhellung mancher Rechtsfälle
im Neuen Testament benutzt. Die Theologie
35) The Oxyrhynchus-Papyri. Herausgeb.
von B. P. Grenfell und A. S. Hunt. B. XIII.
London 1919, S. 98ff.
36) Die Liturgie. Studien zur Geschichte
der ptolemäischen Verwaltung. Leipzig
1918, Teubner.
37) Erbrechtliche Untersuchungen auf
Grund der gräcoägyptischen Papyrusurkun¬
den. Leipzig 1919, Teubner.
38) Rechtsgeschichtliches zum Neuen Te¬
stament. Rektoratsprogramm der Univer¬
sität Basel für das Jahr 1918. Basel 1919,
Univ.-Buchdruckerei.
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475
Nachrichten und Mitteilungen
476
wird dem Juristen für diese wertvolle Unter¬
stützung Dank wissen. Neben der Papyrus¬
kunde ist die Epigraphik die vornehmste
Hilfswissenschaft der alten Geschichte. Auf
diesem Gebiete ist es sehr zu begrüßen, daß
unsere beste Handsammlung griechischer
Inschriften von einem der ersten Kenner,
F. Hiller von Gaertringen’ 9 ), neu und
stark vermehrt herausgegeben wird. Den
größten Zuwachs haben die delphischen In¬
schriften, bearbeitet von H. Pomtow, ge¬
bracht.
Die römische Geschichte der älteren Zeit
ist in den letzten Jahren durch die endgül¬
tige Aufgabe des von den Alten beliebten
romazentrischen Standpunktes und durch die
Betonung der allgemein-italischen Entwick¬
lung in neue Beleuchtung gerückt worden.
Unmittelbar vor dem Krieg ist ein Werk
erschienen, das für den Südosten Italiens
unser Wissen wesentlich bereichert hat:
Maximilian Mayers Apulien 40 ). Es ist das
Muster einer archäologisch-historisch-geo¬
graphischen Monographie über eine italische
Landschaft, der der Verf. ein gutes Stück
seiner Lebensarbeit gewidmet hat. Seit
Mommsens Buch über die unteritalischen
Dialekte ist kein solcher Fortschritt wieder
auf diesem Gebiet erzielt worden. Die illy¬
rische Völkerwelle der Frühzeit hat nicht
an der Adria haltgemacht, sondern hat auch
die Ostseite der Apenninhalbinsel über¬
schwemmt. Wer neben Mayers Werk das
neue von Dall’Osso so glänzend vermehrte
und neu eingerichtete Museum von Ancona
studiert hat 41 ), wie es mir noch kurz vor
dem Krieg vergönnt war, der hat erst einen
wirklichen Begriff von der Ausdehnung des
illyrischen Besiedlungsgebietes im Osten
Italiens. Ein Buch zur römischen Geschichte,
das längst schon hätte geschrieben werden
müssen, hat uns Friedrich Münzer 41 ) ge-
39) Sylloge inscriptionum Graecarum a
Guilelmo Dittenbergero condita et aucta
nunc tertium edita I, II. Leipzig 1917, Hirzel.
40) Apulien vor und während der Helle-
nisierung mit besonderer Berücksichtigung
der Keramik. Leipzig, Teubner 1914.
41) Im Jahre 1915 ist ein ausführlicher Kata¬
log der großen Sammlung erschienen: J. D a 11’
Osso, Guida illustrata del museo nazionale
di Ancona, Ancona 1915.
42) Römische Adelsparteien und Adels¬
familien. Stuttgart 1920, J. B.Metzler. M. Gei¬
zer, der Verf. eines ähnlichen Buches: „Die
Nobilität der römischen Republik“, 1912,
schenkt. Die Geschichte dieser Adelsrepu¬
blik wird lange Zeit beherrscht von den
großen Familien und ihren Parteiungen, zu¬
nächst des Geburtsadels, dann nach dem
Aufsteigen der Plebs zur Gleichstellung auch
der durch Besitz und Amtsfähigkeit hervor¬
ragenden Geschlechter der Nobilität. Wir
lernen vor allem die Stammbäume der
großen Fürstengeschlechter kennen, aus
denen die Männer hervorgegangen sind, die
auch innerhalb der republikanischen Ver¬
fassung wie Könige über Rom geherrscht
haben. Dabei fällt gar mancherlei für die
allgemeine Geschichte Roms ab. Wir fragen
heute in unserem nationalen Unglück so
gerne nach den Ursachen, die den Völkern,
die glücklicher gewesen sind als wir, die
großen Erfolge gebracht haben. Bei Münzer
steht für die Römer einer der Gründe. Die
römische Aristokratie hat eine feine Witte¬
rung gehabt für die Eigenart der Völker und
Länder, die sie beherrschen wollte, und hat
in der Auswahl der Männer für bestimmte
Aufgaben oder Operationsgebiete eine un-
gemein glückliche Hand bewiesen. Diese
Verwendung geht oft durch die Glieder einer
Familie vom Vater zum Sohn weiter, so daß
Familienspezialisten für bestimmte Auf¬
gaben herangebildet wurden. Die Atilier
und Otacilier wurden in Sizilien verwendet,
leicht verständlich, da es Leute von ehemals
oskischem Blute waren, die Ogulnier, ein
etruskisches Geschlecht, wurden gern zur
Übertragung griechischer Kulte bzw. zu
Missionen im Osten des Mittelmeers heran-
gezogen. Oder etwas anderes: In der rö¬
mischen Adelsrepublik des 4. und 3. Jahrh.
haben die regierenden Geschlechter es ge¬
halten wie die regierenden Häuser mon¬
archischer Staaten. Friedensschlüsse und
Bundesverträge sind durch Familienbünd¬
nisse der Herrscherhäuser besiegelt worden.
Der alte römische Geburtsadel war oft mit
dem ausländischen Adel der Zeit weit enger
hat neuerdings auch noch einmal zur Sache
sich geäußert: Die römische Gesellchaft zur
Zeit Ciceros, N. Jahrb. für das klass. Alter¬
tum 45 (1920) S. lff. Beide Forscher sind
gegenüber der antiken Tradition über die
ältere römische Geschichte wieder sehr
gläubig, Geizer setzt sogar (a. a. O. S. 4) mit
Polybios III 22 den ersten römisch-kartha¬
gischen Vertrag wieder ans Ende des 6.Jahr¬
hunderts; vgl.dagegen meinen Aufsatz: »Die
Anfänge der römischen Republik“ im näch¬
sten Heft dieser Zeitschrift.
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PRINCETON UNIVEF
477
478
Nachrichten und Mitteilungen
verbunden als mit seinen Landsleuten aus
der Plebs. Unter ihm standen die Fabier
an erster Stelle und traten gerade im Ver¬
kehr mit fremden Staaten und Völkern ent¬
sprechend auf. Neben der Kenntnis des
Staatsrechtes wirkt in der römischen Ge¬
schichtsforschung nichts so vertiefend wie das
Verständnis für diese die Jahrhunderte durch¬
ziehenden Familien-Freundschaften und
-Feindschaften. Mit dieser Erkenntnis schei¬
det man von dem inhaltsschweren Buch,
dessen Lektüre uns der Verf. allerdings nicht
leicht gemacht hat. Der römischen Ge¬
schichte hat auch E d. M e y e r is ) in den letzten
Jahren von neuem sein Interesse zugewendet.
Die reifste Frucht ist sein Buch über Cäsar
und Pompejus. Wie ich in einer Besprechung
des Werkes 44 ) bereits betont habe, sind für
die Wissenschaft die Ergebnisse der Pom¬
pejus betreffenden Teile die wichtigeren.
M. sucht hier die These zu erweisen, daß
die später von Augustus begründete Form
des Staates der von Pompejus erstrebten
viel näher steht als der des Mannes, dessen
Name er trug. Er berührt sich hier mit Ge¬
danken, die vorher schon R. R e i t z e n s t e i n 46 )
ausgesprochen hatte. Beider Ergebnisse
werden jetzt durch Münzers Forschungen
(vgl. S. 317) ergänzt und teilweise korrigiert.
In diesen Arbeiten liegen also höchst be¬
deutsame Resultate vor, mit denen sich die
Wissenschaft auseinanderzusetzen haben
wird. Wenn ihr Fundament sich als jtrag-
fähig erweist, bekommen wir damit eine
Entwicklungsgeschichte des Prinzipates, in
erster Linie der Idee, dann aber auch der
praktischen Ausgestaltung der Institution.
Stoffe aus dem Altertum für ein größeres
Publikum behandelt Th. Birt. Das kultur¬
geschichtliche Werkchen 48 ) löst seine Auf¬
gabe mit Geschieh. In den Abschnitten »Der
Mensch mit dem Buch“, »Verlagswesen im
Altertum“, „Woherstammen die Amoretten?“
und „Seneca“ schöpft der Verf. so recht
aus dem Vollen, da er sich auf seinem
43) Cäsars Monarchie und das Prinzipat
des Pompejus. Innere Geschichte Roms von
66 bis 44 v. Chr. 2. Aufl. X 632 S. Stuttgart
1919, J. G. Cotta. M. 24.
44) Lit. Zentralblatt 1919 Nr. 42 (8. Okt.)
Sp. 805-808.
45) Die Idee des Prinzipats bei Cicero
und Augustus. Nachr. der Gött. Gesellschaft
der Wiss. 1917. S. 399ff und 481 ff.
46) Aus dem Leben der Antike. Leipzig
1918, Quelle & Meyer. VIII 271 S. Geb.M.8.
eigentlichen Arbeitsgebiet bewegt. Das
gleiche kann man nicht sagen von den
beiden anderen Büchern 47 ), in denen er die
römische Geschichte in Biographien aufge¬
löst zu geben versucht. Woran ein Doma-
szewski scheiterte, das ist auch Birt nicht
gelungen 48 ). Georg Wissowa hat sich
des alten Friedländer 49 ) angenommen
und gibt dieses der Literatur im höheren
Sinne angehörige Werk mit pietätvoller
Schonung heraus. Einzelne Abschnitte sind
umgestellt und das Ganze ist wieder auf
den alten Umfang von drei Bänden zurück¬
geführt, indem die wissenschaftlichen An¬
hänge in einen Schlußband verwiesen sind,
der auch einzeln käuflich ist. In das Gebiet
der römisch-germanischen Forschung führen
uns Emil Sad6e 50 ) und Karl Blümlein 81 ).
S. sucht den Umschwung der römischen Po¬
litik im Jahre 17 n. Chr. aus dem mangel¬
haften Militärsystem des Augustus, der ger¬
manischen Landesnatur sowie der Tatsache
zu erklären, daß Rom seit dem Jahre 9 n.
Chr. einem festen Germanenbund gegen¬
überstand. Das Buch von Bl. ist ausgezeich¬
net geeignet, Anschauung des römischen
und germanischen Altertums zu vermitteln.
Sehr nützlich ist die Sammlung der grie¬
chischen und lateinischen Inschriften zur Ge¬
schichte der Ostgermanen bis zum Todes¬
jahr des Kaisers Justinian, die Otto Fie-
biger und Ludwig Schmidt“) herausge¬
geben haben. Die beiden Schriften von
47) Römische Charakterköpfe. Ein Welt¬
bild in Biographien. 3. Aufl. Leipzig 1917,
Quelle & Meyer. 320 S. Geb. M. 9.60. Cha¬
rakterbilder Spätroms und die Entstehung
des modernen Europa. Leipzig 1919, Quelle
& Meyer. 492 S. Geb. M. 16.
48) Birt beginnt mit dem Bilde des Sci-
pio Africanus; vgl. über ihn die grundlegen¬
den Bemerkungen von Ed. Meyer. S.-Ber,
Berlin 1916. S. 1068ff.
49) Darstellungen aus der Sittengeschichte
Roms. 9. neubearbeitete und vermehrte Aufl.
I (1919). II (1920). Leipzig, S. Hirzel.
50) Rom und Deutschland vor 1900 Jahren.
Weshalb hat das römische Reich auf die
Eroberung Germaniens verzichtet? Festvor¬
trag am Winckelmannstag 1916. Bonner
Jahrbücher 124. Bonn 1917, Marcus & Weber.
51) Bilder aus dem römisch-germanischen
Kulturleben. Nach Funden und Denkmälern.
München und Berlin 1918, R. Oldenbourg.
IV, 120 S. 371 Abb. Lex. 8°. M. 5.
52) Inschriften-Sammlung zur Geschichte
der Ostgermanen. Kais. Akad. der Wiss. in
Wien, phil.-hist. Klasse, Denkschriften. 60.
Dia
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PRINCETON UNIVERSm
479
Nachrichten und Mitteilungen
480
O.Th.Schulz 53 ) suchen gegenüber Momm-
sen die Stellung des Senates, vor allem bei
der Erhebung eines neuen Herrschers, schär¬
fer zu formulieren. Sie werden in der staats¬
rechtlichen Literatur der Kaiserzeit ihren
Platz behaupten. (Schluß folgt)
Breslau, März 1920.
Ernst Kornemann.
Walther Köhler, Die Geisteswelt Ulrich
Zwinglis. Christentum und Antike. (Brücken
111). Gotha 1920, F. A. Perthes. 156 S.
Früher war die Bildung der europäischen
Menschheit selbstverständlich christliche Bil¬
dung. Heute ist weder christlicher noch
überhaupt ein religiöser Glaube selbstver¬
ständlich. Aber daß die Kultur zusammen¬
bricht, wenn die Selbstsucht der Menschen
und Völker nicht gebändigt wird durch eine
ihr entgegenwirkende Lebens- und Welt¬
anschauung, das haben uns die letzten Jahre
klar gezeigt. Die wirksamsten Elemente
der bisherigen europäischen Bildungsge¬
schichte, die Antike und das Christentum,
waren zuletzt verbunden im deutschen Idea¬
lismus der Zeit vor hundert Jahren, aber
wir finden solche Verbindungen schon viel
früher, so bei Erasmus, Zwingli, Melanchthon.
In manche Einzelheiten des Bildes, das hier
der Züricher Kirchenhistoriker von Zwing¬
lis Geistesart und Gedankenwelt gibt, wird
sich der Nichttheologe erst hineindenken
müssen, aber wirklich kennen lernt man
keinen Großen der Vergangenheit, ohne
Bd. 3. Abh. Wien 1917, Hölder. VIII 174.
4°. M. 16.
53) Das Wesen des römischen Kaiser¬
tums der ersten zwei Jahrhunderte und Vom
Prinzipat zum Dominat. Das Wesen des
römischen Kaisertums des dritten Jahrhun¬
derts. Studien zur Geschichte und Kultur des
Altertums. VIII, (1916) und IX 4/5 (1919).
Paderborn, F. Schöningh.
daß man in seine Berufsarbeit gründlich
einzudringen sucht, sei er nun Staatsmann
oder Maler oder Gelehrter gewesen oder
was sonst. Von Luther ist uns Reichsdeut¬
schen nicht nur das Leben, sondern auch
die Denkweise durch viele gute Biogra¬
phien bekannt; Zwingli ist uns viel frem¬
der, als er es verdient. Schriften von ihm
lesen bei uns höchstens einige Theologen;
unter den sonstigen Gebildeten kennt man¬
cher die anziehende, aber ganz kurze Dar¬
stellung, die Dilthey im 2. Bande seiner ge¬
sammelten Schriften von Zwingli gibt. Köh¬
ler hat gleichzeitig ein kurzes Lebensbild
Zwinglis geliefert (Tübingen, Mohr. 102 S.
1,50 M.) Für seine Schlußthese, daß weder
ohne das Christentum noch auf Grund des
Christentums allein, ohne andere Bildungs¬
elemente, der Bau der Menschheitskultur
möglich ist, bietet die Art, wie bei Zwingli
Christentum und Antike verbunden waren,
lehrreiche Belege. H. Mulert.
Der Friedensvertrag von Versailles. Unter
Hervorhebung der geänderten Teile mit In¬
haltsaufbau, Karten, Sachregister. Berlin
1919, Reimar Hobbing. VIII, 240 Seiten.
Preis Mk. 4,50.
Der rührige Verlag, der sich auch sonst
schon häufig um die Weiterverbreitung
amtlicher Kriegsdrucksachen verdient ge¬
macht hat, bietet hier eine handliche Aus¬
gabe der 440 Artikel des Friedensvertrages
in lesbarer deutscher Übersetzung. Da die
abgeänderten Teile unter Beifügung der
ursprünglichen Fassungen kenntlich ge¬
macht sind, gewinnt man auch einen ge¬
wissen Einblick in die Vorgeschichte des
Vertrages. Aus dieser sind die Gegenvor¬
schläge der deutschen Regierung und die
Antwort des Verbandes im selben Verlage
in unverkürzten Texten erschienen. In An¬
betracht der schweren Zeiten verdient die
Druckausstattung Anerkennung. J. H.
Für die Schrfftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, Luitpoldstraße 4.
Drude von B. G. Teubncr in Leipzig.
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PRINCETON UNIV
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG _ HEFT 6 _ MAI/JUNI 1920
Die Anfänge der römischen Republik.
Von Ernst Komemann.
Vor hundertzehn Jahren, als Deutsch¬
land schon einmal tief gedemütigt am
Boden lag, ist Niebuhrs Römische Ge¬
schichte entstanden. Wie uns heute, ist
den Menschen von damals im tiefsten
Unglück nach dem Zusammenbruch des
friderizianischen Preußens die Er¬
kenntnis gekommen, daß der Verlust an
politischer Macht ersetzt werden müsse
durch Entfesselung der geistigen Kräfte
der Nation. Die Gründung der Uni¬
versität Berlin war der äußere Aus¬
druck des neuen Strebens. Aus Vorle¬
sungen an der neuen Universität sind
1811 und 1812 die beiden ersten Bände
von Niebuhrs Römischer Geschichte her¬
vorgegangen. Wie heute so viele un¬
serer Besten war Niebuhr aus dem
praktischen Berufe herausgeworfen
worden. Der Staatsmann suchte eine
neue Beschäftigung; er fand sie, alter
Jugendneigung folgend, in dem Stu¬
dium der römischen Geschichte, die bis
dahin in Deutschland noch nicht von
Geistern ersten Ranges in Angriff ge¬
nommen worden war. Das Neue an
Niebuhrs Buch ist nicht das Was, son¬
dern das Wie. Niebuhr ist in diesem
Werke der Schöpfer der quellenkriti¬
schen Methode unserer modernen Ge¬
schichtswissenschaft geworden. Keine
Geringeren als Ranke und Mommsen
wandeln in den Spuren dieses Pfadfin¬
ders und hinter den beiden der lange
Zug der Historiker des 19. Jahrhun¬
derts. 1 ) Die ältere römische Ge-
1) Vgl. dazu C. Joh. N e u m a n n, Deutsche
Literaturzeitung 1917, Sp. 31. u. 35f.
schichte, die Niebuhr in den genannten
beiden Bänden zur Darstellung bringt,
wurde so die hohe Schule der histori¬
schen Kritik. In sie möchte ich heute
den Leser einführen, um ihm zugleich
den Fortschritt seit Niebuhr und Momm¬
sen an einem Spezialproblem, der Frage
nach der Entstehung der römischen Re¬
publik, aufzuzeigen.
Wie die Geschichte Israels mit der
Schöpfung der Welt, so beginnt Roms
Geschichte mit der Gründung derStadt.
Judentum und Römertum haben sich
die Welt erobert, das Judentum als
Glaubens-, das Römertum als Staats¬
macht. Beide haben auf dem Höhepunkt
ihres nationalen Lebens den Versuch
gemacht, eine Geschichte ihres Volkes
von den ersten Anfängen menschlichen
Daseins an zu schaffen. Dies war aber
nur dadurch möglich, daß der beglau¬
bigten Geschichte eine Vorgeschichte
legendären Inhalts vorangestellt wurde.
Wer seit Niebuhr an die Aufgabe her¬
antritt, Roms Geschichte zu schreiben,
hat zuerst die Frage zu beantworten,
wo die Zäsur zwischen echter und un¬
echter Geschichte liegt, zwischen histo¬
risch beglaubigter Überlieferung und
pseudogeschichtlicher Konstruktion, die
die langen geschichtslosen Jähre der
Stadtchronik mit „Geschichten“ ange¬
füllt hat, um den Anschluß an das fingierte
Jahr der Stadtgründung zu gewinnen.
Das Dreigestirn Niebuhr -Schweg¬
ler *)- Mommsen hat die traditionelle
2) A. Schwegler, Römische Geschichte,
Bd. I. Tübingen 1853.
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PRINCETON UNIVERSITY
483
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
484
römische Königsgeschichte zu Fall
gebracht. Der Kampf geht heute um
das erste Jahrhundert der Republik.
Hier ist die Forschung sehr langsam'
vorwärts gekommen, weil Mommsen
der Konsulliste (fasti consulares) ge¬
genüber, der einzigen Quelle der Zeit,
keine einheitliche Haltung eingenom¬
men hat. Der junge Mommsen zwei¬
felte die Authentizität der älteren Teile
der Konsulliste an, der alte Mommsen
wurde konservativer und hielt an der
Liste gläubig fest. Und wie es zu gehen
pflegt, der alte Mommsen und damit
die konservative Richtung siegte. 3 ) So
ist es gekommen, daß heute noch For¬
scher existieren, die von der Begrün¬
dung der Republik ab den chronologi¬
schen Aufbau der römischen Geschichte
für gesichert halten, und daß ein Mann
von der Bedeutung Nissens bis zum
Ende seines Lebens geglaubt hat, die
Datierung des ersten römisch-kartha¬
gischen Handelsvertrags ins erste Jahr
der Republik sei eine historische Tat¬
sache, zumal der Name des Polybios
dahintersteht. 1 ) Nur langsam hat sich
die Kritik an die Konsulliste herange¬
wagt. Der Straßburger Historiker C. J.
Neumann, einer der eifrigsten Bear¬
beiter des heiklen Themas, ist gestor¬
ben mit dem Glaubenssatz, daß die
Konsulliste nur verfälscht, nicht eigent¬
lich gefälscht sei 5 ), was im Grunde
schon die Ansicht des jungen Momm¬
sen gewesen war. Aber die Forschung
war weiter als er glaubte. Männer wie
der Deutschrusse Enmann, der Italiener
Pais und mein Tübinger Schüler Sig-
wart haben die Bresche gelegt in die
3) Auch bei Ed. Meyer, Geschichte des
Altertums II, S. 813.
4) Die neueste kritische Behandlung des
Problems bei E. Täubler, Imperium Ro-
manum I, 1913, S. 254ff.
5) Bei Gercke-Norden, Einleitung in
die Altertumswiss. III*, S. 465 u. S. 480?.
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langen Reihen der älteren römischen
Beamtenliste.
Die Frage nach den Anfängen der
römischen Republik muß demnach von
dem chronologischen Problem aus¬
gehen. Aber nicht nur, wann, sondern
auch in welcher Weise die Republik
ins Leben getreten ist, soll dargestellt
werden. Die Alten haben sich in jeder
Richtung die Sache ld!cht gemacht. 120
Jahre, d. h. halbsoviel Jahre, als die
später davorgelegte Königszeit umfaßte
(240), vor der gallischen Katastrophe
ist das Königtum gestürzt worden,
und zwar ist nach der Vertreibung des
letzten Tarquiniers gleich die spätere
Republik, geleitet von den beiden Kon¬
suln, geschaffen worden. Das Ganze
war keine Volkserhebung, sondern eine
Reaktion des Adels gegen das König¬
tum. Der Adel hat in der Form der Kon¬
sulatsregierung sofort seine Herrschaft
im Staate etabliert. Diese Erzählung ist
in chronologischer wie in sachlicher
Hinsicht späte Mache.
• I
! \
u
I.
Alle Geschichtskonstruktion bzw. *re-
konstruktion geht von der bekannten
zur unbekannten Zeit rückwärts. 6 ) Es
gab eine Epoche in Rom, da war die
Königszeit noch nicht in den Einzel¬
heiten erfunden, d. h. die römische Ge¬
schichte begann noch nicht mit der
Gründung der Stadt durch Romulus,
sondern mit der Gründung der Repu¬
blik oder genauer mit der Vertreibung
der Könige. Aber auch die Aera post
reges exactos ist, wie schon die Er¬
wähnung der Könige darin zeigt, erst
sekundär. Das Primäre ist ein ganz an¬
deres Ereignis, an welches die Ponti-
6) Vgl. zum Folgenden meine Schrift .Der
Priesterkodex in der Regia und die Ent¬
stehung der altröm. Pseudogeschichte*.
Tübingen 1912.
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PRINCETON UNIVE
485
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
486
fices, die Schöpfer der römischen Ge¬
schichtsklitterung, die Republikgrün-
dung angehängt haben, nämlich die
Weihung des kapitolinischen Jupiter¬
tempels. Nichts illustriert den priester-
lichen Ursprung der altrömischen Pseu¬
dogeschichte deutlicher als diese Tat¬
sache, daß das sakrale Ereignis zuerst
datiert und das politische erst sekun¬
där damit in Verbindung gebracht wor¬
den ist. Ein zweites Beispiel hierfür
ist die Weihung des Cerestempels, des
Hauptheiligtums der Plebs, der Tradi¬
tion nach i. J. 493 v. Chr., und die Ver¬
legung der Entstehung des plebeischen
Scheinstaates und der Begründung des
Volkstribunats in das gleiche Jahr. 6 *)
Ebenso ist das Jahr, in welchem der
Hauptgott von Rom, Jupiter O. M.,
sein Heiligtum auf dem Kapitol er¬
hielt, der Ausgangspunkt für die Dar¬
stellung der republikanischen Ge¬
schichte geworden. Plinius N. H. 33, 19
berichtet zum J. 304 v. Chr. von der
Gründung einer aedicula Concordiae
auf dem römischen Forum. Auf eher¬
ner Tafel war daran die Inschrift an¬
gebracht: eam aedem 204 annis post
Capitolinam dedicatam. Daraus ergibt
sich als Dedikationstag des Jupitertem¬
pels der 13. September Ol. 68,2 = 507
v. Ghr. Die erwähnte Inschrift ist das
älteste Denkmal der römischen Ge¬
schichte, auf welchem eine Ära erwähnt
ist. 7 ) Das Anfangsjahr derselben aber
liegt, wie oben angedeutet wurde, 120
Jahre vor der gallischen Katastrophe
(18. Juli 387). Das Tempelweihjahr ist
dann in der ältesten Pontifikalchronik
aus der Zeit des Pyrrhoskriegs in ganz
willkürlicher Weise gleich dem ersten
Jahr der Republik gesetzt worden. Bei
dieser Sachlage kann man heute wohl
6a) C. Joh. Neumann bei Gercke-
Norden a. a. 0., S. 475.
7) Priesterkodex S. 53.
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noch darüber streiten, ob der kapito¬
linische Tempel im Jahre 507 und ob
der Cerestempel im J. 493 erbaut wor¬
den sind, man sollte aber nicht mehr
darüber streiten, ob die römische Re¬
publik im J. 507 und der plebeische
Scheinstaat schon 493 gegründet wor¬
den sind. Das dritte große Sammel¬
jahr der Pseudogeschichte ist das Jahr
449, das Jahr der horazisch-valerischen
Gesetze nach der livianischen Tradi¬
tion. Es gibt aber eine ältere Überliefe¬
rung, die bei Diodor 9teht. Sie datiert
die Verfassung der Republik in dieses
Endjahr des Dezemvirats in Gestalt
einer Magna Charta libertatum. Wieder
steht ein Horatius wie bei dem Repu¬
blikbeginn im Mittelpunkt. Man hat
den Eindruck, als ob das Republik-
Anfangsjahr seine Farben und seinen
Inhalt vom Jahr 449 entlehnt hat, mit
anderen Worten, daß eine ältere Tra¬
dition die Republik im Jahre 449 ihrem
verfassungsmäßigen Aufbau nach hat
entstehen lassen.
So viel über die auf uns gekommene
Überlieferung bezüglich der Zeit des
Republikbeginns. Wollen wir nunmehr
feststellen, wann die Republik tatsäch¬
lich ins Leben getreten ist, so müssen
wir unter der Tünche der von den
Pontifices geschaffenen Pseudoge-
' schichte der angeblichen tcoXig ’EXkrjvtg
am Tiber die wahre Geschichte der ita¬
lischen urbs Roma hervorzuholen su-
ohen, ganz ähnlich wie Wissowa in
seinem ausgezeichneten Buch 8 ) die rö¬
misch-italische Religion durch Abklop¬
fen der griechischen Übertünchung und
Übermalung hat zum Vorschein kom¬
men lassen. Man hat früher, um diese
Arbeit zu leisten, gern und etwas ein¬
seitig die besonders von Mommsen vir¬
tuos ausgebildete Methode der Rück-
8) Religion und Kultus der Römer, 2. Auf].
München 1912.
16*
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PRINCETON UNIVERSITY
487
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
488
Schlüsse angewendet; namentlich der
schon erwähnte C. Joh. Neumann hat
sich darin zum beachtenswerten Spe¬
zialisten ausgebildet. Aber daneben
muß man, um die richtige Perspek¬
tive für Roms Frühgeschichte zu ge¬
winnen, seinen Blick viel mehr als seit¬
her auf die parallele Entstehung der
italischen Stämme und Städte lenken. 9 )
Roms Geschichte ist jung, die Ge¬
schichte Italiens dagegen alt. Wer Roms
Geschichte schreiben will, muß daher
immer die Gesamtgeschichte Italiens im
Auge behalten, muß endlich die stadt¬
römische Brille ablegen, durch die wir
unter dem Einfluß der pontifikalen Ge¬
schichtsklitterung die Dinge viel zu
sehr anzuschauen uns gewöhnt haben.
Italien ist niemals in dem Umfange
das Land der Italiker gewesen wie
etwa Hellas das Land der Hellenen.
Das antike Italien war vielmehr der
modernen Balkanhalbinsel vergleich¬
bar: ein völkischer Hexenkessel son¬
dergleichen. Erst relativ spät ist der
Ruf „Italien den Italikern“ erschollen,
nämlich damals, als dieses kernige
Volkstum des Gegensatzes gegenüber
den von Osten hereingekommenen Grie¬
chen und Etruskern sich bewußt gewor¬
den war. In diesen großen Emanzipa¬
tionsprozeß der Italiker gegenüber den
Fremdvölkern ist auch Rom verwickelt
worden, in ihn gehört die Befreiung
Latiums von der Fremdherrschaft der
Etrusker, die im 6. Jahrh. v. Chr. auf
dem Höhejmnkt ihrer Macht bis nach
Campanien sich ausgedehnt hatten. Die
Annahme liegt nahe, daß das, was in
der römischen Tradition als Vertrei¬
bung der Könige auf uns gekommen
ist, nichts anderes darstellt, als die ge-
9) Wie das frühzeitig der Italiener Pais,
ich in dem Aufsatz „Polis und Urbs“, Klio V,
S. 72ff. und A. Rosenberg in dem Buch
„Der Staat der Italiker“, Berlin 1913, ge¬
tan haben.
waltsame Abschüttlung des Etrusker¬
joches durch die Latiner. Die Alten
schon haben dieser Annahme Raum ge¬
geben, und die moderne Forschung ist
ihnen hierin mit wenigen Ausnahmen 10 )
gefolgt. Eine etruskische Dynastie ist
die letzte gewesen, die über Rom ge¬
herrscht hat. Monarchie und Fremd¬
herrschaft sanken am gleichen Tage da¬
hin: gerade dadurch ist das Ereignis
in der Erinnerung der nachfolgenden
Geschlechter deutlicher und länger haf¬
ten geblieben als selbst die späteren
Ereignisse.
Es gilt nun, dieses Ereignis im An¬
schluß an die Geschichte der Etrusker
zu datieren, anstatt immer von neuem
das Tempelweih-Datum der Alten nach¬
zubeten. Es ist auf alle Fälle jünger,
als wir seither glaubten. 11 ) Das 5. Jahrh.
v. Chr. ist nach dem erwähnten Jahrh.
des Höhepunkts die Zeit gewesen, da
die große Expansion des etruskischen
Volkes zum Stillstand kam, um dann
allmählich in den Krebsgang überzu¬
gehen. Die etruskische Blüte war be¬
dingt gewesen durch den engen Zu¬
sammenschluß mit den Karthagern und
die gemeinsame Frontstellung gegen¬
über den Griechen. Nun erlitten die
Karthager im Zeitalter der Perserkriege
im J. 480 bei Himera seitens der Grie¬
chen den entscheidenden Schlag. Ge-
lon, der Tyrann von Syrakus, war der
Löwe des Tages und Syrakus von nun
an die führende Macht im Süden. Es
griff bald nach Italien hinüber und
siegte 474 unter Hieron bei Cumae
auch über die Etrusker. Während die
Karthager nur zu Land, waren die E-
trusker zur See, also auf ihrem ureigen¬
sten Element, besiegt. Von da ab datiert
10) Z. B. Bel och bestreitet eine Epoche
der Etruskerherrschaft in Rom.
11) Anders C. Joh. Neu mann bei
v. Pflugk-Harttung, Weltgeschichte I
(Altertum), S. 364.
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PRINCETON UNIV.
489
ihr Niedergang. Das zeigt die Politik
syrakusanischer maritimer Expansion,
die jetzt beginnt und die das eigent¬
lich Charakteristische der Geschichte
des westlichen Mittelmeerbeckens im 5.
Jahrh. ist. Die Insel Ischia wurde syra-
kusanische Kolonie. Im J. 453 erfolgte
eine siegreiche syrakusanische Expe¬
dition nach Korsika, Elba und zur ita¬
lischen Westküste. 12 ) Syrakus ist also
seit der Mitte des Jahrh. die Vor¬
macht Italiens* und das Etruskertum
geht langsam zurück, nachdem ihm die
Seeherrschaft geraubt worden war. Die
griechische Metropole des Südens wird
dadurch zur Schrittmacherin für die
Emanzipation der Italiker von der Vor¬
herrschaft Etruriens. Was Campanien
betrifft, so haben wir aus der griechi¬
schen Überlieferung für diese südlichste
von den Etruskern beherrschte Land¬
schaft eine Anzahl geschichtlicher Da¬
ten für den Freiheitskampf der samniti-
schen Söldner dortselbst, die von den
Etruskern ins Land gezogen worden
waren und sich jetzt aus Knechten zu
Herren machten. 438 ist Capua, 421
Cumae frei geworden. Wir hören also
hier erst in der zweiten Hälfte des
5. Jahrh. von der Vertreibung der E-
trusker, während wir für das nördlicher
gelegene Latium die Vertreibung der
„Tarquinier“ von den Pontifices schon
für das Ende des 6. Jahrh. aufgetischt
bekommen. Wir können von diesen
Zusammenhängen aus zunächst nur so
viel sagen: Der Termin der Abschüt-
telung des Etruskerjochs durch Rom
liegt aller Wahrscheinlichkeit nach
näher dem Sammeljahr 449 als dem
Jahre 507.
Wir kommen vielleicht noch etwas
weiter, wenn wir noch einmal den
Blick von den Etruskern zu den Grie¬
chen Süditaliens wenden. Es ist eine
12) Diodor XI 88.
490
feststehende Tatsache, daß der etrus¬
kischen Kulturwelle, die über Rom in
der Königszeit hinweggegangen war,
im Anfang der Republik eine grie¬
chische Welle gefolgt ist. Es handelt
sich darum, die zeitlichen Anfänge die¬
ser kulturellen Überflutung durch das
Griechentum festzustellen. Hier hat die
eindringende Forschung Wissowas auf
dem Gebiet der römischen Religion dem
Historiker in höchst dankenswerter
Weise vorgearbeitet.
Die älteste griechische Beeinflussung
der römischen Religion ist zum Teil
eine indirekte, wie der römische Her¬
kuleskult beweist, der über Tibur nach
Rom gekommen ist, zum Teil eine di¬
rekte. Wissowa hat mit Recht den Satz
aufgestellt 13 ), daß Apollo der erste,
auf direktem Wege, und zwar von
Cumae aus, in Rom rezipierte grie¬
chische Gott gewesen ist. Wir haben
bei Livius IV 25,3 zum J. 433 darüber
kurz und schlicht im Stile der alten
Pontifikalchronik den Bericht: pesti-
lentia eo anno aliarum rerum otium'
praebuit. aedis Apollini pro valetudine
populi vota est. multt/ duumviri 14 ) ex
libris (sc. Sibyllinis) placandae deum
irae avertendaeque a populo .pestis
causa fecere. magna tarnen clades in
urbe agrisque promiscua hominum pe-
corumque pemicie acoepta, und zwei
Jahre später zum J. 431 (Liv. IV 29,7)
heißt es: Cn. Iulius consul aedem Apol-
linis absente collega sine sorte dedi-
cavit. Danach war die Ursache der Re¬
zeption des griechischen Gottes eine
Pest, deren erstes Auftreten Livius zum
J. 436 meldet. Im J. 435 wird das Wü¬
ten der Seuche heftiger. Dann ist von
der Krankheit keine Rede mehr, was
13) Religion und Kultus *, S. 293.
14) Gemeint sind die duumviri sacris fa-
ciundis, diejenige Behörde, die in Rom seit¬
dem alle nach dem graecus ritus verehrten
Götter unter sich hatte.
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
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491
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
492
auf ein zeitweiliges Erlöschen oder
Nachlassen schließen läßt. Dagegen
wird unter dem J. 433 bemerkt, daß
wegen der Krankheit wieder die Staats¬
geschäfte ruhen mußten. Gleichzeitig
wird in diesem Jahre dann, wie wir
sahen, dem Apollo der Tempel gelobt,
damit der große Heilgott der Griechen
die Stadt von der großen Plage be¬
freie. Man hat schon längst bemerkt,
daß dieser livianische Epidemiebericht
die größte Ähnlichkeit hat mit der Er¬
zählung des Thukydides 15 ) über jene
Seuche, die in Athen im 2. Jahre des
• Peloponnesischen Krieges zum Aus¬
bruch kam. Beide Epidemien gleichen
sich nicht nur in ihrer verheerenden
Wirkung, sondern auch insofern, als
der Verlauf in beiden Fällen der näm¬
liche ist. Auch in Athen dauert die
Pest nach ihrem 430 erfolgten Auftre¬
ten 2 Jahre lang. Nachdem sie alsdann
nachgelassen hat, bricht sie zu Beginn
des Winters 427 von neuem und stär¬
ker aus, um dann nach einem Jahre
ganz zu erlöschen. Bezüglich der Ent¬
stehung und der Wanderung der Seuche
wird erzählt 16 ): Die Krankheit begann
in Äthiopien und verbreitete sich von
hier nach Ägypten und Libyen. Äthi¬
opien steht hier offenbar für Inner¬
afrika. Die Erwähnung von Libyen ne¬
ben Ägypten zeigt, daß die ganze Küste
Nordafrikas von der Seuche befallen
wurde, und daß sie bei dieser Sachlage
wie nach Athen so auch nach Rom
importiert wurde, liegt nahe. Die Dif¬
ferenz von 6 Jahren in den Angaben
des Thukydides und Livius bezüglich
des ersten Auftretens der Seuche be¬
sagt nichts. Wir haben einfach daraus
zu lernen, daß die Rechnung nach var-
ronischer Ära in dieser Zeit bei den
Römern die Ereignisse um 6 Jahre zu
15) II 47ff. und III 87.
16) Thukyd. II 48, 1.
hoch datiert. 17 ) Ist dies alles richtig, so
haben wir es mit einem Ereignis der
ganzen Mittelmeerwelt zu tun, in des¬
sen Verlauf Rom in den Besitz des grie¬
chischen Heilgottes und des ganzen
Apparates des graecus ritus gekommen
ist. Es ist das zweite große Ereignis
der älteren Zeit, das im Gedächtnis der
späteren Geschlechter haften blieb und
in der ältesten Pontifikalchronik no¬
tiert wurde. Was wir aber für unser
Thema daraus zu lernen haben, ist die
Tatsache, daß das römische Gemein¬
wesen damals nicht mehr unter dem
Einfluß der Etrusker stand, sondern
den direkten Weg nach Cumae offen
fand, mit anderen Worten, daß die Re¬
publik damals sicher bestand. Wie
lange dies schon der Fall war, ver¬
mag mit unseren heutigen wissen¬
schaftlichen Mitteln niemand zu sa¬
gen. Es bleibt vielmehr nur die Mög¬
lichkeit, die Grenzen abzustecken, in¬
nerhalb deren wir das Ereignis suchen
dürfen. Diese Grenzen sind die Schlacht
bei Cumae von 474 und die Pest des
Jahres 430. Wir werden der Wahrheit
am nächsten kommen, wenn wir sa¬
gen, daß die römische Republik nach
der Beseitigung der Etruskerherrschaft
in Latium um die Mitte des 5. Jahr¬
hunderts ins Leben getreten ist.
Das Resultat der großen Staatsum¬
wälzung, die die Alten Vertreibung der
Könige nannten, kann zunächst nur ne¬
gativ bestimmt werden. Es gab von
jenem Zeitpunkt ab, den wir im Vor¬
hergehenden zu bestimmen gesucht ha-
17) Das varronische Jahr 318 ab urbe
condita, das wir heute mit 436 v. Chr. gleich¬
setzen, entspricht also in Wirklichkeit dem
Jahre 430 v. Chr.; vgl. über andere Bei¬
spiele abweichender römischer und griechi¬
scher Datierungen Leuze, Die römische
Jahrzählung. Tübingen 1909, S. 377ff.
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ben, keinen rex, keinen Gemeindeherrn
in politicis mehr, sondern nur noch Ln
sacris (rex sacrorum). Wenn wir den
positiven Inhalt der Verfassungsände¬
rung bestimmen wollen, müssen wir
zweierlei uns vor Augen halten: 1. daß
Alt-Rom sich sicher in seiner Verfassung
auch nach dem Sturz des letzten Kö¬
nigs nicht allzuweit von den Verfas¬
sungszuständen der übrigen Latiner¬
städte entfernt hat 18 ), und 2. daß, wie
schon die Erhaltung des rex sacrorum
zeigt, die Verfassungsänderung mög¬
lichst konservativ gewesen sein muß.
Wir kennen eine ganze Anzahl La¬
tinerstädte, in denen nach beseitigtem
Königtum ein Diktator an der Spitze
gestanden hat. Ebenso zeigt der lati-
nische Bund, ehe zwei Prätoren i. J.
340 die Führung übernahmen, die Lei¬
tung durch einen Diktator. Wenn wir
nun weiter sehen, daß in Tuskulum
auch ein rex sacrorum, in Fundi und
Formiae auch ein interrex begegnet, so
legt sich uns die Vermutung nahe, daß
in Latium eine ganz gleichmäßige Ent¬
wicklung vor sich gegangen ist, und
diese Entwicklung weist, wie die be¬
rührte Verfassungsgeschichte des latini-
schen Bundes deutlich zeigt, auf eine
Ersetzung des rex zunächst durch einen
Diktator und dann erst durch zwei
Prätoren hin. 19 )
Es ist auch a priori kaum anzuneh¬
men, daß eine so verzwickte Verfas¬
sungsform wie die Konsulatsverfas-
sung mit zwei einander völlig gleich¬
stehenden Inhabern des alten könig¬
lichen Imperiums sofort auf die Kö-
18) Ein Satz, wie ihn Rosenberg (Staat
der alten Italiker, S. 81) formuliert hat: „So
ist schon die älteste römische Republik ein
origineller Staat, der keinem anderen im
damaligen Italien glich“, ist also unserer
Ansicht nach verfehlt.
19) Kornemann, Klio XIV, 1914, S.200ff.,
gebilligt von Steinwenter bei Pauly-Wis-
sowa-Kroll, R.-E. X, Sp. 1264.
nigszeit mit ihren einfachen klaren
Rechtsverhältnissen gefolgt ist. Wirhal-
ten es demgegenüber mit einem neue¬
ren Forscher, der gesagt hat 20 ): „Jähe
Übergänge sind in der Geschichte sel¬
ten, in der römischen Verfassungsge¬
schichte unerhört", und stellen die Frage
zur Diskussion, ob nicht die Diktator-
Verfassung das Königtum zunächst in
Rom abgelöst hat und erst in jüngerer
Zeit die Prätoren- oder Konsulatsver¬
fassung gefolgt ist. 81 )
Außer der Analogie der Entwicklung
mit den übrigen Latinerstädten sind
folgende Momente hierfür in Betracht
zu ziehen:
1. Auch als der König als Herr der
Gemeinde beseitigt war, blieb doch der
„Zwischenkönig" selbst in der späteren
Epoche der Konsulatsverfassung. Diese
dauernde Erhaltung der Monarchie in
der Interregnalordnung ist leichter ver¬
ständlich, wenn auf den lebensläng¬
lichen König zunächst der Jahreskönig
gefolgt ist.
2. Die allgemeine Bezeichnung für
das römische Oberamt war bekannt¬
lich magistratus. Dieses Wort verhält
sich zu magister wie comitiatus zu
comitia. Magister populi aber ist die
älteste Bezeichnung des stadtrömischen
Diktators. War die Diktatur unter die¬
ser Bezeichnung eine Zeitlang das or-
20) Franz Leiter, Die Einheit des G^-
waltgedankens im röm. Staatsrecht. Wien
1914, S. 173.
21) Die Hypothese ist nicht neu. Siewurde
zum erstenmal vorgetragen von W. Ihne,
Forschungen auf dem Gebiet der römischen
Verfassungsgeschichte 1847, S. 42ff., darnach
von A. Schwegler, Römische Geschichte II.
Tübingen 1856, S. 92f. Mommsen hat sich
ablehnend verhalten. Dann taucht sie wie¬
der auf bei L. M. Hartmann, Wiener Stu¬
dien 34, 1912, S. 268, Weltgeschichte I 3,
S. 28f. M. Geizer, Die Nobilität der Röm.
Republik, 1912, S. 40 A. 1, etwas zurückhal¬
tender Gött. gel. Anz. 1916, S. 304, Korne¬
mann, Klio XIV, 1914, S. 295.
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495
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
dentliche Jahresamt der Römer, so ver¬
steht man sehr wohl die Verwendung
von magistratus zur Bezeichnung des
obersten Gemeindeamtes.
3. Das alte Gesetz bei Livius VII 3
(lex vetusta priscis litteris verbisque
scripta) bezeichnet den späteren dic-
tator clavi figendi causa als praetor
maximus. Der Name sowohl wie die
Gleichung mit dem genannten Dikta¬
tor führen auf einen höchsten Beamten
des Staates, der unstreitig im Einzel¬
amt fungiert hat. Der lateinischen Be¬
zeichnungsweise entspricht griechisch
ganz wörtlich örQccTrjybs vxccrog, abge¬
kürzt vnazog, womit später in unseren
griechischen Quellen der Konsul be¬
zeichnet wird. So ungeeignet diese
Übersetzung für den Konsul genannt
werden muß, so passend ist sie für den
diktatorischen Einzelbeamten. Daraus
schließe ich, daß die Übersetzung im
westhellenischen Sprachgebiet schon
zur Zeit der Diktatorverfassung erfolgt
ist, ähnlich wie die Wiedergabe von
senatus durch (fvyxhjzog (sc. ßovXij ) von
dorther stammt.
Alles dies ist noch kein zwingender
Beweis für unsere These. Ein solcher
wird erst gewonnen aus der späteren
Stellung des Diktators und seines stän¬
digen Begleiters, des magister equitum.
Die Darstellung der Diktatur durch
Mommsen* 1 “) und die sämtlichen mo¬
dernen Forscher 22 ) krankt daran, daß
einseitig der militärische Charakter des
Amtes hervorgehoben wird und ma¬
gister populi entweder als „Heeresmei¬
ster“ bzw. „Herzog“ oder speziell im
Gegensatz zu magister equitum als
„Befehlshaber des Fußvolkes“ aufge¬
faßt wird, obwohl, wie Mommsen sel-
21a) Röm. Staatsr. II®, S. 141 ff.
22) Vgl. z. B. Li eben am bei Pauly-Wis-
sowa-Kroll R.-E. V, Sp. 374. Rosenberg,
Staat der Italiker, S. 96.
496
ber zugeben muß 23 ), populus im son¬
stigen Sprachgebrauch nirgends mili¬
tärische Färbung hat, und obwohl ein
altes Gesetz erhalten ist 24 ), wonach der
magister pop. nicht befugt war, ein
Pferd zu besteigen. Ein Heeresmeister,
der nicht reiten darf, das ist doch
höchst verwunderlich! Die falsche Auf¬
fassung ist entstanden einmal aus dem
Vergleich mit dem magister equitum,
der tatsächlich ein Offizier gewesen
ist, und andererseits aus der späteren
Bemessung der maximalen Amtsdauer
der Diktatur auf 6 Monate, was wohl
mit der normalen Dauer des Sommer¬
feldzugs zusammenhängt. In Wirklich¬
keit heißt magister pop. „Volksherr“
oder „Gemeindeherr", bzw. „Volksmei¬
ster“, „Bürgermeister“ 25 ), und das Amt
ist, selbst wenn es später in Ausnahme¬
fällen wieder hervorgezogen wurde,
nicht nur für die Kriegführung, son¬
dern auch zu ganz anderen Zwecken,
die absolut nicht militärischer Art wa¬
ren, verwendet worden. Daraus folgt,
das ursprüngliche Amt war keine Offi¬
ziersstellung, sondern war das Ge¬
meindeherrnamt im vollen Umfang des
alten königlichen Imperiums.
Ganz klar wird dies aber erst, wenn
wir die staatsrechtlich höchst merkwür¬
dige Figur des magister equitum etwas
näher ins Auge fassen. 26 ) Der Diktator
muß bekanntlich noch in der histori¬
schen Zeit sofort nach seinem Regie¬
rungsantritt nach besonders dafür ein¬
geholten Auspizien bei Tagesanbruch
den Reiterführer ernennen. Erlischt die
Diktatur, so erlischt automatisch auch
23) Staatsr. II 3 , S. 159, Anm. 1.
24) Plutarch, Fabius c. 4; vgl. dazu
W. Helbig, Meianges Perrot (Paris 1903),
S. 169 ff.
25) Wie Mommsen kurz vorher im
Staatsr. (S. 144) übersetzt.
26) Darüber Mommsen, Staatsr. II 5 ,
S. 173ff., Rosenberg, Staat der Italiker,
S. 89ff., Kornemann, Klio XIV, 1914, S. 205.
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497
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
498
das Reiterführeramt. Der Reiterführer
ist also gewissermaßen der Schatten
des Diktators. Und nun das Seltsamste
an der Institution. Der mag. equitum ist
zwar im Gegensatz zum Diktator in
erster Linie Offizier, aber doch gleich¬
zeitig auch Magistrat, mit sekundärer
Gewalt gegenüber dem Diktator. Die
Ausstattung eines Offiziers mit magi¬
stratischer Gewalt ist nur noch einmal
im römischen Staatsrecht zu beobach¬
ten, nämlich bei den tribuni militum
consulari potestate, die ebenfalls der
Frühzeit der Republik angehören. Die
Republik hat, kaum errichtet, offenbar
nach außen sehr schwer kämpfen müs¬
sen und unter dem Druck dieser Au¬
ßengefahr sich entschlossen, eine Zeit¬
lang in das höchste Amt einen Offizier
aufzunehmen. Der Offizier war aber
in dieser Verfassung noch der secun-
dus, der Inhaber der minor potestas
gegenüber dem eigentlichen Gemeinde¬
herrn, dem Inhaber der maior potestas.
Erst in einer weiten Phase der Ent¬
wicklung treten die Offiziere als tri¬
buni militum an die Spitze des Staa¬
tes, aber jetzt unter Aufgabe der Mon¬
archie, ursprünglich wahrscheinlich in
der Dreizahl. 27 )
Will man die Ursache dieser Ent¬
wicklung schärfer erfassen, so ist es
nötig, die Heeresverfassung des älte¬
sten römischen Staates sich klarzu¬
machen. Wie Helbig aus den Monu¬
menten nachgewiesen hat 28 ), war die
vornehmste und die einzige ständige
Waffe des alten römischen Staates eine
berittene Hoplitenschar, keine Kaval-
27) Dazu K o r n e m a n n, Klio XIV, S. 194 ff.
und S. 494ff., H. Dessau ebenda S. 493f.
28) Zur Geschichte des röm. Equitatus, Abh.
der bair. Akad. der Wiss. XXIII, 2. Abt. 1905,
S. 267ff. Rosenberg hat sowohl in seinen
Untersuchungen zur röm. Zenturienreform,
Berlin 1911, wie im Staat der alten Italiker
sehr zum Schaden seiner Arbeiten diesen
wichtigen Aufsatz unberücksichtigt gelassen.
Ierie, wie schon die Bezeichnung ce-
leres für diese Truppe beweist. Es sind
die alten Großgrundherren, die ausge¬
rüstet mit schweren Hoplitenwaffen zu
Pferd und begleitet von ihren beritte¬
nen, unbewaffneten Knappen ins Feld
zogen. Mit Rücksicht auf diese einzige
ständige Truppe, zugleich die Elite¬
truppe der Römer, hieß der höchste
Offizier, der dem Diktator zur Seite
gestellt wurde, mag. equitum. Er ist
gewissermaßen der Generalstabschef,
den der neue Gemeindeherr sich sofort
nach seinem Regierungsantritt zur Seite
nehmen muß. Während der König seine
Truppen selber, und zwar in der etrus¬
kischen Epoche auf dem Streitwa¬
gen, angeführt hat, fehlt dem Diktator,
wie wir sahen, sogar das Recht, ein
Pferd zu besteigen, dafür muß er einen
militärischen Gehilfen in Gestalt des
mag. equitum sich zugesellen.
Das lebenslängliche Königtum ist
also nach dieser Auffassung der Dinge
eines Tages ersetzt worden durch ein
Gemeindeherrentum von jähriger Dauer.
Daneben bleibt der lebenslängliche
Sakralkönig bestehen, und auf der an¬
deren Seite erhält der neue Gemeinde¬
herr einen Offizier aus der Reihe der
equites zur Seite. Rosenberg ist es ge¬
lungen 29 ), das einzige Gegenstück zu
dem mag. equitum zu finden. Es ist der
praetor (praefectus, magister) iuventu-
tis in einigen Etrusker-, Latiner- und
Sabinerstädten. Iuventus bzw. iuvenes
ist in Latium der technische Ausdruck
für den waffenfähigen Teil (von 17
bis 45 Jahren) der obersten Volks¬
schicht. In Lanuvium begegnet ein Dik¬
tator und ein praefectus iuventutis ne¬
beneinander. 30 ) Wir schauen hier hin¬
ein in die durch und durch aristokra-
29) Staat der alten Italiker, S. 92ff., dazu
Kornemann, Klio XIV, S. 200ff.
30) CIL XIV 2121.
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499
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
500
tische Verfassung der ältesten Repu¬
bliken des Landes, die unsere Tradition
im allgemeinen verschüttet hat, die uns
aber erhalten ist in der dauernden Son¬
derstellung der „Ritter“ in der römi¬
schen Zenturienordnung. Wie auch an¬
derswo in aristokratischen Staatswe¬
sen bilden die alten Edelleute den Rat
und ihre Söhne die Kerntruppe des
Heeres. 31 ) Ihr oberster Führer tritt in
einer Zeit, da das unständige Heer der
pedites noch nicht die spätere Bedeu¬
tung erhalten hatte, neben den neuen
Gemeindeherrn in die Leitung des Staa¬
tes. So ergibt sich aus der ältesten Hee¬
resverfassung Roms diejenige Form des
Staates, in der die neuerstandene Re¬
publik sich konstituiert hat.
Wie lange diese Verfassungsform be¬
standen hat, vermögen wir nicht zu sa¬
gen. Der Einweiher des kapitolini¬
schen Tempels, M. Horatius, der in
der ältesten Konsulliste nicht enthalten
war, und Cn. lulius, der nach Livius i. J.
431 die Weihung des Apollotempels
absente collega sine sorte vollzog, wa¬
ren wohl keine Konsuln, sondern Dik¬
tatoren. Große Veränderungen müssen
dann im römischen Staate vor sich ge¬
gangen sein auf dem politischen, wirt¬
schaftlichen und militärischen Gebiet,
allen voran die „Bauernbefreiung“, die
Neumann für Alt-Rom sehr wahrschein¬
lich gemacht hat, und dadurch muß das
Bürgerheer zu Fuß neben der alten
ständigen, berittenen Hoplitenschar zu
einer solchen Bedeutung gelangt sein,
daß seine Offiziere vorübergehend das
Oberamt, zunächst iq der Dreizahl, in
die Hände bekommen haben. Ganz am
Schlüsse steht dann die Konsulatsver¬
fassung, die nicht älter ist als der An¬
fang des 4. Jahrh., vielleicht gleich von
vornherein durch die Zugabe des Prä-
31) Rosenberg, Staat, S. 96.
tors als collega minor ebenfalls zu
einer Dreimännerbehörde ausgestaltet.
Es ist von den Neueren nicht genü¬
gend beachtet worden, daß das Amt
des Sakralkönigs eine ganz ähnliche
Entwicklung wie die Diktatur durch¬
gemacht hat. Auch dieses aus dem Kö¬
nigtum entwickelte Priestertum ist eines
Tages aus seiner zentralen Stellung
verdrängt worden, und das Pontifikal-
kollegium bzw. der Vertreter dieses
Kollegiums, der pontifex maximus, ist
an seine Stelle getreten. Tatsache ist,
daß später der rex sacrorum nur noch
eine Puppe ist, abhängig vom pontifex
maximus, dem er allerdings im Range
voransteht. In der Hauptsache ist er
nur noch Priester des Ianus, wie seine
Gemahlin, die regina sacrorum, Prie¬
sterin der Iuno, und zugleich ist er
nomineller Träger der höchsten prie-
sterlichen Staatswürde, während tat¬
sächlich die zentrale Gewalt auf sakra¬
lem Gebiet an die Pontifices überge¬
gangen ist. In Äußerlichkeiten, wie der
Lebenslänglichkeit des Amtes, in Be¬
stimmungen wie denjenigen, daß er
nicht hingerichtet werden darf, daß das
Amt mit jedem anderen unvereinbar
und sein Träger nicht wahlfähig ist,
ja sogar genötigt werden kann, die zur
Zeit seiner Ernennung etwa von ihm
bekleideten Ämter vor der Inaugura¬
tion niederzulegen, in Privilegien, wie
dem Rechte der Wagenbenutzung und
einer Grabstätte innerhalb der Stadt
zeigt sich noch die ehemalige hohe
Stellung des Amtsinhabers, aber zu¬
gleich auch der Versuch, das Amt durch
Isolierung des Trägers zur vollkom¬
menen Bedeutungslosigkeit herabzu¬
drücken. 32 ) Dagegen die Übernahme der
alten Königswürde durch das Pontifi-
kalkollegium in der historischen Zeit
32) G. Wissowa, Religion und Kultus
der Römer * S. 501 ff.
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501
Ernst Kornemann, Die Anfänge der römischen Republik
502
wird durch nichts deutlicher illustriert
als durch die Tatsache, daß jetzt nicht
mehr der rex sacrorum, sondern jenes
Kollegium in der Regia, dem alten
Königshaus, seinen Amtssitz hat. Was
liegt bei diesem Tatbestand näher als
die Annahme, daß bei der Beseitigung
der Diktatur, sei es, als das Konsular-
tribunat, sei es, als die Konsulatsver¬
fassung an die Stelle trat, auch der
„König“ zum zweitenmal depossediert
worden ist? So erhalten wir folgendes
Schema der Entwicklung:
König (rex)
r S
Sakralkönig Gemeindeherr oder
(rex sacrorum) Bürgermeister (mag.
populi) und Reiter-
führer (mag. equ.)
I
Kollegium der ponti- Konsulartribune
fices (urspr. Dreizahl) (ursprüngl. Dreizahl)
I
zwei Konsuln und ein
Prätor.
Damit sind wir am Ende unserer Dar¬
legung angekommen. Ganz anders, als
die Alten uns glauben machen wollen,
ist die römische Republik entstanden.
Was die Zeit betrifft, müssen wir im
Gegensatz zur Tradition bis etwa in die
Mitte des 5. Jahrh. heruntergehen, und
in bezug auf die Verfassung liegt zwi¬
schen dem Königtum und dem Kon¬
sulat eine längere Entwicklung, die
allein aus der gleichzeitigen Heeres¬
verfassung des Staates verstanden wer¬
den kann. Die älteste Verfassung der
Republik war diejenige, die später als
Notverfassung in kritischen Augen¬
blicken oder zur Erledigung von Spe¬
zialaufgaben neben der Konsulatsver¬
fassung wieder hervorgeholt worden
ist: die Diktaturverfassung. Wie in
Etrurien, unter dessen Einfluß man
lange Zeit gestanden hatte, war in die¬
ser Verfassung der Jahreskönig zusam¬
men mit dem Reiterführer an die Stelle
des lebenslänglichen Königs getreten,
der nur noch ,für die sakrale Sphäre
erhalten blieb. Als dann der Offensiv¬
kampf gegen die Etrusker begann, zu¬
nächst gegen Fidenae, das Vorwerk
von Veji, gewann das Hoplitenheer zu
Fuß ungemein an Zahl und Bedeutung
und in den kämpfereichen Jahrzehn¬
ten am Ende des 5. und zu Anfang des
4. Jahrh. wurden die Führer dieses
neuen Heeres, die tribuni militum, zu¬
nächst in der in Italien bevorzugten
Dreizahl, die Leiter des Staates. Erst
als Veji niedergerungen und die gleich
danach auftretende schwere Gallierge¬
fahr beseitigt war, hat Rom sich den
Luxus leisten können, im obersten Amt
zur Annuität das Prinzip der Kolle¬
gialität treten zu lassen in Gestalt von
zwei Prätoren, die die Leitung der Re¬
publik konkurrierend miteinander über¬
nahmen, und die dann, als gleich dar¬
auf ein dritter Prätor dazu kam, als die
älteren und höheren Mitglieder der re¬
gierenden Magistratur Konsuln hießen,
während der alte Amtstitel die Spezial¬
bezeichnung des neuen collega minor
wurde. Die Geschichte dieser allmäh¬
lichen Entwicklung ist für uns ver¬
schüttet worden durch die Schöpfung
der langen Konsulliste, deren Kopf
längst als Fälschung erkannt worden
ist, und durch die Ausgestaltung der
Erzählung vom Ständekampf, die eben¬
falls, wie die Darstellung bei Diodor
XII, 25 zeigt, eine späte Konstruktion
ist. 33 )
33) Ed. Meyer, Rhein. Mus. 37, S.619ff.,
G. Sigwart, Klio VI, 1906, S. 360Ff.
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503
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
5041
Lord Morleys „Erinnerungen“.
Von Felix Salomon.
Als die Engländer uns den Krieg er¬
klärt hatten, ging eine Notiz durch
die Zeitung, eine kleine Gruppe von
Mitgliedern des Kabinetts sei ausge-
schieden, weil sie der Regierungspoli¬
tik nicht zustimmte; zu dieser Gruppe
zählte John Morley. Damals wurde sein
Name viel bei uns genannt, vermutlich
ohne daß die meisten eine bestimmte
Auffassung vom Wesen und Wirken
des Mannes mit ihm verbunden hätten.
Jetzt liegen seine Erinnerungen vor 1 ),
und wer die beiden Bände zur Hand
nimmt, kann mit dem Verfasser in per¬
sönlichen Verkehr treten; dazu möchte
ich einladen. „Diu multumque vixi",
schreibt der 81jährige in seinem Vor¬
wort, und wahrlich, ein gehaltvolles,
reiches Leben zieht vor unseren Au¬
gen vorüber. Der Wirkungskreis war
so mannigfach, daß Vertreter verschie¬
dener Berufskreise ihn heute als einen
der Ihrigen in Anspruch nehmen könn¬
ten; im Bereiche der Geisteswissen¬
schaften wird man Morley als Fach¬
mann zählen und schätzen, in politi¬
schen und parlamentarischen Kreisen
Englands ist er als bewährter und be¬
deutender Mitarbeiter im Gedächtnis
geblieben. Die Geschichte wird ihn in
die Reihe derer stellen, welche zwi¬
schen Geistesleben und Politik eine
Brücke schlugen, indem sie die Schätze
geistiger Kultur politischem Treiben
und Handeln fruchtbar zu machen ver¬
standen; sein eigenstes Wirken wur¬
zelt im Bereich der politischen Gesin¬
nung, des politischen Denkens. So be¬
greift es sich, daß er an seinem Le¬
bensabend von einem seiner Lands-
1) Recollections by John Viscount Mor¬
ley. London 1918, Macmillan.
leute als Englands politisches Gewissen.!
gepriesen worden ist. Erinnerungen aus
der Feder eines solchen Mannes stellen
einen Rechenschaftsbericht über Men¬
schen und Dinge dar, die das Leben zu
beobachten gab, vom Standpunkte einer
mit eigenen Maßstäben arbeitenden.
Kritik; solch ein Bericht bietet eine
nachdenkliche Lektüre. Er ist dort, we¬
der Verfasser im Rückblick erzählt und :
urteilt, meist ohne Leidenschaftlichkeit
geschrieben, in der Ruhe und Abge¬
klärtheit des Alters; die Darstellung
rückt nicht selten in jene milde Abend¬
beleuchtung, welche Morley in seinen
Naturschilderungen als die ihm liebste*
hervorhebt. Auf weiten Strecken tritt
allerdings die Erzählung hinter Tage¬
buchblättern und Briefschaften zurück,
welche in die Stimmung und Aufre¬
gung des Tages einführen; hier muß
die unmittelbare Teilnahme am Ge¬
schehen den Leser für den mangelnden
Zusammenhang entschädigen. Skepsis;
und Resignation blicken am Ende'
durch; wer das Buch aus der Hand,
legt, nimmt nicht von einem Führer
Abschied, der für die Zukunft aufbaut,
sondern vom Vertreter einer Genera¬
tion, die am Rande des Grabes steht.
Der deutsche Leser, der Morley mit sei¬
nen Sympathien entgegenkommt, fin¬
det sie erwidert, insofern dieser auch-
deutsches Geistesleben gewürdigt und
mit deutschen Landsleuten verständnis¬
voll in Verkehr getreten ist.
Die Darstellung beginnt im Form
einer Autobiographie; Morleys künfti¬
ger Biograph erhält wertvolle Vorar¬
beit. Die Kunst, welche Morley in man¬
chen historischen Arbeiten bewährt hat,
verwendet er hier auf seinen eigenem
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PRINCETON UMIV ERSUY
505
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
506
Werdegang; kein Abschnitt des Wer¬
kes ist sorgfältiger ausgearbeitet als
derjenige, welcher uns Auskunft gibt,
wie die eigene Persönlichkeit sich ge¬
bildet und unter welchen Einflüssen sie
ihr Gepräge erhalten hat. Morley wurde
in einer kleinen Stadt in Lancashire,
Blackburn, als Sohn eines Wundarztes
1838 geboren; er besaß weder Konne¬
xionen noch Vermögen. Die Schilde¬
rung der Schulzeit und des Universi¬
tätslebens zeugt bereits von ebenso
großer Begabung wie hohem Streben;
als Beruf wurde ursprünglich die Theo¬
logie in Aussicht genommen, aber fal¬
len gelassen, weil der angeborene „po¬
litische Trieb" drängte, „das Leben
selbst und seinen Inhalt zu erfassen“.
Frühzeitig suchte Morley in ihm Stel¬
lung zu nehmen; er bedurfte dazu gei¬
stiger Nahrung und Führung. Er schil¬
dert uns die Zeitverhältnisse, die den
Ausgangspunkt bildeten; besonders
lehrreich ist die Auskunft, wie er seine
politische Parteistellung fand. Sie bil¬
dete sich nicht aus literarischen Mei¬
nungen heraus, nicht aus geschicht¬
licher Tradition — das Geschichtsstu¬
dium tritt in seiner Ausbildung merk¬
lich hinter anderen Wissensgebieten zu¬
rück, weil, wie er berichtet, noch an
keiner englischen Universität bis über
flie Mitte des 19. Jahrhunderts die Ge¬
schichte einen Platz als selbständiges
Studienfach hatte —, die Parteistellung
bildete sich als Bestandteil einer im
Geistigen wurzelnden Lebensanschau¬
ung. Diese Lebensanschauung ist der
Liberalismus, „die eigentliche Grund¬
strömung der mittleren Jahrzehnte der
Viktorianischen Ära". Morley definiert
diese, wie er sagt, in tausend verschie¬
denen Farben schillernde Erscheinung
so, wie sie Geltung in seinen Augen
gewann. Was ist Liberalismus? „Seine
Wurzel ist Ehrfurcht vor der Würde
und dem Werte der Persönlichkeit. Er
tritt für das Streben nach sozialer
Wohlfahrt ein, entgegen Klasseninter¬
essen oder dynastischem Streben. Er
tritt dafür ein, daß jegliche Ansprüche
einer außenstehenden Autorität mensch¬
lichem Urteil zu unterwerfen sind, sei
es, daß es sich um eine organisierte
Kirche handelt oder um lose zusam¬
mengeschlossene Genossenschaften oder
um heilig gehaltene Bücher. In der Ge¬
setzgebung vernachlässigt er nicht die
höheren Eigenschaften der Menschen¬
natur, sondern zieht sie zuerst in Rech¬
nung. In Ausübung der Gerechtigkeit
betrachtet er den Richter, den Kerker¬
meister und vielleicht auch noch den
Henker als unentbehrlich, rechnet aber
mit der Gnade als weiser Ergänzung
des Schreckens.“ In Gegensatz zum
Liberalismus stellt Morley all das, „was
wir heute als Militarismus bezeichnen“;
er meint, kennzeichnend für den Mili¬
tarismus sei, wie er Gewissen, Grund¬
sätze, Denken, Lehre, Schrifttum als
nebensächlich betrachtet, während doch
all diese Elemente der sozialen Struk¬
tur in der Politik eine maßgebende
Rolle spielen. Im weiteren lehrt uns
Morley den Boden kennen, aus dem
sein Liberalismus Nahrung gezogen;
neben ein überaus reiches Bücherstu¬
dium tritt die Bekanntschaft mit Män¬
nern, deren Namen in die Geschichte
übergegangen sind. Unter den Leben¬
den, mit denen sich Morley als wer¬
dender Politiker und Denker ausein¬
andergesetzt hat, stehen der Dichter
George Meredith und der Philosoph
John Stuart Mill voran; unter den toten
Lehrmeistern werden vor anderen Adam
Smith, Bentham und besonders Ed¬
mund Burke genannt. Was er letzterem
verdankt, gibt er genau an; „Ich ver¬
dankte ihm auf meiner ersten Weg¬
strecke mehr als irgendeinem anderen
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PRINCETON UNIVERSITY
507
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
508
in bezug auf die praktische Einführung
5n Strategie und Taktik des öffentlichen
Lebens.“ Kennzeichnend für Morleys
geistige Ausrüstung ist noch die, bei
einem Engländer seltene, umfassende
und tiefe Kenntnis ausländischer Lite¬
ratur, zumal der französischen. Eine
nie versagende Aufnahmefähigkeit für
neuen Lern- und Lesestoff beeinträch¬
tigt nicht treues Festhalten an der auf
Schule und Universität gewonnenen
klassischen Bildung; die Meisterwerke
des klassischen Altertums begleiten
Morley in Stunden der Erholung durchs
Leben. Zur stärksten Triebkraft durch
Schwierigkeiten und Wirrnisse hin¬
durch wird ihm der Glaube an den
Fortschritt; er ist recht eigentlich sein
Lebenselixier gewesen.
Morley vermochte den für die Öffent¬
lichkeit am besten vorbereitenden Be¬
ruf, den juristischen, wegen mangeln¬
der materieller Mittel nicht einzuschla¬
gen; er wurde Journalist. Er schreibt
hierüber, er habe später bedauert, nicht
die Rechte studiert und praktiziert zu
haben, nie aber habe er bereut, daß er
Journalist gewesen sei; denn wenn der
Journalismus auch durch die billige
Überlegenheit, die das stete Kritisieren
schafft, und durch die rasche Arbeit
manches Talent und manchen Charak¬
ter verdorben habe, so stelle er den
Mann dafür mitten ins Leben hinein,
und das sei für den Politiker unschätz¬
bar. Mit 29 Jahren wurde er Leiter der
Fortnightly Review; 13 Jahre später
hat er die Pall Mall Gazette übernom¬
men. Dieser Wirkungskreis entsprach
der Eigenart Morleys insofern ganz be¬
sonders, als er ihm Gelegenheit bot,
sich gleichzeitig politisch einzufühlen
und geistig-wissenschaftlich zu betäti¬
gen. Als Brücke aus dem geistigen ins
politische Bereich diente zumal eine
kleine Schrift über „Kompromisse“, die
in deutscher Übersetzung unter dem
Titel „Überzeugungstreue“ erschienen
ist; er verurteilt hier die Neigung, aus
sozialen Konvenienzgründen auf das
Suchen nach Erleuchtung und Wahrheit
zu verzichten. „Wir müssen lernen, mit
festem Blick einander anzusehen und
mit festem Schritt den von uns gewähl¬
ten Weg zu gehen.“
Beim Eintritt ins politische Leben be¬
gegnet ihm ein „neuer Freund“; Un¬
eingeweihten wird es eine Über¬
raschung sein, daß dieser Freund kein
Geringerer als Joseph Chamberlain ge¬
wesen ist. Gladstone, der beide genau ,
kannte, staunte, wie sie sich eng zusam¬
menfinden konnten: „Sie sind“, sagte
er, „nicht nur verschieden, sondern Wi¬
dersprüche.“ Morley hatte darauf nur
zu erwidern, daß sie gleichwohl durch
dreizehn rastlose Jahre hindurch das
Leben von Brüdern geführt hätten. Mit
der Schilderung von Chamberlains Per¬
sönlichkeit beginnt Morley die Zeich¬
nung einer Reihe von Bildnissen poli¬
tischer Zeitgenossen; der Zeichner sieht
es dabei nicht darauf ab, den ganzen
Menschen zu erfassen, er begnügt sich,
die Züge herauszuheben, welche den
Staatsmann und Parlamentarier in sei¬
nem engeren Berufskreise kennzeich¬
nen. „Die Schule Chamberlains", er¬
zählt Morley, „waren die Geschäfte und
die Forderungen des Augenblicks; ob¬
wohl er nicht zu den Politikern zählte,
die durch eine Idee zum Handeln ge¬
trieben wurden, war er rasch darin,
Ideen mit Handlungen zu verbinden.“-*
Das Geheimnis seiner Macht als Volks¬
führer sei gewesen, daß er sowohl' der
freimütigste und offenste als auch der
kühnste und unerschrockenste Staats¬
mann war; diese Eigenschaften waren
abgesehen von der Schärfe seiner Dia¬
lektik seine Kraftquelle. Ungeduldig sei
er jenen klugen Leuten gegenüber ge-
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PRINCETON UNIVERS!
509
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
510
wesen, die, zahlreicher als wir anneh-
rpen, die unheilvolle Geschicklichkeit
besitzen, die Dinge am falschen Ende
anzufassen. Logik betrachtete er in der
praktischen Politik als Verderben. Gut
anwendbar auf ihn sei ein Ausspruch
eines Zeitgenossen König Wilhelms III.,
des Marquis of Halifax: Eines Mannes
Gesinnung müsse sehr niedrig sein,
wenn die Überwindung von Schwierig¬
keiten nicht einen Teil seines Vergnü¬
gens ausmache. Den Freund findet Mor-
ley in einem Urteil Gladstones wieder:
„Er ist ein Mann, mit dem sich gut
sprechen läßt, nicht nur wegen seiner
Überzeugungskraft und Klarheit, son¬
dern weil er mit Überlegung spricht
und nicht pedantisch die Folgerichtig¬
keit seines Arguments aufrechtzuerhal¬
ten sucht." Chamberlain seinerseits kri¬
tisierte Morley: „Sie haben zwei Feh¬
ler, Sie sind empfindsam, und Sie sind
zurückhaltend.“ Morley erwiderte mit
„einer Dosis Taschenpsychologie": „Die
schwachen Seiten eines Menschen sind
gewöhnlich Bestandteile seiner guten,
falls er so glücklich ist, solche zu be¬
sitzen. Empfindsamkeit ist ein Element
des Mitempfindens, und die Gabe des
Mitempfindens ist eine Kraftquelle für
den Politiker. Zurückhaltung wiederum
ist ein Bestandteil des Stolzes, und
Stolz von der rechten Art ist ebenfalls
eine Kraftquelle.“
Morley war 45 Jahre alt, als er 1883
in Newcastle on Tyne ins Unterhaus
gewählt wurde, seine Wähler waren
vornehmlich geschulte Fabrikarbeiter.
Es.war der Eintritt in die politische
Praxis, an den er die Betrachtung
knüpft, geschichtliche Erfahrung lehre
von Ciceros Tagen an, daß der Über¬
gang von Wissenschaft und Publizi¬
stik zur Politik keine günstigen Präze¬
denzfälle aufzuweisen habe. Der stu¬
dierte Mann pflege die im öffentlichen
Leben stehenden eher zu hoch als zu
niedrig einzuschätzen; folglich habe es
auch ihm an Enttäuschungen nicht ge¬
fehlt. Seine politischen Eindrücke ver¬
dichten sich an dieser Stelle wie auch
sonst manchesmal in politischen Apho¬
rismen, aus denen ich einige heraus¬
hebe. Wir lesen: „Das Unterhaus ist
keineswegs der Platz, in dem Zeitver¬
lust das Schlimmste ist.“ „Man muß ge¬
duldig die heilsame Lektion lernen, daß
Weisheit auch dann Weisheit sein kann,
wenn sie in rhetorischem Gewände auf-
tritt.“ „Viel von der parlamentarischen
Debatte ist Streit zwischen Männern,
die in Wahrheit und im letzten Grunde
übereinstimmen, aber Beweisgründe er¬
finden, um ihre Übereinstimmung zu
verbergen und neue Meinungsverschie¬
denheiten hervorzurufen.“ Warnend
spricht Morley von dem üblichen Irrtum
in der Politik, einer Ursache allein zu¬
zuschreiben, was die Wirkung von vie¬
len seL Was uns Morley an Einzelheiten
zur Zeitgeschichte bietet, ist nirgends
sensationell; im ganzen aber berei¬
chert er unser Wissen über diesen der
Forschung noch wenig zugänglichen
Zeitabschnitt in erwünschter Weise.
Interessanten Einblick erhalten wir in
die Zustände im liberalen Lager; grö¬
ßer, als wir es bisher annahmen, war
hier die Zersplitterung. Es wird deut¬
lich, in welchem Maße Gladstone als
Parteiführer versagte; ihm fehlte, sagt
Morley, die Menschenkenntnis und auch
die Kunst der Menschenbehandlung.
Die grenzenlose Anpassungsfähigkeit
des „great old man“ an neue Zeitforde¬
rungen wirkte überdies dahin, ihm alte
Marschgenossen zu entfremden; der
Radikalismus des Führers behagte den
gemäßigten Liberalen vom Schlage Har-
courts und Hartingtons nicht länger.
Gladstone verstand es aber auch nicht,
sich mit dem radikalen Flügel zu stel-
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PRINCETON UNIVERSlTY
511
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
512
len; wir hören, daß die Aufnahme von
Männern wie Chamberlain und Dilke
ins Kabinett ihm aufgedrungen werden
mußte. Morley erhielt seinen besonde¬
ren Aufgabenkreis in der Behandlung
der irischen Angelegenheiten, deren
entscheidende Bedeutung gerade da¬
mals ihn zeitweise in den Mittelpunkt
des Geschehens rückte; die politische
Tragweite der irischen Frage wurde da¬
durch so sehr gesteigert, daß eine iri¬
sche Partei entstand, die sich zum
Zünglein an der Wage zwischen den
beiden großen Parteien zu machen
vermochte. Es wurde da für den Libe¬
ralismus zur Lebensfrage, einschnei¬
dende Maßnahmen zu treffen, womit
sich noch einmal ein großer Wirkungs¬
kreis für Gladstone eröffnete; mit der
ihm eigentümlichen Fähigkeit und Kraft,
rühmt Morley, das Gewissen der Na¬
tion wachzurufen, befürwortete er eine
Befriedigung der Iren in großem Stile
und stellte Home Rule zur Erörterung.
Morley richtete sein Augenmerk auf
die agrarischen Mißstände und schrieb
darüber an Sir Alfred Lyall: „Unsere
Versäumnisse sind abscheulich gewe¬
sen. Die Grundbesitzer sind eine so gie¬
rige und freche Schar von Tyrannen ge¬
wesen, wie sie nur je in irgendeinem
Teile der Welt den Armen die Gegen¬
wart geschändet haben. Ich hoffe, daß
•die Stunde ihrer Vernichtung geschla¬
gen hat." Seinem Freunde Chamberlain
bekannte er, daß ihm irgendeine Form
der Autonomie für Irland ebenfalls
wünschenswert erschiene. Mit diesen
Ansichten übernahm er im Frühling
1886 das Amt des Staatssekretärs für
Irland. Morleys Hauptaufgabe auf die¬
sem Posten bestand darin, mit dem
Irenführer Parnell die Verbindung auf¬
rechtzuerhalten und Sorge zu tragen,
daß die Home-Rule-Bill mit einer Land-
Bill verkettet wurde. Diese Stellung¬
nahme führte zum Bruch mit Chamber¬
lain, der bekanntlich Home Rule im
Reichsinteresse für schädlich hielt; im
Mai 1886 fand die entscheidende Ka¬
binettssitzung statt, in der Chamberlain
aus der Regierung austrat, um sich mit
seinem Anhänge von GIadston£ loszu¬
sagen. Übrigens spielte sich der Vor¬
gang nicht so ab, daß Chamberlain un¬
willig die Gefolgschaft kündigte, son¬
dern Gladstone war es, der ihn wissen
ließ, es bleibe kein Raum mehr für ein
Zusammenarbeiten. Morley und Cham¬
berlain verkehrten auch weiterhin
freundschaftlich miteinander, aber die
alte vertraute Arbeitsgemeinschaft hörte
auf. Das Schisma im liberalen Lager
besiegelte das Geschick der Regierung
und beendete alsbald Morleys erste
amtliche Tätigkeit.
Neuwahlen brachten die Konserva¬
tiven ans Ruder; als Morleys Nachfol¬
ger ging Balfour 1887 nach Irland, der
bis dahin nur als philosophischer Kri¬
tiker hervorgetreten war. Morley kenn¬
zeichnet ihn durch einen schmeichel¬
haften Vergleich mit Macaulays Cha¬
rakteristik des häufiger in den Erinne¬
rungen erwähnten, von Morley eifrig
studierten, Marquis of Halifax. Mor¬
ley in Opposition behielt Fühlung mit
Parnell, dessen Wesen er zu erfassen
sucht; keines der politischen Porträts
ist sorgfältiger ausgeführt als dieses.
Die Aufgabe, lesen wir, Parnell gerecht
zu werden, sei schwierig; man müsse
dazu über die Feder eines Tacitus ver¬
fügen. Persönlichen Ehrgeiz habe Par¬
nell gar nicht besessen, weder im edlen
noch im gewöhnlichen Sinne; die Po¬
litik war ihm ein ständiges Ringen,
kein Spiel noch eine Gelegenheit, um
Karriere zu machen. Von Ideologen
wollte er so wenig wie Napoleon wis¬
sen; er hätte ihnen zur Antwort ge¬
geben, ob denn die Idee in der Politik
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513
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
514
mehr als ein anderes Wort für Einbil¬
dung sei, und ob Grundsätze abgeson¬
dert von Kraft, Leidenschaften, Inter¬
esse mehr als eine bloße Chimäre be¬
deuteten. Er hatte wenig Vertrauen zu
Worten; Beredsamkeit ließ ihn ganz
unberührt. Seine Grundeigenschaften
bestanden in unerschütterlicher Kälte,
Festigkeit, Härte, im Blick für das im
Augenblick Wesentliche. Seinen tragi¬
schen Ausgang vergleicht Morley mit
dem Mirabeaus, in dem ebenfalls ein
Retter des Vaterlandes durch Aus¬
schreitungen im Privatleben vernichtet
wurde. Morley selbst überbrachte Par-
nell den an ihn gerichteten Brief Glad-
stones, in dem dieser Morley ankün¬
digte, daß er eine weitere Führerschaft
Pamells für unheilvoll für die Sache
Irlands halte. Mit alledem war Morley,
gleichviel ob im Amt oder in der Oppo¬
sition, eine hervorstechende Persönlich¬
keit geworden; seine Zeitung prägte
eine eigene Schattierung des Liberalis¬
mus aus, der sich einerseits von dem
Mills unterschied,, andererseits! aber
auch gegen Gladstone Stellung nahm;
daher war Morley auch der Kritik wei¬
terer Kreise ausgesetzt. Er übermittelt
uns da ein bemerkenswertes Urteil über
ihn selbst von dem geistvollen katho¬
lischen Historiker Lord Acton, zu dem
er durch den Verkehr mit irischen Ka¬
tholiken Beziehungen gewonnen hatte.
Lord Acton warf Morley vor, er sähe
in der Politik nichts als höhere Zweck¬
mäßigkeit und besitze keine tieferen
Grundsätze; er käme zu seinen Schlüs¬
sen von einer viel zu engen Induktion
her; seine weitumfassende Bildung
habe auf die Gestaltung seiner fcülitik
keinen Einfluß gewonnen. Dem stellt
er allerdings hohes Lob gegenüber:
Morleys Geist sei von seltener Biegsam¬
keit,'^Wahrhaftigkeit und Kraft und nur
zum Allerbesten befähigt. Morley er-
Intemationale Monatsschrift'.
widerte hierauf u. a.: Der Vorwurf, er
sähe in der Politik nichts als höhere
Zweckmäßigkeit, bedürfe der Milde¬
rung. er habe von Burke die Lehre
des gesunden Menschenverstandes über¬
nommen, nach welcher der im öffent¬
lichen Leben Tätige die Folgen er¬
wägen müsse, die Wahrscheinlichkeiten
abschätzen, die Kräfte abmessen, das
kleinere Übel wählen und mutig die
Tatsache anerkennen, daß in der Po¬
litik oft nur die zweitbeste Lösung
möglich sei. Zeugnis für Morleys hohe
gesellschaftliche Stellung legt ein für
deutsche Leser interessanter Vorgang
ab; er wurde hinzugezogen, um dem
jungen Kaiser bei einem seiner ersten
Besuche in England vorgestellt zu wer¬
den. Er erhielt eine Einladung zum
Frühstück bei Lord Lootdonderry; das
Tagebuch bringt über das Weitere fol¬
genden Eintrag: „Er verbeugte sich und
schüttelte mir die Hand, fragte, ob icli
von meiner Krankheit genesen sei, und
sagte, daß sie die Influenza in Deutsch¬
land hätten; damit endete meine Unter¬
redung mit ihm. Aber ich beobachtete
mit ungeheurem Interesse den Mann,
der eine solche Rolle in Europa zu spie¬
len berufen ist. Er ist eher klein, blaß,
aber sonnverbrannt, hält sich gut, tritt
mit dem steifen preußischen Soldaten¬
schritt ins Zimmer, spricht mit vielen
energischen Gesten, aber nicht wie die
Franzosen, mehr staccato; die Stimme
laut, aber angenehm, das Auge glän¬
zend und klar, das Gesicht in der
Ruhe ernst, beinahe finster; aber zwi¬
schen zwei hübschen Damen, der Wir¬
tin und Lady X., sitzend, leuchtete er
auf in Heiterkeit und fröhlichem Ge¬
lächter. Energie, Hast und Ruhelosig¬
keit in jeder Bewegung, vom kurzen
raschen Kopfnicken bis zum Aufsetzen
des Fußes, aber ich möchte zweifeln,
daß das Ganze gesund, stetig und das
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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
516
Ergebnis eines, wie Herbert Spencer
sagen würde, wohlgeordneten Organis¬
mus ist.“ Er sollte dem Kaiser noch
mehrmals begegnen.
Die Wahlen 1892 unterbrachen die
konservative Herrschaftsperiode durch
einen Zufallserfolg der Liberalen; die
liberale Mehrheit war aber so gering,
daß das Kabinett von vornherein kei¬
nen festen Boden unter den Füßen
fühlte. Dazu kam, daß die liberale Par¬
tei nicht besser als zuvor gerüstet war,
vielmehr dauerte der Zersetzungspro¬
zeß an. Gladstone, jetzt 83 Jahre alt,
übernahm noch einmal die Leitung; es
war tragisch zu beobachten, wie die
eigene Partei ihn als Hindernis zu betrach¬
ten begann. Morley bezeichnet als seine
Aufgabe, das seinige zu tun, damit das
große Licht, wenn nicht in Glanz, so
doch in Ehren ausging. Er wurde wie¬
der Staatssekretär für Irland mit dem
vollen Vertrauen der Iren. Sein Tage¬
buch enthält Einzelheiten, die sowohl
für die irischen Zustände wie für ihn
selbst bezeichnend sind; beim Besuche
eines Gefängnisses fiel ihm die In¬
schrift „Gott ist die Liebe“ als un¬
passend auf, und beim Verlassen des
Hauses beschäftigte ihn der Gedanke:
Warum bin ich in Freiheit und die
dadrin im Gefängnis? Im Parlament
wurde die Home-Rule-Bill abermals
eingebracht, im Unterhause angenom¬
men, im Oberhause verworfen; Glad¬
stone wollte alsbald an das Land ap¬
pellieren, die anderen Kabinettsmitglie¬
der waren dagegen, weil sie ein aber¬
maliges Schisma innerhalb der Partei
besorgten. Das war der Anfang vom
Ende der Führerschaft Gladstones; das
Ende kam, als Earl Spencer als erster
Lord der Admiralität eine bedeutende
Vermehrung der Flotte verlangte. Glad¬
stone sie ablehnte und die Mehrheit
des Kabinetts gegen ihn entschied.
I Hierbei kam ein tiefer liegender Pro¬
zeß im Schoße der liberalen Partei zum
Durchbruch: die imperialistische Welle,
die durchs Land ging, drang jetzt ins
Kabinett ein und unterwühlte den von
Gladstone eingenommenen Standpunkt.
Eine der intimsten Schilderungen in
den Erinnerungen ist die der letzten
Kabinettssitzung, in der Gladstone den
Vorsitz führte; der greise Staatsmann
gab die Erklärung ab, daß nun, wo ein
Zusammenarbeiten in Ehren nicht län¬
ger möglich sei, sie wenigstens in Eh¬
ren auseinandergehen wollten. Seine
letzten Worte in amtlicher Stellung,
kaum lauter als ein Atemzug gespro¬
chen und doch so, daß jeder Ton ver¬
nehmbar war, lauteten: Gott segne
euch alle! Als Nachfolger wurde Lord
Rosebery, der liberale Imperialist, aus¬
ersehen, dessen persönlicher Reiz in
Morleys Zeichnung deutlicher in Er¬
scheinung tritt als seine staatsmänni-
schen Fähigkeiten; er besaß, bemerkt
Morley, wie kein zweiter das, was die
Franzosen „Esprit“ nennen, wofür es
ein englisches Wort nicht gäbe. Bereits
1895 fand die liberale Episode ein Ende.
Mit der Rückkehr der Konservativen
begann die Hochflut des Imperialis¬
mus; Morley bekennt seine Stellung¬
nahme, indem er eine Äußerung Glad¬
stones «zitiert: Die Geschichte der Na¬
tionen sei ein melancholisches Kapitel,
die der Regierungen aber erst gar einer
der unmoralischsten Abschnitte in der
Geschichte. Die Verwicklungen, die in
den Burenkrieg führten, veranlaßten
ihn, ein Büchlein über Machiavelli(1897)
zu schreiben, in dem er Klage erhebt,
daß der Machiavellismus noch einen
starken und dauernden Einfluß ausübe,
und daß Kraft, Wille, Gewalt ohne
Widerstand in der Welt noch aufrecht¬
erhalten blieben, entgegen der Gerech¬
tigkeit, dem Gewissen der Menschlich-
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Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
518
keit und dem Recht. Die treibende Kraft
in der Gegenpartei war jetzt kein an¬
derer als Morleys einstiger Busenfreund
Chamberlain; Morley rühmt den Adel
seiner Sprache, die Echtheit seiner Emp¬
findungen und legt sich das politische
Geschehen am Ende so zurecht, daß an¬
dere am Ausbruch des Burenkrieges
Schuld gehabt hätten. Als später ein¬
mal Chamberlain ihn fragte: „Wo glau¬
ben Sie, daß wir damals gefehlt ha¬
ben?“ erwiderte Morley: Milner habe
die Schuld, als er die Unterredung mit
Krüger in Bloemfontein vor dem Krieg
beim ersten Streitpunkt abbrach, und
fügte hinzu: „Wären Sie dort gewesen,
Sie hätten dem alten Herrn den Tabak¬
topf hingeschoben, eine Pause zum
Nachdenken vorgeschlagen und es wäre
zu einer Einigung gekommen.“ Die Er¬
innerungen führen im folgenden von
den großen Weltereignissen ab; dafür
läßt uns Morley hinter die Kulissen der
liberalen Parteileitung blicken, wo die
alte Generation endgültig abgewirt¬
schaftet hatte. Lord Rosebery zog sich
von der Führerstelle zurück, weil ihm,
wie es heißt, nicht der besondere Bei¬
stand zuteil wurde, ohne den ein Peer
keine Aussicht habe, erfolgreich in der
Führerschaft durchzuhalten; Sir Simon
Harcourt folgte ihm wenig später in
den Ruhestand. Als neuer Führer stellte
sich Sir Henry Campbell-Bannermann
zur Verfügung, von dem Morley die
Prinzipientreue rühmt. Die Wahlen von
1900 bedeuteten eine Billigung der mi¬
nisteriellen Politik; also, schreibt Mor¬
ley, hatten wir bis 1905 zu warten, um
das Ende unserer Uneinigkeit und die
scheinbare Wiederherstellung gesunder
und erprobter Grundsätze zu erleben.
Der Wahlerfolg der Liberalen war
nie größer gewesen als im Jahre 1905;
die große Stunde fand aber keinen gro¬
ßen Mann. Campbell-Bannermann war
vorgeschoben, weil kein Besserer ver¬
fügbar war, und nur insofern darf Mor¬
ley ihn als unersetzlich bezeichnen.
Das geringe Gewicht des Führers hatte
für die Partei das Gute, daß eine junge
Generation rascher, als es sonst möglich
gewesen wäre, zur Geltung gelangte;
seit 1886 hatte sie sich einzuarbeiten
begonnen. Wir kennen die Namen: As-
quith, Grey, Haldane, Lloyd George,
sie alle betreten jetzt die Bühne. Der
Leser der „Erinnerungen“ spürt es bald
heraus, Morley fühlte sich dieser Gene¬
ration innerlich nicht mehr nahe; mit
Asquith und Grey trat er wohl noch
in näheren Verkehr, den bedeutendsten
von allen, Lloyd George, übergeht er be¬
zeichnenderweise mit Stillschweigen.
Das Programm dieser Jüngsten fügte
sich in das seinige nicht mehr ein; im
besonderen der verstärkte soziale Ein¬
schlag deckte sich nicht mit seinen libe¬
ralen Grundanschauungen. Gewiß, er
durfte mit Harcourt sagen: „Wir alle
sind heutzutage Sozialisten“, aber das
war ein Sozialismus der Gesinnung, der
sich von der praktischen Betätigung
eines Lloyd George doch recht sehr un¬
terschied. Gleichwohl entzog er sich
der Mitarbeit nicht und nahm diesmal
den Posten eines Staatssekretärs für In¬
dien an; es scheint, daß man seine milde
Gesinnungsart und seinen Gerechtig¬
keitssinn stets dort am besten zu ver¬
wenden meinte, wo es im Reiche die
schwierigsten Verwaltungsprobleme zu
lösen galt. Morley macht es sich in sei¬
nem Bericht über dieses Kapitel seiner
dienstlichen Tätigkeit leicht, indem er
fast nur Auszüge aus Briefen, die er an
den Vizekönig von Indien, Lord Minto,
gerichtet hatte, aneinanderreiht; der
Wert seines Beitrages zur Reichsge¬
schichte wird dadurch nicht gemindert.
Er beginnt mit folgender Einführung:
„Die fünf Jahre, die ich an der Spitze
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519
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
520
des indischen Amtes verbrachte, be-
zeichneten einen schwierigen Zeitpunkt
in der Geschichte desjenigen imperia¬
listischen Problems, das das heikelste
ist und bleiben muß. Momentane Um¬
stände und Zwischenfälle hatten stets
schwierig gewesene Fragen plötzlich
dringlich gemacht. Von tiefer Bedeu¬
tung war das Sichtbarwerden einer
Welle politischer Unruhen, die sich aus
verschiedenen Gründen langsam über
ganz Indien verbreitete. Revolutionäre
Stimmen, teils gemäßigt, teils heftig,
ließen sich klar und scharf erkennen,
und Ansprüche oder Bestrebungen, um
den Anteil der Bevölkerung an ihrer
eigenen Regierung auszudehnen, nah¬
men immer deutlichere Formen an."
Das Zusammentreffen der Gärung in
Indien mit dem Emporkommen parla¬
mentarischer Gruppen in England, die
alle nach Reformen verlangten, hatte
eine wechselseitige Beeinflussung zur
Folge; indische Extremisten lernten die
Forderungen der englischen Radikalen
kennen, während zurückkehrende Anglo-
Inder von dem Verlangen der indischen
Bevölkerung Kenntnis gaben. Weiter
heißt es zur Kennzeichnung der Lage
in Indien: „Der Wechsel in den letzten
zwölf Jahren war enorm; sogar der
Wunsch nach vollkommener Unabhän¬
gigkeit begann die Einbildung der Ju¬
gend zu beschäftigen. Es wäre ein ver¬
hängnisvoller Fehler, anzunehmen, daß
diese Bewegung auf die Lehren politi¬
scher Agitatoren beschränkt blieb; be¬
sonders unter den Studenten, zumal
denen Vorder-Indiens, griff sie um sich.
Von einer Wiederholung des furchtba¬
ren Militäraufstandes war nicht die
Rede; die Gefahr drohte diesmal von
unterrichteten, mit modernen Ideen aus¬
gerüsteten Männern; die Siege Japans,
die revolutionäre Bewegung in der Tür¬
kei, in China, in Persien waren nicht
spurlos vorübergegangen. Wir hatten
das seltsame Schauspiel vor uns, daß
in gewissen Teilen Indiens Männer sich
betätigten, die gleichzeitig zu reaktio¬
nären und revolutionären Methoden Zu¬
flucht nahmen; sie boten wilden Gott¬
heiten Gebete und Opfer an und' ver¬
klagten gleichzeitig die Regierung in
aufrührerischen Zeitungen, derart pri¬
mitiven Aberglauben in der modernen
Form von Leitartikeln predigend.“
Scharf setzt sich Morley mit der kon¬
servativen Politik in Indien und der
Leitung des vorangehenden Vizekönigs
Lord Curzon auseinander; dieser habe
die allgemeine Loyalität erkältet durch
seine ausgesprochene Zentralisations¬
politik, durch sein Beschneiden, wie die
Inder es ausdrückten, der liberalen
Grundsätze und Versprechungen der
Proklamation Königin Viktorias von
1858, durch seine offen erklärte Ge¬
ringschätzung der Maßstäbe indischer
Moral, durch Maßnahmen wie die Tei¬
lung Bengalens entgegen den Wün¬
schen der Bevölkerung. Morley ist be¬
strebt, es anders anzufangen, ein Re¬
formprogramm steht im Mittelpunkt
seiner Tätigkeit. Es hat in seinen „in¬
dischen Reden“ Niederschlag gefun¬
den; in den „Erinnerungen“ ruft er nur
die Grundzüge ins Gedächtnis. Die
Hauptsache war ihm, den gesetzgeben¬
den Körperschaften, sowohl denen, an
deren Spitze die Generalgouverneure
standen, wie denen in den Provinzen
einen wirklich repräsentativen Charak¬
ter zu geben, u. a. durch Vermehrung
der Mitgliederzahl, durch Wahlen an
Stelle von Ernennung, durch eine libe¬
rale Ausdehnung der Freiheit, die Vor¬
lagen zu erörtern. Als bedeutsamste
Gabe faßte Morley die Hinzuziehung
eines Inders zum ausübenden Rat des
Vizekönigs ins Auge, eine Neuerung
von größter Tragweite, insofern bis da-
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PRINCETON UNIVERSITY
521
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
522
hin nur Europäer in diese wichtigste
Behörde aufgenommen waren. Morley
rühmt: auf diese Weise ließe sich eines
der offensichtlichsten Zeichen der Min¬
derwertigkeit beseitigen und den In¬
dern ein neuer Anteil an der Gesetzge¬
bung und Einfluß auf die Verwaltung
verschaffen. Bei alledem blieb Morley
erklärter Anhänger des Reichsgedan¬
kens — unverkennbar ist hier Cham-
berlains Einfluß auf ihn — und ver¬
trat dabei folgenden Standpunkt: Er
lehnte die Übernahme jeglicher neuen
Verantwortlichkeit ab, aber erklärte, auf
keinen Zoll erworbenen Gebietes ver¬
zichten zu wollen. In diesem Sinne
schrieb er an den Vizekönig: „Niemand
wird bereitwilliger und entschlossener
als ich gefunden werden, die Rechte
und den Stand Indiens in den Reichs¬
angelegenheiten aufrechtzuerhalten;
ebensowenig werde ich der Belastung
der indischen Finanzen widerstreben,
wo es sich um eine Reichsangelegen¬
heit und um keine spezielle indische
handelt. In all diesen Dingen werden
Sie mich so eifersüchtig finden, wie
nur irgend jemand es wünschen kann.
Das Kabinett wird aber sicherlich über
jede Sprache oder Handlung erschrecken,
die den Schein erwecken würde, als
wollte sie in der Richtung der Politik
Lord Curzons die Regierung Indiens
als eine Art von Großmacht um ihrer
selbst willen einrichten.“ Die Refor¬
men, beruhigte er den Vizekönig, wür¬
den übrigens keineswegs zu weit gehen:
„Nicht ein bißchen mehr als Sie halte
ich es für wünschenswert oder mög¬
lich oder auch nur denkbar, die politi¬
schen Einrichtungen Englands den In¬
dern anzupassen, wenigstens nicht in
unseren Tagen. Aber der Geist der
englischen Einrichtungen, das ist etwas
anderes; hier können wir nicht aus-
weichen, weil die britischen Wähler¬
schaften die Herren sind, und diese
werden sicherlich darauf bestehen, daß
der Geist ihres eigenen politischen Sy¬
stems auf Indien Anwendung findet.“
Morley hebt dann noch zwei besondere
Aufgaben hervor, die an ihn herange¬
treten sind: die eine war die Prüfung
der militärischen Bedürfnisse, wobei In¬
dien als der Schlüssel des ganzen
Reichs-Verteidigungssys'.ems angesehen
wurde. Auch hier stellt sich Morley in
Gegensatz zu Lord Curzon, der das
Verteidigungssystem Indiens mit dem
einer Festung verglichen hatte. „Ver¬
zeihen Sie mir,“ schreibt er an Lord
Minto, „wenn ich sage, daß ich diese
ganze militärische Analogie mit Fe¬
stung und Glacis für im wesentlichen
irreführend halte. Ich halte sie für feh¬
lerhaft u. a. darum, weil diese Art des
Aufgehens in militärischen Besorgnis¬
sen die besten und tüchtigsten Köpfe
in der Regierung von den gewaltigen
Problemen abzieht, welche außerhalb
dieses Grundplanes einer Festung lie¬
gen. In einem armen Lande wie Indien
ist Sparsamkeit ebensosehr ein Ele¬
ment der Verteidigung wie Kanonen
und Forts.“ Die andere Aufgabe, die an
Morley herantrat, stand im Zusammen¬
hang mit den auswärtigen Angelegen¬
heiten; die indische Regierung wurde
durch den Wechsel des Verhältnisses
zu Rußland berührt. Es herrschte die
Besorgnis, in einem englisch-russischen
Abkommen könnten indische Interessen
preisgegeben werden; das indische Amt
hatte die Aufgabe, zu beschwichtigen
und zu vermitteln. Den Wunsch des
Vizekönigs, vor Abschluß des Abkom¬
mens angehört zu werden, lehnte Mor¬
ley indessen ab; England könne nicht
zweierlei auswärtige Politik treiben;
die frühere Ansicht, daß Indien seine
eigene auswärtige Politik haben müsse,
sei preiszugeben.
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523
Felix Salomon, Lord Morleys „Erinnerungen“
524
Was Morley aus der Heimat berich¬
tet, ist spärlich; man spürt, daß für den
Druck vorsichtig vieles aus den Brief¬
schaften ausgeschaltet worden ist. Ei¬
nige in den Briefen eingestreute poli¬
tische Aphorismen will ich noch zie
sammenstellen: „Bei politischen Reden
hängt der Erfolg von drei Umständen
ab: Wer spricht, was er spricht, wie
er spricht. Von diesen dreien ist, was
gesprochen wird, am wenigsten wich¬
tig.“ „In der Politik soll man alles
ernst, aber nichts tragisch nehmen.“
„Das Wesentliche in der Politik ist
doch immer die Persönlichkeit.“ Amü¬
sant ist ein Bericht Morleys über eine
Unterredung mit König Eduard: „Der
König sagte mir, daß, wenn er sein
Leben sich hätte wählen können, er
gern Landschaftsgärtner geworden
wäre.“ Hierzu bemerkt Morley mit deut¬
licher Kritik: „Sie kennen das inten¬
sive Interesse des Königs für die aus¬
wärtige Politik; es wäre geschmacklos
gewesen, ihn an einen ausgezeichneten
Spruch Bismarcks zu erinnern, daß
nicht einmal der schlimmste Demokrat
wisse, wieviel Nichtigkeit und Scharla¬
tanerie sich hinter der Diplomatie ver¬
berge.“ Als Staatssekretär von Indien
hatte Morley seine zweite Begegnung
mit Kaiser Wilhelm, der im November
1907 in London eintraf. Morley berich¬
tet an Lord Minto: „Ich sah ihn wieder¬
holt in Windsor und war überrascht
von seiner fröhlichen Natürlichkeit, Lie¬
benswürdigkeit und guten Laune. Er
begrüßte mich mit vielen scherzhaften
„Salem aleikum“ und orientalischen
Verbeugungen und fragte mich dann im
Emst über meine Maßnahmen in In¬
dien. Als ich, wie das jeder tun sollte,
von der Unmöglichkeit sprach, über
die Dauer der englischen Herrschaft in
Indien etwas zu sagen, schlug er heftig
mit der Hand aufs Knie und rief, die
britische Herrschaft würde ewig
dauern. Als ich Lord Roberts das er¬
zählte, lachte er und sagte: „Der Kai¬
ser weiß von den Dingen zu wenig.“
Der Kaiser fragte mich auch, wie un¬
sere Arbeitervertreter die indischen Fra¬
gen behandelten. „Nicht so, daß wir
uneins würden“, sagte ich; wieder
schlug er sich aufs Knie und rief: er
wünschte, seine Sozialisten wären ebenso
vernünftig. Der Bericht fährt fort: „Das
allgemeine Urteil der Leute, die ein
Urteil haben können, ist, daß dem Kai¬
ser durchaus kein Platz unter den
Staatsmännern erster Ordnung gebührt,
neben einem Bismarck, Cavour oder
Metternich, auch nicht neben einem
Fuchs wie Leopold von Belgien. Ober¬
flächlich, hastig, impulsiv, nicht rich¬
tig zentriert sind einige der Epitheta.
Aber einen Eindruck hinterließ er bei
allen der meiner Meinung nach ein
goldener Eindruck ist, daß er ernst und
aufrichtig den Frieden will.“ Ein letz-
tesmal sah Morley den Kaiser im Mai
1911: „Gestern saß ich beim Frühstück
bei Haldane neben dem Deutschen Kai¬
ser, Lord Kitchener saß auf der anderen
Seite. Es wird Sie interessieren zu hö¬
ren, daß Se. M. die Unterhaltung mit
lebhaftem Dank für die Freundlichkeit,
die sein Sohn in Indien gefunden, er-
öffnete. Ich glaube nicht, daß ich je
einen Menschen mit so schäumendem
Leben gesehen und der es so eifrig
ieigt und mitteilt. Er sah etwas älter
aus als vor drei oder vier Jahren; er
sprach mit mir über ein neues Buch
von Bischof Boyd Carpenter, das
ihm so gefiel, daß er es übersetzen
ließ und oft daraus abends seinen Da¬
men vorliest, wenn sie sticken oder
stricken. Ich sagte etwas über Hamack
und seine verneinenden Ergebnisse:
.Nicht mehr ganz so verneinend,* ant¬
wortete er, .seitdem ich ihn nach Ber-
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PRINCETON UNIVERSITY
525 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 526
lin gebracht habe.“ Wer mag sagen,
wie viel seiner zweifellosen An¬
ziehungskraft der Tatsache zuzuschrei¬
ben ist, daß er die wichtigste Person
in Europa ist.“
Im November 1910 legte Morley 72-
jährig sein Amt als Staatssekretär nie¬
der, blieb aber auf Drängen von As-
quith als Lord Präsident des Geheimen
Rates im Kabinett. Infolge der Erkran¬
kung seines Nachfolgers Lord Crewe
mußte er das indische Ministerium
nochmals für ein halbes Jahr überneh¬
men. Dann kam für ihn die letzte Auf¬
gabe: Als Führer der Partei im Hause
der Lords die große Verfassungsreform
durchzusetzen, die das Veto der Lords
beseitigte. Ein Wort Carlyles über die
Verdienste und großen Eigenschaften
des englischen Adels, das einer der
Herren ihm vorhielt, führt ihn zur Be¬
merkung, daß die gleichen Eigenschaf¬
ten auch bei den Webern in Lancashire
und den Bergarbeitern von Durham zu
finden seien, und daß vieles leicht sei,
wenn man ohnedies alles habe, was
man brauche. Gegen Macaulays be¬
queme Rede, die Menschheit werde
durdh die oberen und mittleren Klas¬
sen vertreten, hält er den leuchtenden
Gemeinplatz Rousseaus: „Nur das Volk
ist die Menschheit, was nicht Volk ist,
ist so wenig, das es kaum zählt"; allen
Erneuerungskämpfen der Welt vom
Christentum bis zum Sozialismus liege
dieser Gedanke zugrunde; freilich, fügt
er hinzu, „philosophieren ist leicht, eine
uralte festgewurzelte Maschinerie um¬
formen schwer“.
Die Erinnerungen — vor dem Kriege
geschrieben — klingen aus in einem
Epilog, der auf den Krieg Bezug nimmt.
Der viel belesene Verfasser findet dies¬
mal ein Zitat aus Gibbon, um seiner
Stimmung Ausdruck zu geben: „Die
Geschichte ist wenig mehr als ein Re¬
gister der Verbrechen, Tollheiten und
Unglücksfälle der Menschheit.“ Der Ton
ist düster geworden; die Sonne, die
ein langes glückliches Leben durch¬
wärmt hatte, der Glauben an den Fort¬
schritt war untergegangen.
Die Stellung
der physikalisch-mathematischen Wissenschaften
an den deutschen Technischen Hochschulen.
Von F.
Die physikalisch-mathematischen Wis¬
senschaften haben an den deutschen
Technischen Hochschulen mit zwei Aus¬
nahmen (München und Dresden) bis¬
her lediglich die Aufgaben vorberei¬
tender Hilfswissenschaften; ihre Ein¬
wirkung auf die Studierenden hört nach
dem Vorexamen, d. h. nach dem 4. Se¬
mester, auf. Ein Studierender an den
Hochschulen erfährt daher von ihnen
im allgemeinen nicht mehr als die er¬
sten, primitivsten, für die Technik für
unbedingt erforderlich gehaltenen An-
Krüger.
fangsgründe. Die Vertreter dieser Wis¬
senschaften an den Technischen Hoch¬
schulen sind daher nicht in der Lage
wie ihre Kollegen an den Universitä¬
ten, eigene Schüler bis zum Abschluß
des Studiums zu leiten. Der Abteilung
für Allgemeine Wissenschaften, zu der
diese Fächer gehören, hat man die Ab¬
haltung von abschließenden Examina,
vor allem auch das Promotionsrecht
versagt. Sie ist dadurch als eine min¬
derwertige Abteilung im Rahmen der
Technischen Hochschulen charakteri-
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527 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 528
siert, die nur eine Art von Vorschul¬
unterricht zu erteilen hat.
Die Bedeutung der physikalisch-ma¬
thematischen Wissenschaften für das
gesamte Leben der Gegenwart gibt für
eine derartige Ausnahmebehandlung
gegenüber den technischen Fächern
keine Erklärung. Im Gegenteil dürfte es
kaum eine Wissenschaft geben, die zur
Zeit eine in praktischer und theoreti¬
scher Hinsicht an Entdeckungen und
Erfindungen so reiche Epoche erlebt
wie die Physik. Die physikalisch-mathe¬
matischen Wissenschaften stehen daher
an den Universitäten gegenwärtig mit
an erster Stelle, in kaum einer anderen
Disziplin schreitet die Forschung so
schnell und unaufhaltsam vorwärts,
keine zieht wie sie die fähigsten Köpfe
an. Wie kommt es, daß diese Wissen¬
schaften, die eine führende Stellung an
den Universitäten einnehmen, entrech¬
tet sind an den Technischen Hoch¬
schulen?
Der Grund liegt wohl wesentlich
darin, daß man bisher an den Techni¬
schen Hochschulen nur diejenigen Fä¬
cher als vollberechtigte betrachtete, die
in herkömmlicher Weise als technische
angesehen wurden. Durch diese einsei¬
tige Betonung des technischen Fach¬
studiums oder, wie man auch sagen
könnte, des Brotstudiums, ist den Tech¬
nischen Hochschulen viel stärker der
Charakter von Fachschulen aufgedrückt
als etwa den Universitäten. An diesen
genießen auch Fächer, die für die Vor¬
bereitung zu den üblichen Berufen
keine wesentliche Rolle spielen, die
gleiche Stellung wie alle andern, sie
haben das erste und wichtigste Recht
jeder wissenschaftlichen Disziplin, das
der Promotion, also der Ausbildung
ihrer Jünger in eigener wissenschaft¬
licher Arbeit.
Das ist freilich an den Universitäten
auch nicht immer so gewesen, und
es hat eine Zeit gegeben, in der die
Stellung der naturwissenschaftlich-ma¬
thematischen, ja aller sog. philoso¬
phischen Fächer eine ganz ähnliche
war, wie sie es jetzt noch an den Tech¬
nischen Hochschulen ist. Die Univer¬
sitäten waren jahrhundertelang auch
ausgesprochene Fachschulen für das
Studium der Theologie, der Jurispru¬
denz und der Medizin. Damals bildete
die spätere philosophische Fakultät
noch die „facultas artium liberalium“,
die auch nur eine Art Vorbereitung und
Vorstudium für die „höheren Fakul¬
täten“ darstellte: das Studium in ihr
schloß in der Regel mit dem Magister¬
examen ab, das die Vorstufe für den
fast nur in den oberen Fachfakultäten
erworbenen Doktorgrad bildete. Das
wurde erst anders im 19. Jahrhundert,
als die naturwissenschaftlich-mathema¬
tischen Wissenschaften sowohl wie die
philosophisch-historischen zum vollen
Bewußtsein ihrer eigenen Bedeutung
für die Forschung erwachten, vor allem
aber dadurch, daß sie selbst auch zum
Fachstudium für die Lehrer an den
höheren Schulen wurden.
Es ist sehr merkwürdig, daß man
aus dieser historischen Entwicklung
nichts gelernt hat, und daß sich an den
Technischen Hochschulen nun für die
physikalisch-mathematischen Wissen¬
schaften derselbe Entwicklungsgang
mühsam wiederholen muß, den man
an den Universitäten schon einmal sich
vollziehen sah. Das liegt wohl vor al¬
lem an der viel späteren historischen
Entwicklung des technischen Fachstu¬
diums, das nur langsam aus den Ge¬
werbeschulen aufwuchs, so daß es nur
allmählich als gleichberechtigtes Fach¬
studium neben die älteren Fachstudien
der Theologie, Jurisprudenz und Me¬
dizin trat und auch dann noch von
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529 F- Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 530
den älteren Schwestern scheel ange¬
sehen wurde, als es durch seine Erfolge
und seine Bedeutung für das allge¬
meine Leben seine Gleichberechtigung
längst erwiesen hatte. So ist die tech¬
nische Wissenschaft als jüngst gebo¬
rene Tochter der gemeinsamen Mutter
menschlicher Erkenntnis und mensch¬
lichen Könnens außerhalb des ur¬
sprünglichen Mutterhauses aufgewach¬
sen und hat sich ihr eigenes Heim
bauen müssen, in dem ihre Jünger er¬
zogen werden. In der Mannigfaltigkeit
ihrer Sonderfächer ist sie von den äl¬
teren Schwestern am meisten der Me¬
dizin ähnlich, der sie auch in der An¬
lage ihres Studiums darin gleicht, daß
sie die naturwissenschaftlichen Fächer
zu ihrer Vorbildung benötigt. So hätte
nichts gehindert, sie als vollberechtigte
Tochter der gemeinsamen alma mater
der Universität zu adoptieren, was
wohl für beide Teile zum Segen ge¬
wesen wäre. Ihre Jugend und Lebens¬
frische hätte die älteren Schwestern
verjüngt, und sie hätte von jenen das
uneigennützige, ruhelose Forschen und
Erfinden auch ohne Rücksicht auf di¬
rekte praktische Erfolge lernen können.
Die Sonderstellung der Technischen
Hochschulen gegenüber den Universi¬
täten hätte aber von dem Moment an
keinen hinreichenden Grund mehr da¬
für geben dürfen, die physikalisch-ma¬
thematischen Fächer an ihnen im Ver¬
gleich mit den technischen Fächern an¬
ders zu behandeln, als das an den Uni¬
versitäten der Fall war, vor allem ihnen
die Verleihung der Doktorwürde vor¬
zuenthalten, als man die Technischen
Hochschulen vor etwa 20 Jahren auf
die gleiche Stufe akademischer Würde
mit den Universitäten zu stellen
sich bemühte. Denn für ein abschlie¬
ßendes Studium der physikalisch-ma¬
thematischen Fächer an den Techni¬
schen Hochschulen waren alle Vorbe¬
dingungen erfüllt, es waren die er¬
forderlichen Lehrkräfte, Lehrmittel und
Institute vorhanden. Der nächste An¬
laß dafür, diese Gleichstellung für die
physikalisch-mathematischen Wissen¬
schaften nicht durchzuführen, lag wohl
in den unterschiedlichen Promotions¬
bedingungen an den Universitäten und
an den Technischen Hochschulen: die
Würde eines Dr. Ing. kann an den
Hochschulen erst nach Ablegung des
Diplomexamens in einer Fachabtei¬
lung erworben werden, das Doktorexa¬
men an den Universitäten dagegen kann
und wird im allgemeinen ohne ein
vorausgegangenes anderes Examen ab¬
gelegt; nur in dem dem technischen
Studium ähnlichsten Universitätsstu¬
dium, der Medizin, ist auch die Er¬
werbung der Doktorwürde an das vor¬
herige Ablegen des Staatsexamens ge¬
knüpft. Wollte man daher die Gleich¬
förmigkeit der Bedingungen für die
Verleihung des Doktortitels an den
Technischen Hochschulen aufrechter¬
halten, so müßte man auch von den
Studierenden der physikalisch-mathe¬
matischen Wissenschaften die vorherige
Ablegung eines anderen Examens ver¬
langen.
Als solches Fachexamen für diese
Wissenschaften hat man bisher nur das
Oberlehrerexamen angesehen, und an
den beiden fortgeschrittensten Hoch¬
schulen München und Dresden hat man
in der Tat das Oberlehrerstudium in
den genannten Fächern zugelassen und
durch die Ablegung des Oberlehrer¬
examens die Vorbedingung für die Pro¬
motion in diesen Fächern an diesen
Hochschulen geschaffen. Die Regierun¬
gen der übrigen deutschen Staaten,
speziell auch die preußische, haben sich
dagegen bisher gegen die Einführung
des Oberlehrerexamens an ihren Hoch-
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PRINCETON UNIVERSITY
531 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 532
schulen auf das heftigste gesträubt, ob¬
wohl die Anregung dazu von den
Hochschulen immer wieder ergangen
ist. Dieser Widerstand ist schwer zu
verstehen, denn es ist kaum zu bezwei¬
feln, daß ein gewisser Prozentsatz an
Technischen Hochschulen ausgebildeter
Oberlehrer in Physik und Mathematik,
die eine vertiefte Kenntnis der Technik
und ihrer Bedeutung für das Leben der
Gegenwart mitbringen, an den höheren
Schulen nur nützlich wirken könnte.
Der auffallende Mangel technischer
Kenntnisse bei der Mehrzahl der Ge¬
bildeten, die Verkennung der Gleichbe¬
rechtigung des technischen Studiums
mit den älteren Fachstudien haben lei¬
der in dem unglücklichen Kriege eine
verhängnisvolle Rolle gespielt.
Nun aber hat sich im letzten Jahr¬
zehnt allmählich eine Änderung indem
Anwendungsbereich der physikalisch¬
mathematischen Wissenschaften voll¬
zogen, die speziell für ihre Stellung an
den Technischen Hochschulen von aus¬
schlaggebender Bedeutung werden
muß: Die Physik und ebenso die ihr
verwandten mechanisch-mathematischen
Fächer sind selbst zu einem ausge¬
dehnten und bedeutungsvollen Zweige
der Technik geworden. Es hat sich,
durch den Krieg in hohem Maße be¬
schleunigt, eine physikalische Technik
aus den Entdeckungen und Erfindun¬
gen der Physiker selbst entwickelt, die
in rapidem Aufstieg begriffen ist und
sich schon jetzt einen wohlberechtig¬
ten Platz neben den älteren Zweigen
der Technik erworben hat.
Die Technik im allgemeinen beruht
auf physikalischer Grundlage und auf
der Anwendung physikalischer Gesetze;
das gilt in erster Linie für die Elektro¬
technik, aber auch in weitgehendem
Maße für die Maschinentechnik. Doch
haben diese Disziplinen sich verhältnis¬
mäßig unabhängig von der direkten
Mitarbeit der Physik entwickelt; sie be¬
nutzen zudem physikalische Gesetze
und Entdeckungen, die weiter zurück¬
liegen, die neuesten Errungenschaften
der Physik kommen für sie weniger in
Frage. Von einer eigentlichen physi¬
kalischen Technik kann man dagegen
in der optischen Industrie sprechen.
Seitdem der als Physiker, als techni¬
scher Organisator und als sozialer Re¬
formator gleich große E. Abbe die an¬
gewandte Optik auf wissenschaftliche
Grundlagen gestellt und damit die Ba¬
sis für die überragende Entwicklung
der deutschen optischen Industrie ge¬
schaffen hatte, hat die Optik in steigen¬
dem Maße wissenschaftlich ausgebil¬
dete Physiker in ihre Laboratorien her¬
angezogen. Die geometrische Optik, der
vor allem die Berechnung der Linsen
und Linsenkombinationen obliegt, ist
freilich eine Spezialwissenschaft ge¬
worden, die zum Teil ebensosehr der
angewandten Mathematik wie der phy¬
sikalischen Optik angehört und die zum
großen Teil in den Laboratorien der
optischen Industrie selbst entwickelt ist.
Aber daß sie neuer und umfangreicher
Anforderungen, wie sie speziell der
Krieg an sie stellte, in vollem Maße
gerecht werden konnte, beruht doch
wesentlich darauf, daß ihre Physiker
und Mathematiker an den Universitä¬
ten die sicheren Grundlagen ihrer Wis¬
senschaften erworben hatten. Die Ent¬
wicklung mancher neuer Zweige der Op¬
tik, wie der Ultramikroskopie, der Optik
ultravioletter Strahlen usw. mußte auch
von den neuesten Errungenschaften der
wissenschaftlichen Optik Gebrauch ma¬
chen. Das gilt auch für die wesentliche
Grundlage der optischen Technik, die
Glasindustrie. Hier arbeitet die Physik
mit der Chemie Hand in Hand; stellt
diese neue Glassorten her, so hat ihr
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PRINCETON UNIVERSI
533 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 534
jene die Ziele gewiesen und ihre Erfolge
überwacht und geprüft.
An der Grenze zwischen der eigent¬
lichen physikalischen Technik und der
Elektrotechnik liegt die sog. Schwach¬
stromtechnik. Zu ihr gehören in erster
Linie Telegraphie und Te'ephonie. Ihre
moderne Weiterentwicklung erfordert
neben konstruktiv-elektrotechnischer Ar¬
beit in hohem Maße auch die Mitwir¬
kung wissenschaftlich gebildeter Physi¬
ker. Es sei hier z. B. erinnert an die
Verbesserung der Telephonie durch die
Einführung der Pupinspulen, welche
von dem amerikanischen Physiker Pu¬
pin theoretisch errechnet und von Phy¬
sikern der Firma Siemens & Halske
in die Wirklichkeit umgesetzt wurden.
Der Elektronen-Lautverstärker, der von
den Physikern R. v. Lieben in
Deutschland und de Forest in Ame¬
rika erfunden wurde und einen ganz
außerordentlichen Fortschritt mit sich
bringt, ist ebenso wichtig für die draht¬
lose Telegraphie.
Baut sich die Telegraphie und Tele¬
phonie zum Teil noch auf älteren Ent¬
deckungen und Erfindungen der Phy¬
sik auf, so knüpft die physikalische
Technik der drahtlosen Telegraphie an
ihre neueren Errungenschaften, an die
Entdeckungen von Hertz und die Er¬
findungen von Marconi, Braun und
anderen an. Sie ist von Anfang an ein
von den Physikern begründeter und
ausgebauter Teil der Technik gewe¬
sen. Einige ihrer wichtigsten Fort¬
schritte sind aus den physikalischen
Instituten der Universitäten und Tech¬
nischen Hochschulen hervorgegangen,
so das Sendesystem von Prof. Braun
aus dem Institut der Straßburger Uni¬
versität und die Löschfunkenwirkung
oder Stoßerregung von Prof. M. Wien
aus dem Institut der Technischen Hoch¬
schule in Danzig. Hier haben Wissen¬
schaft und Technik stets Hand in Hand
gearbeitet, die letztere aber stets mit
einem großen Stabe wissenschaftlicher
Physiker. Die neueste Methode der
drahtlosen Telegraphie mittels der sog.
Röhrensender benutzt die Entladungs¬
erscheinungen an glühenden Drähten in
evakuierten Röhren, eine physikalische
Erscheinung, von der man ursprüng¬
lich wohl kaum je eine technische An¬
wendung erwartet hatte. Verbunden mit
den auf einer andern Verwendungsart
derselben Röhre beruhenden Lautver¬
stärkern ist durch diese neue Methode
ein ganz außerordentlicher Fortschritt
auf dem Gebiete der drahtlosen Tele¬
graphie sowohl in bezug auf die Reich¬
weite wie die Schärfe der Abstimmung
auf bestimmte Wellenlängen, dann aber
auch auf die Handlichkeit und das
sichere Funktionieren der Apparate er¬
zielt. Mittels der Röhrensender ist fer¬
ner das Problem der drahtlosen Tele¬
phonie im wesentlichen gelöst. Dieses
ganze Gebiet ist unter den Händen der
Physiker in der Technik in rapider
Entwicklung begriffen und läßt noch
weiterhin große Erfolge erhoffen.
Eine andere, aus dem physikalischen
Institut der Universität Würzburg her¬
vorgegangene Entdeckung hat allein
neben einer ungeahnten Erweiterung
und Vertiefung auf wissenschaftlichem
Gebiete einen neuen Teil der physika¬
lischen Technik ins Leben gerufen,
nämlich die Entdeckung der nach ihm
benannten Strahlen durch Professor
Röntgen. Die praktische Anwendung
dieser Strahlen in der Medizin, die
schon vor dem Kriege sehr groß war,
ist während desselben ins außerordent¬
liche gestiegen. Sie erstreckt sich nach
zwei Richtungen, einmal auf die An¬
wendung zu diagnostischen Zwecken,
zur Erkennung von Knochenverletzun¬
gen, Herz- und Lungenerkrankungen,
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PRINCETON UNIVERSITY
535 F- Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 53 $
zweitens auf therapeutische Zwecke,
auf die Behandlung von Hauterkran¬
kungen und inneren Wucherungen. In
dieser Hinsicht sind in den letzten Jah¬
ren außerordentliche Fortschritte erzielt
und weitere mit Sicherheit zu erhoffen
durch die Einführung der Glühkatho¬
denröntgenröhren, die die Verwendung
sehr viel härterer, d. h. durchdringungs¬
fähigerer Strahlen ermöglichen. Auch hier
konnten nur eigentliche Physiker die
technischen Anwendungen ausarbeiten
und leiten, die bald zur Gründung gro¬
ßer und leistungsfähiger Firmen führ¬
ten. Diese Technik hat wieder auf die
reine Forschung günstig zurückge¬
wirkt durch die Konstruktion leistungs¬
fähiger Apparate. So hat sie den Bau
von Funkeninduktoren und Hochspan¬
nungstransformatoren, von Stromunter¬
brechern, Gleichrichtern usw. außeror¬
dentlich gefördert. Neben die medizini¬
sche Anwendung der Röntgenstrahlen
tritt die der Strahlen des Radiums und
Mesothoriums und der ultravioletten
Strahlen. Auch andere Gebiete der Elek¬
tromedizin, wie die Diathermie, sind
durch die Arbeit der Physiker ent¬
wickelt. So ist mit einiger Sicherheit
vorauszusehen, daß in Zukunft große
Krankenhäuser Physiker anstellen wer¬
den, wie das von der gynäkologischen
Klinik in Freiburg L B. vorbildlich be¬
reits geschehen ist, da die Mediziner
selbst bald nicht mehr imstande sein
dürften, die ganze Technik in der An¬
wendung dieser Apparate völlig zu be¬
herrschen.
Als physikalische Technik ist ferner
die Glühlampentechnik anzusehen. Hier
hat die Physik freilich weniger die erste
Erfindung als die systematische Ent¬
wicklung im Sinne der immer mehr
gesteigerten Ökonomie gebracht. Dafür
waren ein sicherer Leitstern die Strah¬
lungsgesetze von W. Wien, die auch
die Ziele der Leuchttechnik für die
Zukunft in klarer Weise bestimmen.
Für die Glühlampentechnik, ebenso
aber auch für die Herstellung von
Röntgenröhren und von den oben er¬
wähnten Röhrensendem und Verstär¬
kerröhren spielen die Luftpumpen eine
große Rolle. Hier haben die Konstruk¬
tionen des Professors Gaede außer¬
ordentliche Fortschritte gebracht. Es ist
überaus interessant zu sehen, wie bei
ihnen Lehrsätze der kinetischen Gas¬
theorie, der man früher nicht einmal
eine theoretische Berechtigung zuge¬
stehen wollte, eine praktische, tech¬
nisch wichtige Anwendung gefunden
haben.
Es gehört auch hierher die Technik
des Apparatebaues für die verschie¬
denen Zwecke, für elektrische, meteoro¬
logische Messungen, für Zwecke der
Luftschiffahrt und vieles andere. Eine
vorzügliche Übersicht findet sich in
dem Vortrage von W. Wien „Physik
und Technik“ (Vorträge über die neue
Entwicklung der Physik und ihrer An¬
wendungen; bei J. A. Barth, Leipzig
1919). Die mannigfachen Anwendungen
physikalischer Methoden in der chemi¬
schen Technik seien auch noch nach¬
drücklich erwähnt.
So ist allmählich eine physikalische
Technik entstanden, deren ganze Ent¬
wicklung in hohem Maße der chemi¬
schen Industrie ähnelt, die auch, ur¬
sprünglich aus den Entdeckungen und
Erfindungen der wissenschaftlichen La¬
boratorien der Universitäten hervorge¬
gangen, durch eigene technische und
wissenschaftliche Betätigung ins au¬
ßerordentliche gewachsen ist
Diese Ähnlichkeit besteht ferner auch
darin, daß ursprünglich die Chemie,
wie zur Zeit noch die Physik, ihre
wissenschaftlichen Leiter und Mitar-
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PR1NCET0N UNIVERSITY - *
537 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 538
beiter ausschließlich von den Universi¬
täten beziehen mußte, wo ihnen der
Doktortitel das Zeugnis vollendeter
Ausbildung gegeben hatte. Zwar er¬
reicht die Zahl der in der physikali¬
schen Technik tätigen Physiker noch
nicht die Zahl der in der chemischen
Technik angestellten Chemiker, entspre¬
chend der späteren Entwicklung der
physikalischen Technik, aber sie ist
doch schon sehr erheblich und ständig
in stärkstem Steigen begriffen. So sind
tz.B. bei der Firma Zeiß etwa 35 wis¬
senschaftliche Physiker angestellt, bei
Siemens & Halske etwa 55Physiker
z. T. in leitenden Stellungen tätig.
Ebenso haben die anderen physikali¬
schen Firmen, wie die optische An¬
stalt Goerz, die Allgemeine Elektrizi¬
tätsgesellschaft, die Gesellschaft für
drahtlose Telegraphie (Telefunken), die
Fabriken physikalischer Meßgeräte usw.
einen stattlichen Stab von Physikern zu
ihrer Verfügung. Aber auch die großen
chemischen Fabriken können die physi¬
kalische Mitarbeit nicht mehr entbeh¬
ren und haben sich physikalische La¬
boratorien mit einer größeren Anzahl
von Physikern eingerichtet, so die ba¬
dische Anilin- und Sodafabrik, die Far¬
benfabriken von Bayer & Co., Elberfeld,
und viele andere. Zur Zeit ist der Be¬
darf der Technik an Physikern so groß,
daß er auch nicht entfernt gedeckt wer¬
den kann. Man hat fast den Eindruck,
als ob während des Krieges der Tech¬
nik, nicht nur der in Blüte geschosse¬
nen physikalischen, sondern auch der
der verschiedensten Nachbargebiete,
fast blitzartig die Erkenntnis aufge¬
gangen wäre, wie nützlich und not¬
wendig für sie die Mitarbeit der Phy¬
siker ist.
Deutlich zutage tritt die eben ge¬
schilderte Entwicklung auch in der so¬
eben auf Anregung von Dr. G. Gehl¬
hoff erfolgten Gründung der Gesell¬
schaft für technische Physik, in der sich
schon jetzt gegen 500 in der Technik
stehende Physiker zusammengefunden
haben und die eben eine eigene Zeit¬
schrift für technische Physik heraus¬
zugeben beginnt.
Die zur Zeit in der physikalischen
Technik stehenden Physiker sind bis¬
her ausschließlich auf Universitäten
ausgebildet und haben dort ihren Dok¬
torgrad erworben, ebenso wie viele der
in der chemischen Industrie tätigen Che¬
miker. Aber für die Chemie sind die
Universitäten schon lange nicht mehr
die einzigen Ausbildungsanstalten,
schon längst hat man den Technischen
Hochschulen chemische Abteilungen, in
denen die Chemiker eine abgeschlos¬
sene Bildung und den Dr.-Ing.-Titel er¬
werben können, angeschlossen, aus¬
gehend von dem Gedanken, daß an
den Technischen Hochschulen die Aus¬
bildung für einen so wesentlichen Teil
der Technik, wie ihn die Chemie bil¬
det, nicht fehlen dürfe. Indem man
diese Ausbildungsmöglichkeit für Che¬
miker usw. auch an den Technischen
Hoch.'»chulen schuf, hatte man vor al¬
lem im Auge, den jungen Chemiker an
den Hochschulen auch mit den An¬
fangsgründen der Elektrotechnik und
der Ingenieurwissenschaften vertraut zu
machen, deren er in der Praxis ja oft
genug bedarf; sonst unterscheidet sich
der Bildungsgang des Chemikers an
einer Technischen Hochschule kaum
von dem an der Universität, nur daß
jener in einem Diplomexamen vor der
Doktorprüfung seine Kenntnisse in
der Chemie und den nächstbenach¬
barten technischen Fächern nachweisen
muß.
Die Chemie bildet an den Techni¬
schen Hochschulen auch ein einleiten¬
des Unterrichtsfach für sämtliche an-
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PRINCETON UNIVERSITY
539 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 540
deren Abteilungen der Hochschule. Aber
man hat nie daran gedacht, nun die
Tätigkeit ihrer Vertreter hierauf zu be¬
schränken und ihnen die volle, mit
einem Examen abschließende Ausbil¬
dung von Chemikern vorzuenthalten.
Dazu lag die technische Bedeutung der
Chemie zu klar zutage, ebenso die
Nützlichkeit allgemein technischer
Kenntnisse wenigstens für einen Teil
der Chemiker.
Die andersartige Stellung der Phy¬
sik an den Technischen Hochschulen
mochte vielleicht vor 10 Jahren noch
berechtigt erscheinen. Heute ist sie es
gewiß nicht mehr. Die hohe Blüte der
physikalischen Technik wie der außer¬
ordentlich starke Bedarf derselben an
Physikern ergibt die selbstverständ¬
liche Forderung, der Physik genau wie
der Chemie die volle durch Examina
abgeschlossene Ausbildung ihrer Schü¬
ler auch an den Technischen Hoch¬
schulen zu ermöglichen, d. h. ihr das
Recht zur Einführung eines Diplom¬
examens in Physik oder technischer
Physik zu erteilen, das die Vorbedin¬
gung zur Ablegung der Doktorprü¬
fung bildet.
Diese aus der Entwicklung der phy¬
sikalischen Technik mit Notwendigkeit
folgende Forderung nach einem Di¬
plomexamen in Physik an den Techni¬
schen Hochschulen löst nun in einfach¬
ster und vor allem natürlichster Weise
das oben berührte Problem der Stel¬
lung der physikalisch-mathematischen
Wissenschaften an den Technischen
Hochschulen. Mit der Einführung des
physikalischen Diplomexamens treten
sie gleichberechtigt neben die älteren
Schwestern der technischen Wissen¬
schaften. Hier müssen aber ausdrück¬
lich die mathematischen Wissenschaf¬
ten mitgenannt werden, denn auch sie
haben stets steigende Bedeutung für
die Technik gewonnen. Vor allem hat
die zwischen Physik und Mathematik
stehende Mechanik, der wegen der Aus¬
dehnung ihres Gebietes eine Sonder¬
stellung neben der Physik zukommt,
eine von der eigentlichen Ingenieur¬
tätigkeit losgelöste Bedeutung für die
Technik gewonnen, so vor allem in der
Anwendung der Kreiseltheorie einen
ständig wachsenden Bereich technischer
Anwendungen; so sei erinnert an den
Kreiselkompaß, den Schiffskreisel, die
Kreiselwirkung der Propeller an Flug¬
zeugen, der Räder von Eisenbahnen, ein
die Einschienenbahn, an den Torpedo¬
kreisel und manche andere technische
Anwendungen des Kreisels. Die Tech¬
nik bedarf für diese Zwecke speziell
in angewandter Mechanik ausgebilde¬
ter, im übrigen vor allem mit höheren
physikalischen und mathematischen
Kenntnissen, als sie für den Maschinen¬
ingenieur notwendig sind, ausgerüste¬
ter Ingenieure. Aber auch an ange-
wandtenMathematikem, die weitgehende
Kenntnisse der Physik und Mechanik
besitzen, hat die physikalische Technik
erheblichen Eedarf, so besonders die
optische Industrie für die Berechnung
von Linsenkombinationen.
Das Studium der Physik an einer
Technischen Hochschule wird sich dann,
wie das jetzt schon bei der Chemie der
Fall ist, von dem an einer Universität
in der ganzen Anlage nicht wesentlich
unterscheiden; äußerlich wird es sich
dem Studiengang der übrigen techni¬
schen Fächer an der Technischen Hoch¬
schule ebenso wie das Studium der
Chemie dadurch anpassen, als es die
Ablegung eines Vorexamens nach vier
Semestern und die Ablegung der Di¬
plomprüfung vor der Doktorprüfung
voraussetzt. Das Studium der Physik
bietet aber für den Physiker, der in die
Technik gehen will, ähnlich wie das
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PRINCETON UNIVERSITÄT^"* -
541 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 542
chemische Studium an einer Techni¬
schen Hochschule für den Chemiker,
den Vorteil, die nächstbenachbarten
technischen Fächer, die für ihn von er¬
heblicher Wichtigkeit sind, besser ken¬
nen zu lernen und studieren zu können,
als das an einer Universität im allge¬
meinen möglich ist. Es ist dies vor al¬
lem das Gebiet der Schwachstromtech¬
nik, besonders die Lehre vom Wechsel¬
strom und von den elektrischen Schwin¬
gungen, dann aber überhaupt das Ge¬
biet der Elektrotechnik, das ein Prü¬
fungsfach im Diplomexamen für Phy¬
sik bilden wird. Ferner darstellende
Geometrie und die Grundlagen des Ma¬
schinenbaues, die Thermodynamik der
Wärmekraftmaschinen und manches an¬
dere, was der Physiker von der In¬
genieurwissenschaft brauchen kann.
Überhaupt wird der engere Zusammen¬
hang zwischen Technik und Techni¬
schen Hochschulen manche erwünschte
Anregung auch dem Physiker bieten.
Es sei aber hier zur Vermeidung von
Mißverständnissen nachdrücklich darauf
hingewiesen, daß dies Diplomexamen
in Physik wohl zu unterscheiden ist
von dem der Prüfung für „Labora¬
toriumsingenieure“, die an manchen
Hochschulen in der Abteilung für Ma¬
schinenbau schon seit langem einge¬
führt ist. Der „Laboratoriumsingenieur“
soll ein völlig ausgebildeter Maschinen¬
ingenieur sein, der nur mit den für
einen Ingenieur wichtigsten physikali¬
schen Messungen an Maschinen sich be¬
sonders vertraut gemacht hat. Der tech¬
nische Physiker hat dagegen in erster
Linie eigentliche Physik zu studieren
und ihre Hilfswissenschaften. Das Ge¬
biet der experimentellen und theoreti¬
schen Physik ist aber so groß gewor¬
den, daß der Studierende selbst davon
nur einige Teilgebiete eingehender stu¬
dieren, sich von dem Gesamtgebiet aber
nur einen Überblick aneignen kann. Die
angrenzenden Fächer der Ingenieur¬
technik können nur den Charakter von
Nebenfächern haben. Den wichtigsten
Teil der Ausbildung des technischen
Physikers wird eine möglichst selb¬
ständige wissenschaftliche experimen¬
telle Arbeit bilden müssen; für den
technischen Mechaniker oder Mathe¬
matiker eine wissenschaftliche theore¬
tische Arbeit auf diesen Gebieten.
Die Erhebung der physikalisch-mathe¬
matischen Wissenschaften an den Tech¬
nischen Hochschulen zu Fächern mit
abschließenden Examina wird aber wei¬
terhin für die physikalische Wissen¬
schaft sowohl wie für die physikali¬
sche Technik segensreich werden. Die
z. T. ausgezeichneten Einrichtungen der
physikalischen Institute an den Tech¬
nischen Hochschulen können bisher in
keiner Weise voll ausgenutzt werden,
solange nur der Institutsdirektor, viel¬
leicht noch ein Extraordinarius und ei¬
nige Assistenten, selten noch ein Pri¬
vatdozent darin wissenschaftlich arbei¬
ten. Ein großer Teil der wertvollen
Apparate steht unbenutzt in den
Schränken. Die Einführung der genann¬
ten Examina für Physik würde auch
in den physikalischen Instituten der
Technischen Hochschulen ein ähnlich
reges wissenschaftliches Arbeiten zur
Folge haben, wie es in den Instituten
der Universitäten schon lange herrscht.
Die wissenschaftliche physikalische Pro¬
duktion würde sich in sehr erwünsch¬
ter Weise heben. Dann würde auch der
Physikprofessor an einer Technischen
Hochschule die Möglichkeit haben, mit
Hilfe von Schülern ein größeres Ge¬
biet systematisch durchforschen zu kön¬
nen, was ihm bis jetzt verwehrt ist.
Die Steigerung in der Zahl der wis¬
senschaftlich ausgebildeten Physiker
und die damit verbundene Steigerung
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PRINCETON UNIVERSITY
543 F- Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 544
in der wissenschaftlichen Produktion
auf physikalischem Gebiete kann aber
von ganz außerordentlicher Bedeutung
für die bevorstehende Entwicklung der
physikalischen Technik werden. Die
Verhältnisse liegen hier zur Zeit ganz
analog wie einstmals zur Zeit der Ent¬
wicklung der chemischen Technik. Die
überragende Stellung der deutschen
chemischen Industrie ist in erster Linie
der großen Anzahl wissenschaftlich
ausgebildeter Chemiker und der gro¬
ßen wissenschaftlichen Produktion auf
dem Gebiete der Chemie zu verdanken;
die chemischen Doktorarbeiten bilden
einen wesentlichen Teil der chemischen
wissenschaftlichen Literatur, sie haben
es den führenden großen chemischen
Forschern ermöglicht, ausgedehnte Ge¬
biete systematisch zu bearbeiten. Es ist
fcur Zeit die Möglichkeit gegeben —und
diese Möglichkeit sollte eine voraus¬
sehende Regierung richtig einschätzen
—, durch intensive Förderung des physi¬
kalischen Studiums der deutschen phy¬
sikalischen Technik zu einer ähnlichen
Vormachtstellung zu verhelfen, wie sie
die deutsche chemische Technik bereits
besitzt. Diese Förderung hätte in der
reichlichen Dotierung der physikali¬
schen Institute im allgemeinen zu be¬
stehen, dann aber in dem Ausbau des
physikalischen Studiums an den Tech¬
nischer Hochschulen in der geschilder¬
ten Weise. Da die physikalischen Insti¬
tute an den Technischen Hochschulen
von der Gesamtheit aller physikalischen
Institute an Universitäten und sonstigen
Hochschulen etwa 30% ausmachen, läßt
sich die wissenschaftliche Ausbildung
von Physikern und die wissenschaft¬
liche physikalische Produktion durch
die Einführung abschließender Examina
in Physik an den Technischen Hoch¬
schulen um etwa 30% steigern. Die
chemische Industrie hat, obwohl sie die
glänzendsten eigenen Laboratorien be¬
sitzt, die Ausbildung wissenschaft¬
licher Chemiker und die wissenschaft¬
liche Produktion in den Laboratorien
der Universitäten und Hochschulen so
hoch bewertet, daß sie zur Unter¬
stützung dieser chemischen Institute
einen Fonds von 20 Millionen gesam¬
melt hat; ferner einen Fonds von 2 Mil¬
lionen zur Unterstützung chemischer
Assistenten, um ihnen eine weitere Aus¬
bildung an diesen Instituten zu ermög¬
lichen. Die physikalische Technik fängt
erst eben an, wie z.B. die kürzlich er¬
folgte, schon erwähnte Gründung der
Gesellschaft für technische Physik zeigt,
zum Bewußtsein ihrer eigenen Bedeu¬
tung zu erwachen; sie hat daher so
großzügige Unternehmungen not^micht
ins Werk setzen können. So ist eC^ache
des Staates, den Moment für eine ent¬
scheidende Förderung der physikali¬
schen Technik nicht zu verpassen. Die
aufzuwendenden Mittel dürfen dabei
nicht ausschlaggebend ins Gewicht fal¬
len. Denn eine einzige durch die Wis¬
senschaft hervorgerufene Steigerung
oder Förderung eines Zweiges der phy¬
sikalischen Technik, es seien hier z.B.
die Röntgentechnik und die Technik
der drahtlosen Telegraphie, die Ein¬
führung der Braunschen Schaltung und
der Wienschen Löschfunkenwirkung ge¬
nannt, kompensieren die für die Förde¬
rung der Forschung vom Staat aufge¬
wendeten Kosten so vielfach, daß diese
letzteren neben dem wirtschaftlichen
Gewinn gar nicht in Betracht kommen.
Vielleicht darf man aber von der
Einführung des Physikstudiums an
den Technischen Hochschulen auch eine
günstige Rückwirkung auf die deut¬
sche physikalische Forschung selbst
erwarten. Es ist nicht zu verkennen,
daß in der gegenwärtigen physikali¬
schen Forschung in Deutschland die
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545 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 546
spekulative, theoretisierende Richtung
stark überwiegt, eine Richtung, die in
den Händen der großen Führer außer¬
ordentliche Erfolge gezeitigt hat, die
aber bei einer großen Schar der jünge¬
ren Nachfolger in einen inhaltlosen
Formalismus auszuarten droht. Der Ver¬
gleich der ersten deutschen physikali¬
schen Zeitschrift, der Annalen der Phy¬
sik, mit der entsprechenden englischen
Zeitschrift, dem Philosophical Maga¬
zine, verrät in bedenklicher Weise den
überwiegenden Hang der gegenwärti¬
gen deutschen Physik zur Spekulation
gegenüber dem auf das Anschauliche
eingestellten Wirklichkeitssinn der Eng¬
länder. Man sollte doch in unserer
Zeit das Wort von Helmholtz nicht
ganz vergessen, daß im allgemeinen
„nur derjenige fruchtbar theoretisieren
könne, der eine breite praktische Er¬
fahrung im Experiment hat“. Wenn¬
gleich die ungeheure Zunahme des In¬
haltes der experimentellen und der
theoretischen Physik eine stärkere
Trennung dieser beiden Gebiete zur
natürlichen Folge hat, so erscheint doch
eine gewisse Rückkehr zu dieser älteren
Auffassung gegenüber der allzu stark
ins Kraut geschossenen modernen phy¬
sikalischen Spekulation erwünscht. Es
ist wohl kein Zwpifel, daß die Ein¬
führung des physikalischen Studiums
an den Technischen Hochschulen in
dieser Hinsicht günstig wirken würde.
Der engere Zusammenhang, der zwi¬
schen der lebendigen Wirklichkeit, vor
allem von Technik und Industrie, an
den Technischen Hochschulen im Ver¬
gleich mit den Universitäten besteht,
würde auch das Studium der Physik
an den Hochschulen beeinflussen, die
enge Nachbarschaft der technischen Fä¬
cher würde ein gutes Gegengewicht bil¬
den gegen das Überwuchern grauer
Theorien, die Kenntnis der praktisch-
Intematlonale Monatsschrift
wirtschaftlichen Folgen falscher An¬
sätze auf technischem Gebiet würde
zur Vorsicht mahnen bei der Aufstel¬
lung der Grundannahmen. Ferner würde
der dann möglich werdende Wechsel
des physikalischen Studiums zwischen
Universitäten und Technischen Hoch¬
schulen den Studierenden die Vorteile
beider zuteil werden lassen.
Die Einführung abschließender Exa¬
mina in den physikalisch-mathemati¬
schen Wissenschaften und der damit
erst ermöglichte volle Betrieb der Lehre
und der Forschung in diesen Gebieten
an den Technischen Hochschulen würde
aber vor allem auch auf die techni¬
schen Abteilungen von erheblicher, an¬
regender Wirkung sein, von einer,
wenn auch im Umfang geringeren, so
doch ähnlichen Wirkung, wie sie die
philosophische Fakultät auf die Ge¬
samtheit der Fakultäten der Universi¬
täten hat. F. PauIsen (Die deutschen
Universitäten, für die Universitätsaus¬
stellung in Chicago 1893, herausgege¬
ben von W. Lexis, Berlin 1893) sagt
hierüber: „In den philosophischen Fa¬
kultäten kommt der Charakter der deut¬
schen Universität als Pflanzschule der
wissenschaftlichen Forschung am be¬
stimmtesten zur Erscheinung; von ihnen
werden auch die übrigen Fakultäten
stets nach dieser Seite hingezogen.“
So könnte der Einfluß der Abteilun¬
gen für Allgemeine Wissenschaften an
den Technischen Hochschulen, und zwar
Sn erster Linie der physikalisch-mathe¬
matischen Fächer, die in vieler Hin¬
sicht, wie schon betont, ungünstige
Wirkung der Loslösung der Techni¬
schen Hochschulen von den Universi¬
täten kompensieren. Die Anregung zu
wissenschaftlicher Forschung wäre hier
für die technischen Abteilungen nur in
weiterem Sinne zu verstehen als An¬
regung zu produktiver Arbeit über-
18
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PRINCETON UNIVERSITY
547 F. Krüger, Die Stellung d. phys.-math. Wiss. an d. deutsch. Techn. Hochschulen 548
haupt, die ja in den technischen Ab¬
teilungen zum großen Teil auch auf
konstruktivem Gebiete liegt, in der
Architekturabteilung auf künstleri¬
schem. Ihre Wirkung würde sich in
gleicher Weise auf Professoren wie
Studierende erstrecken. Ihr bisheriges
Fehlen infolge der Unabgeschlossen¬
heit des physikalisch-mathematischen
Lehr- und Forschungsbetriebes an den
Technischen Hochschulen ist zweifel¬
los in hohem Maße von ungünstigem
Einfluß auf die Entwicklung der Tech¬
nischen Hochschulen gewesen. Der
Mehrzahl der Studierenden an densel¬
ben mußten die physikalisch-mathema¬
tischen Fächer, welche die Grundlage
ihres Fachstudiums bilden, als neben¬
sächlich und mit dem Vorexamen für
sie als ein für allemal erledigt erschei¬
nen, da man diesen Fächern an der
Hochschule ja nur eine untergeordnete
Stellung einräumte. Den besseren un¬
ter den Studierenden fehlte die Anre¬
gung durch die höheren Vorlesungen
in diesen Fächern, die sie in höheren
Semestern zur Vertiefung ihrer theore¬
tischen Forschungen vielleicht gerne
gehört hätten, die aber wegen der feh¬
lenden Abschlußexamina in jenen Fä¬
chern nur ausnahmsweise gelesen wur¬
den. Die fundamentale Bedeutung der
physikalisch-mathematischen Fächer als
Grundlage für alle Gebiete der Tech¬
nik würde den Studierenden weit mehr
einleuchten, wenn sie die Anerkennung
als gleichberechtigte Fächer der Tech¬
nischen Hochschulen gefunden hätten.
Von diesen Gesichtspunkten geleitet,
hatte Verfasser im Sommer 1918 die
Anregung zur Einführung des Diplom¬
examens in den physikalisch-mathema¬
tischen Fächern an den Technischen
Hochschulen gegeben, die, von der Dan-
ziger Hochschule aufgenommen und an
die übrigen Hochschulen weitergege¬
ben, sich zu einem gemeinsamen An¬
träge der preußischen Hochschulen an
das Ministerium im März 1919 ver¬
dichtete. In Dresden waren unabhängig
ähnliche Bestrebungen im Gange.
Die segensreiche Wirkung, die diese
Gleichstellung der physikalisch-mathe¬
matischen Fächer mit den übrigen für
die ganze Entwicklung der Technischen
Hochschulen zur Folge haben würde,
läßt erhoffen, daß diese Bestrebungen
Erfolg haben werden. Vielleicht darf
man sagen, daß viele der Mißstände
oder Unzulänglichkeiten im Lehrbe¬
triebe der Technischen Hochschulen,
die man jetzt mit so vielfachen Re¬
formen zu beseitigen bestrebt ist, da¬
mit von selbst verschwinden werden.
Sollte der erfrischende Impuls, der von
dem Vollbetriebe der physikalisch-ma¬
thematischen Wissenschaften auf die
ganze Art des Hochschulbetriebes not¬
wendig ausgehen würde, noch unter¬
stützt werden durch die Gründung
neuei Institute und Forschungsanstal¬
ten für die technischen Fächer der
Hochschulen, so würde diese verstärkte
Betonung des höchsten Zieles alles
Hochschulunterrichtes, der Anleitungzu
produktiver Arbeit, von selbst mit der
gleichzeitigen größeren Freiheit des Un¬
terrichts stärkere Persönlichkeiten zur
Entwicklung bringen, als sie die zut
Zeit noch im Vordergründe stehende
Überlieferung und Einprägung des Wis¬
sens ermöglicht hat. Die notwendige
Folge aber dieser Maßnahme würde eine
neue Blüte der deutschen Technik sein.
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PRINCETON UNIVERSi
549
Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe
550
Französische Kulturkämpfe.
Von Ernst Robert Curtius.
Im Jahre 1905 schrieb der Züricher
Professor Paul Seippel, wohl unter dem
Eindruck jenes unheilvollen jahrelan¬
gen Bürgerkriegs, den die Dreyfus-Af-
färe für Frankreich bedeutet hatte, ein
Buch, das sich zum Ziel setzte, aus
dem Gesamtverlauf der französischen
Geschichte eine Erklärung für die tiefe
Geistesspaltung zu gewinnen, an der
Frankreich seit der Revolution von
1789 krankt; an der es so gelitten hat,
daß die geistige Einheit der Nation ver¬
loren schien, und daß man von einem
doppelten Frankreich sprechen durfte,
von dem roten Frankreich der Revo¬
lution und dem schwarzen Frankreich
der Gegenrevolution. Seippel nannte
sein Buch, das die französische Öf¬
fentlichkeit lebhaft beschäftigt hat, Les
deux Frances. Diese geistige Spaltung
ist wohl einer der tiefsten geschicht¬
lichen Gründe für alle jene besorgnis¬
erregenden Symptome, aus denen man
in Frankreich während der letzten
Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts viel¬
fach den Schluß zog, die Nation be¬
finde sich im Niedergang. Und auch
als sich in dem Jahrzehnt vor dem
Ausbruch des Weltkriegs das französi¬
sche Lebensgefühl mit neuer Energie
lud, als man aufhörte, von Dekadehz
zu sprechen, konnte man sich doch der
Tatsache nicht verschließen, daß Frank¬
reich in einer inneren Krise begriffen
sei, und daß der Gegensatz des roten
und des schwarzen Frankreich eine
entscheidende Rolle in dieser Krisis
spiele.
Der Nationalökonom Paul Bureau
setzte es sich damals zur Aufgabe, die
Ausdehnung und die Ursachen dieser
Krisis wissenschaftlich zu erforschen
(La crise morale des temps nouveaux,
1907). Für ein tieferes Eindringen in
die politischen und geistigen Lebens¬
probleme des modernen Frankreich ist
sein Buch auch heute noch von uner¬
setzlichem Wert. Bureau ist gläubiger
Katholik, aber objektiv genug, um auch
•die Schäden im eigenen Lager zu sehen,
und um die unheilvollen Wirkungen
des Paktes zwischen Kirche und po¬
litischer Reaktion zu beklagen, der seit
Joseph de Maistres Wort: La rövolu-
tion est satanique dans son essence,
eine so bedeutsame Rolle in Frank¬
reichs innerer Geschichte gespielt hat.
Bureau sieht die Ursache der modernen
Krisis (von der er alle europäischen
Staaten betroffen findet) darin, daß die
Entwicklung des europäischen Men¬
schen mit der Umwälzung aller wirt¬
schaftlichen, politischen, industriellen
Verhältnisse, die das 19. Jahrhundert
brachte, nicht Schritt gehalten hat. Der
Mensch hat den veränderten Anforde¬
rungen gegenüber versagt. Die mo¬
derne Krisis ist eine Krisis des Men¬
schen, und erst sekundär eine Krisis
der Institutionen. Und sie ist nicht nur
eine physiologische und ökonomische,
sondern vor allem auch eine moralische
Krisis. Daher erhebt sich die Frage
nach der moralischen Situation des mo¬
dernen Frankreich.
Bureau versucht zunächst, eine „Bi¬
lanz der Unsittlichkeit" aufzustellen,
wobei ihm seine sozialwissenschaft¬
liche Schulung eine besondere Kompe¬
tenz verleiht. Das Leben des einzelnen
wie das der Gesellschaft zeigt dem Be¬
obachter schwere Schäden: erschrek-
kendes Wachstum des Alkoholismus;
Nachlassen der Sexualmoral; Ehescheu,
18*
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PRINCETON UNIVERSITY
551
Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe
552
Ehebruch, Geburtenbeschränkung; Un¬
ehrlichkeit im Handel; Unehrlichkeit in
den geistigen Kämpfen (das religiöse
wie das freidenkerische Ideal werden
von Interessenten ausgebeutet); brutale
Formen des sozialen Kampfes; Anti¬
militarismus; Nationalismus; Antikleri¬
kalismus; Überspannung des kirchli¬
chen Autoritätsbegriffs; Schwächung
des Bürgersinns; unsaubere Wahlma¬
növer; Angeberei; Pfründenjagd.
Das ist eine lange Liste sittlicher
Schäden. Sie sind nach Bureau zum
großen Teil verschuldet durch syste¬
matische Propaganda unsittlicher Theo¬
rien, die durch die Presse in die bren
ten Massen des Volkes getragen wer¬
den. So wurde 1904 die Association
internationale antimilitariste des tra-
vailleurs gegründet, um die Armee zu
untergraben. Oder Philosophen und
Literaten suchten die Unsittlichkeit der
Ehe nachzuweisen, die schon Naquet
18(69 als eine notwendig zu Laster,
Elend und Tod führende Einrichtung
charakterisiert hatte. Romanschriftstel¬
ler wie die Brüder Margueritte brach¬
ten 1903 in der Kammer einen Antrag
auf Erleichterung der Ehescheidung
ein, die nach dreijähriger Dauer der
Ehe möglich sein sollte, falls einer der
Gatten sie beantragte. Nur wenige Blät¬
ter sprachen sich entschieden gegen
diesen und ähnliche Vorschläge aus,
welche die Ehe durch eine ,Union
libre ‘ ersetzen wollten. Sogar das
offizielle Recht zur Abtreibung wurde
von radikaler Seite gefordert, und der
bekannte Romancier Paul Adam
wünschte, daß alle moralischen und
gesetzlichen Schranken der ge¬
schlechtlichen Promiskuität aufgehoben
werden sollten, ja daß dieser durch
den Staat Vorschub geleistet würde.
Die 1903 gegründete Ligue de la Rö-
gönöration humaine bezweckte, in den
untersten Volksschichten Kenntnisse
über Geburtenverhinderung, ihre Be¬
rechtigung und ihre praktische Durch¬
führung zu verbreiten.
Bureau schloß aus diesen Tatsachen,
daß eine große Zahl von Menschen da¬
hin gelangt sei, moralische Verfehlun¬
gen schlimmster Art als erlaubt und
legitim zu betrachten, und daß hinter
dieser schon sehr großen Gruppe eine
noch erheblich zahlreichere stehe, die
den Immoralismus zwar noch nicht
theoretisch nach außen bekenne, ihm
aber praktisch huldige.
Die Gründe der moralischen Krise
sah Bureau in einem doppelten hun¬
dertjährigen Irrtum, der sich auf die
beiden politisch-geistigen Parteien ver¬
teile, in die Frankreich gespalten sei.
Das rote wie das schwarze Frankreich
— Bureau sprach irenisch von den en-
fants de l'esprit nouveau und den en-
fantf de la tradition — hätten einen
Irrweg beschritten. Der Irrtum der
fortschrittsgläubigen Rationalisten be¬
stand in der — auf die Enzyklopädi¬
sten zurückgehenden — Meinung, daß
sich durch die vernunftgemäße Ein¬
richtung der Gesellschaft das sittliche
Niveau der Menschheit automatisch he¬
ben würde. Der Pflichtbegriff würde
somit überflüssig werden. Schon Hel-
v6tius hatte gemeint, durch gute Ge¬
setze mache man die Menschen tu¬
gendhaft. Und ähnlich schrieb Con-
doroet 1779, um die schlechten Sitten
zu beseitigen, müsse man ihre Ursache
aufheben. Sie hätten nur eine Ursache:
die schlechten Gesetze. Die Revolution,
die in zweieinhalb Jahren über 2500
Gesetze erließ, war des Glaubens, sie
habe die Nation regeneriert. Ehrlichkeit
und Tugend seien an der Tagesord¬
nung, und diese Tagesordnung müsse
ewig dauern (Abb6 Grögoire im Kon¬
vent).
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PRINCETON UNIVERSITY
553
Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe
554
Solchen Anschauungen lag ein un¬
gemessenes Vertrauen auf die Güte
der menschlichen Natur zugrunde. Es
wurde zwar durch die geschichtlichen
Ereignisse der nächsten Jahrzehnte
auch bei den Anhängern der Revolu¬
tionsideale stark erschüttert. Aber sie
fanden einen Ersatz in dem Glauben
an die beglückenden Folgen der natur¬
wissenschaftlichen Aufklärung. Diese
in weiteste Kreise, vor allem in die
Schule, zu tragen, war ein Hauptpro¬
grammpunkt der Linken unter der Juli¬
monarchie und dem zweiten Kaiser¬
reich. Viktor Hugo prägte den Apho¬
rismus: Remplir l'öcole, c’est vider la
prison et Ihospice. Jean Macö gründete
1867 die Ligue de l’Enseignement und
liebte es zu sagen: Nous sommes des
faiseurs de lumUtre sans plus. Geistige
Stützen fand diese Richtung in der
historischen, politischen und philoso¬
phischen Publizistik der Quinet,
Proudhon, Ledru-Rollin, Michelet, Pr6-
vost-Paradol, Buloz. Unter der dritten
Republik wurden die Ideen dieser
Schule getragen von Gambetta, Jules
Ferry, Paul Bert, Spuller, Challemel-
Lacour, Sully Prudhomme, Burdeau,
Buisson.
Der Irrtum dieser Richtung war ihr
Intellektualismus; der Glaube, daß Auf¬
klärung des Verstandes und Bildung
des Denkens ein sicherer Weg zur Er¬
leuchtung und Stärkung des sittlichen
Wollens sei.
Und der Irrtum der Traditionalisten?
Er bestand in der Gleichsetzung der
Sittlichkeit mit der Achtung und Be¬
wahrung der bestehenden Autoritäten.
Die theokratische Denkweise der de
Maistre und Bonald wurde so der ent¬
scheidende Faktor in den politischen,
sozialen und ethischen Anschauungen
der kirchlichen Kreise. Der demokra¬
tische und liberale Katholizismus der
Lamennais, Lacordaire, Gratry mußte
unter dem vereinigten Ansturm der
Gegner von rechts und von links zu¬
sammenbrechen. Der Traditionalismus
war bemüht, eine unüberschreitbare
Kluft zwischen sich und der Entwick¬
lung der modernen Gesellschaft zu be¬
festigen. Graf Albert de Mun erklärte
1878: Le socialisme, c’est la Revolu¬
tion loyique, et nous sommes la Con-
tre-R6uolution irr6conciliable. II n’y a
rien de commun entre nous; mais,
entre ces deux ternies, il n’y a plus de
place pour le lib6ralisme. Die Tradi¬
tionalisten waren zum großen Teil
prinzipielle Gegner nicht nur des so¬
zialen und politischen, sondern auch
des technischen und wissenschaftlichen
Fortschritts. Als Pater Ollivier 1897 in
Notre-Dame über den Brand des Wohl¬
tätigkeitsbasars sprach, benutzte er die
Katastrophe, um sie als Strafe der gött¬
lichen Vorsehung für den Hochmut des
Jahrhunderts zu deuten. Durch ihr kla¬
gendes und verfluchendes Sichabschlie-
ßen von aller modernen Kulturentwick¬
lung wurde die Kirche in Frankreich
immer mehr zum Laudator temporis
acti. Sie entfremdete sich die Massen,
und auch von ihren Anhängern liehen
ihr viele nur noch ein halbes Ohr.
Besonders unter der Jugend waren
viele gutangelegte und begeisterungs¬
fähige Naturen geneigt, die religiösen
Werte zu verkennen, weil sie in dem
Verhalten der kirchlichen Kreise nur
überlebte Vorurteile und Alterserstar¬
rung sahen. Allerdings gab es auch un¬
ter den französischen Prälaten Persön¬
lichkeiten, die die offizielle Stellung¬
nahme der Katholiken beklagten. Der
Bischof Gibier von Versailles sagte 1906
in einem Hirtenbrief: Nous avonsperdu
trente ans ä g6mir, a maudire et ä nous
abstenir. Was für kindische Formen
der Streit zwischen der kirchlich-kon-
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555
Ernst Robert Curtius, Französische Kulturkämpfe
556
servativen und der demokratisch-frei¬
denkerischen („laizistischen“) Partei an¬
nahm, zeigt das Gezänk um den Eiffel¬
turm. Die einen prophezeiten das Mi߬
lingen des Baus, weil er zur Demüti¬
gung der Religion bestimmt sei; die
andern sahen darin triumphierend eine
Revanche für die Geschichte vom ba¬
bylonischen Turm.
Und doch hielt Bureau eine Ausglei¬
chung des Antagonismus, unter dem
Frankreich leidet, für möglich. Er sah
Anzeichen dafür, daß beide Parteien
ihren hundertjährigen Irrtum erkennen
und daß man einer Verständigung
näherkommen würde.
Er konnte darauf hinweisen, daß sich
in den Jahren 1890 bis 1892 in beiden
Lagern, wenn auch vorerst nur inner¬
halb kleiner Kreise, die Erkenntnis
durchrang, das moralische Problem sei
falsch angefaßt worden. Aus dem kon¬
servativen Lager erging am 1. Januar
1890 in der Revue des Deux Mondes
der Aufruf des Grafen Melchior de
Vogüö „An die Zwanzigjährigen“. Paul
Desjardins formulierte 1891 ,Le devoir
präsent'. Leo XIII. gab 1891 in der En¬
zyklika: Rerum Novarum den französi¬
schen Katholiken neue Richtlinien, die
eine Versöhnung mit der Republik ins
Auge faßten. Es war die Politik des
„ralliement", die in Kardinal Lavigerie
eine einflußreiche Stütze fand.
Auch unter den politisch und geistig
Linksstehenden erkannten einige Ein¬
sichtige, daß man einen Wechsel des
Standpunkts vornehmen müsse, und
daß die Fortschritte der modernen Kul¬
tur der moralischen Frage gegenüber
versagt hätten. Man sprach von dem
Esprit Nouveau, in dem Republikaner
und Katholiken sich begegnen könn¬
ten. Der Politiker Spuller definierte in
einer berühmten Rede vom 3. März
1894 diesen neuen Geist, der ein Geist
hochsinniger und weitherziger Toleranz
sein müsse, ein Geist intellektueller und
moralischer Erneuerung, der in völli¬
gem Gegensatz zu den bis dahin herr¬
schenden Parteistandpunkten stehen
solle.
Die öffentliche Meinung war damals,
zu Beginn der 90er Jahre, dem morali¬
schen Problem gegenüber noch indiffe¬
rent. Es wurde nur scheinbar beiseite
geschoben durch die Dreyfuskrise, die
Ende 1894 begann. Seit den ersten Jah¬
ren des 20. Jahrhunderts zog es die
Aufmerksamkeit der Philosophen und
der gebildeten Schichten in steigendem
Maße auf sich. Auch die Gegner der
Traditionalisten gelangten zu der
Überzeugung, daß das Ethische eine
eigene Wertsphäre sei, unzurückführ-
bar auf biologische oder ökonomische
Faktoren. Durch die philosophischen
und soziologischen Arbeiten der Dürk¬
heim, Buisson, S6ailles, Renard, Sorel
wurde der naive Intellektualismus der
älteren Richtung innerhalb der Libre-
Pens6e überwunden. Es zeigte sich fer¬
ner, daß die Inhalte der christlichen
Moral und der konkurrierenden philo¬
sophischen Moralen im wesentlichen
identisch seien. Nirgends wurde ge¬
lehrt, daß Ehebruch oder Diebstahl gut
seien. Besonders L6vy-Bruhl wies auf
diesen Punkt hin (La morale et la
Science des mceurs, 1905).
Diese Ergebnisse bedeuteten eine
nicht zu unterschätzende Annäherung
der beiden feindlichen Parteien. Ein
tiefgehender Gegensatz bestand aller¬
dings in der Frage der Begründung der
Moral. Die Laizisten forderten a priori,
diese Begründung müsse von jeder Re¬
ligion (viele fügten hinzu: auch von
jeder Metaphysik) unabhängig sein. Sie
sahen das „theokratische Gift" darin,
daß die Kirche die Moral abhängig
mache von der Unterordnung unter die
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557
Gustav Htlbener, Samuel Butler der Jüngere
558
Autorität und das Dogma. In deutscher
Begriffssprache ausgedrückt: die christ¬
liche Moral sei nicht autonom, sondern
heteronom. Die Laizisten versuchten
auf zwei Wegen eine neue, außerreli-
giöse und außermetaphysische Begrün¬
dung der Moral: durch den Evolutio¬
nismus (L6vy-Bruhl) und durch den
Solidarismus (Löon Bourgeois). Diese
„wissenschaftliche“ Moral wurde bis¬
weilen mit religiösem Gefühlston vor¬
getragen, und G. Deherme konnte bei
der Eröffnung seiner Volkshochschule
sagen: II faut qae nous prenions la
folie de la solidaritö, comme les mar-
tyrs eurent la folie du Christ.
Der Krieg zwischen Laizismus und
Katholizismus, zwischen Wissenschaft
und Glaube, war im Grunde ein Reli¬
gionskrieg. Die Welle neuer Religiosi¬
tät, die wir heute beobachten, begann
damals heranzufluten. Sogar auf dem
Internationalen Freidenkerkongreß in
Rom 1904 fiel allen Beobachtern die re¬
ligiöse Atmosphäre auf. Und gleichzei¬
tig begann jene starke, noch immer im
Wachsen begriffene Renaissance des
französischen Katholizismus, die für die
heutige Literatur Frankreichs so be¬
zeichnend ist. Für die französischen
Katholiken, die sich nicht an den Tra-
ditionalismus gefesselt hatten, lag also
das Problem so: wird es möglich sein,
die religiösen Energien, die jetzt einer¬
seits an den Wissenschaftsglauben, an¬
derseits an den Kultus der Tradition
gebunden sind, freizumachen für einen
religiös vertieften Katholizismus, der
mit der modernen demokratischen und
sozialen Bewegung Hand in Hand
gehen kann? Würde dies gelingen, so
wäre die unheilvolle hundertjährige
Geistesspaltung überbrückt, und die
„moralische Krise“ der Nation wäre
überwunden.
Wirkungsvolle Bestrebungen zu einer
solchen Einigung der Geister waren in
Frankreich während der letzten Frie¬
densjahre erwacht. Die von hohem Idea¬
lismus getragene katholische und de¬
mokratische Bewegung des Sillon
wurde allerdings durch die kirchliche
Autorität unterdrückt. Die jüngste
Form des Traditionalismus, der Roya¬
lismus der Maurras-Schule, ging ein
neues Bündnis mit dem konservativen
Katholizismus ein. Der Krieg hat diese
Verbindung gefestigt. Das Ergebnis der
Wahlen bedeutet eine Niederlage der
linksstehenden Parteien, wie sie sie seit
Jahrzehnten nicht erlebt haben. Den¬
noch bleibt das moralische Lebenspro¬
blem Frankreichs auch heute noch so
zu formulieren, wie Paul Bureau es vor
zwölf Jahren getan hat.
Samuel Butler der Jüngere.
Von Gustav Hübener.
l.
Es gibt zwei Samuel Butler in der
englischen Literatur: den bekannten Ver¬
fasser von „Hudibras“ (1612—1680) und
einen unbekannteren (1835—1902), den
wir hier zum Gegenstand unserer Be¬
trachtung machen wollen. Auf ihn wies
zuerst Bernhard Shaw hin. Er bekannte
in dem Vorwort zu „Major Barbara",
daß er von entscheidendem geistigen
Einfluß auf ihn gewesen sei. Dieser Sa¬
muel Butler war zu Lebzeiten auch in
England fast völlig unbekannt. Noch
1913 konnte der Literarhistoriker Walker
die Behauptung aufstellen, daß er nie
Aussicht habe, populär zu werden. Dann
brachte der Krieg eine merkwürdige Ver¬
änderung. Zu den wenigen sicheren Fest-
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559
Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere
560
Stellungen, die wir schon jetzt über die
Literaturentwicklung in England wäh¬
rend des Krieges machen können, gehört
die, daß Butler sich heute eines lebhaf¬
ten, ständig wachsenden Interesses er¬
freut. Zwei Bücher sind über ihn er¬
schienen, wie als das mindeste konsta¬
tiert werden kann: das eine von Gilbert
Cannan, das andere von John Harris.
Die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel
über ihn sind zahlreich. Butler wird der
einzige große Satiriker des 19. Jahrhun¬
derts genannt, der Desillusionist des
viktorianischen Zeitalters und als der
Begründer eines neuen Evolutionsglau¬
bens gepriesen.
Die deutsche Wissenschaft weiß bis
jetzt nur weniges über ihn zu sagen.
Kellner 1 ) hat richtig seine Bedeutung
für die Anwendung des theoretischen
Evolutionsgedankens in einer prakti¬
schen Weltanschauung betont, ohne aber
deren Typus näher zu bestimmen. Fehr 2 )
faßte ihn zuletzt unter die Formel einer
Vergeistigung des Darwinismus und gab
nur eine vorläufige, wenn auch wert¬
volle Orientierung.
Samuel Butler wurde am 4. Dezember
1835 geboren auf einer Landpfarre zu
Nottinghamshire. Sein Vater und Gro߬
vater waren Geistliche der Church of
England, der letztere war sogar Bischof;
seine Mutter dagegen war Tochter eines
Zuckerfabrikanten. So zeigt Butlerschon
in seiner Herkunft jene eigentümliche
Mischung von Kaufmännischem und
Geistlichem, die für seine geistige Eigen¬
art charakteristisch ist. Er wurde erzo¬
gen, Geistlicher zu werden, und mit
dieser Bestimmung 1854 nach Cam¬
bridge geschickt. Hier herrschten da¬
mals die Simeoniten, eine Gruppe in
1) Die englische Literatur im Zeitalter
der Königin Victoria.
2) Streifzüge (1912). Erforschung des mo¬
dernen Englands (1915).
der Church of England, die sich beflei¬
ßigte, den Enthusiasmus des Glaubens
zu beleben. Mit ihr hatte Butler ein
Scharmützel, in dem er zuerst seine
skeptische Ader zeigte. Die Simeoniten
hatten Traktate in die Briefkästen der
Universitätsstadt geworfen. Butler ver¬
teilte darauf eine von ihm selbst ver¬
faßte Parodie in die Kästen der Si¬
meoniten, in der er mit beißendem
Spott ihnen häufigere Waschungen
empfahl.
Nach Beendigung seiner Cambridger
Studien bereitete er sich in London auf
sein Amt vor, und hier trat die entschei¬
dende skeptische Krisis ein. Er hatte in
einer Armenschule zu unterrichten und
stellte hier fest, daß seine ungetauften
Zöglinge dieselben Vorzüge und Fehler
sittlicher Art aufwiesen wie die getauf¬
ten. Die hieran angeknüpften fundamen¬
talen Zweifel, Zweifel durchaus auf dem
Boden und im Sinne des überlieferten
Buchstabenglaubens, veranlaßten ihn,
seine geistliche Laufbahn aufzugeben.
Es entspann sich eine heftige Korrespon¬
denz mit seiner Familie, die ihre Re-
spektabilität anscheinend durch den Ent¬
schluß des Sohnes erschüttert glaubte.
Aber Butler ließ sich nicht umstimmen;
er wanderte 1859 nach Neuseeland aus.
Hier kaufte er sich ein Pferd und ritt in
die Berge, um sich nach einem geeigne¬
ten Platz für eine Schaffarm umzusehen.
Die fünf Jahre Open-air-life, die er auf
dieser zubrachte, waren von großem
Segen für seine Gesundheit und auch
von finanziellem Erfolge, so daß er 1864
nach England zurückkehren konnte, um
sich seinen literarischen Neigungen zu
widmen. 1872 veröffentlichte er „Ere-
whon“, einen satirischen Roman, der
später einer neuseeländischen Stadt den
Namen lieh. Um einen höheren Zins¬
fuß für sein Vermögen zu erzielen,
wandte sich aber Butler noch einmal
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561
Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere
562
einer geschäftlichen Unternehmung zu.
Er wurde Direktor einer Gesellschaft
in Kanada. Hier aber verlor er fast sein
ganzes Vermögen, und nur die durch
den Tod des Vaters ihm 1886 zufal¬
lende Erbschaft entriß ihn der Not.
Ohne Unterbrechung wandte er sich
dann in London seinem literarischen
Werke zu, das in zirka 16 Bänden vor-
liegfcM902 veröffentlichte er „Erewhon
revfsited“, die Fortsetzung zu seinem
schriftstellerischen Erstling. Erst nach
seinem Tode erschien sein haupt¬
sächliches episches Werk „The Way
of all Flesh", an dem er von 1872 bis
1884 arbeitete.
Wenn wir die allgemeinen Züge, die
in diesem Lebensschicksal liegen, her¬
auszuheben suchen, so fällt die eigen¬
tümliche Verbindung von theologisch-
literarischer Bildung mit einer Tätigkeit
als Finanzmann und Kolonisator auf.
Große Männer stehen stets an den Schnitt¬
punkten der geistigen Hauptstraßen einer
Zeit. Wenn wir diese für das viktoriani¬
sche Zeitalter festzulegen versuchen, so
ist einmal ein allgemeines Fortströmen
vom Offenbarungsglauben zur Skepsis
zu beobachten in den sogenannten lati-
tudinarischen Tendenzen innerhalb der
Church of England und andererseits in
dem Agnostizismus des außerkirch¬
lichen Publikums. Ferner ist jenes un¬
geheure Streben nach weltlicher Macht
charakteristisch, wie es sich im Indu¬
strialismus und Imperialismus damals
zeigte. Es ist nun für Butler bezeich¬
nend, daß er eine mittlere Stellung in
dieser geistigen Situation einnahm. Er
war weder ein Cecil Rhodes, der sich mit
rücksichtsloser Energie für die Macht¬
expansion einsetzte, noch ähnelte er
dem anderen extremen Typus der Zeit,
wie er uns in Newman entgegentritt, der
alles Heil für seine Engländer davon
erträumte, daß sie wie die ersten Chri¬
sten würden. Butler war noch gerade
so kirchlich, „broadchurchman“, um
sich nicht ganz dem religiösen Leben
zu entziehen, und er war noch gerade
so viel Finanzmann, daß er die ma¬
teriellen Bestrebungen seiner Zeit ver¬
stehen und wiedergeben konnte.
2 .
Das Konstruktionsmotiv in „Ere¬
whon“, dem wir uns hier zuerst in einer
Betrachtung des epischen Werkes un¬
seres Verfassers zuwenden, ist seit Cy-
rano de Bergerac und Swift für den
philosophisch-satirischen Roman tra¬
ditionell. Es handelt sich um eine Reise
des Helden in ein fremdes Land, durch
dessen Schilderung zugleich eine Satire
zeitgenössischer Zustände und ein
Wunschbild, eine Utopie gegeben wird.
Mr. Higgs, der Held Butlers, übersteigt
eine ungeheure Gebirgskette in einem
fremden Kolonialland. In der Beschrei¬
bung dieser Expedition, die mit dem tra¬
ditionellen englischen Realismus ausge¬
führt wird, sind neuseeländische Erfah¬
rungen des Verfassers verwertet Von
der Höhe der Gebirgskette aus, auf der
seltsam tönende Steinriesen den Rei¬
senden erschrecken, wandert dieser tal¬
wärts in ein Land, dessen schöne Be¬
wohner ihn allmählich in folgende
Grundzüge ihrer Moral einweihen. Wer
in diesem Lande Erewhon krank ist,
wird so beurteilt und behandelt wie je¬
mand, der sich in Europa rechtlich und
sittlich verirrt hat; und andererseits:
wer sich hier ethisch vergangen hat, wird
so bewertet wie die physisch Erkrank¬
ten bei uns. Der Reisende erlebt z. B. den
Fall, daß ein angesehener Kaufmann
des Landes, Mr.'Nosnibor, an der Börse
unehrliche Spekulationen und Unter¬
schlagungen begangen hat. Nach eini¬
ger Zeit ergreift ihn die Reue. Er geht
nach Hause und ruft den moralischen
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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere
564
Arzt des Landes, den „moral straigh-
tener“. Nachdem dieser seine Beichte
angehört hat, verspricht er Mr. Nosni-
bor Besserung unter der Bedingung,
daß er die ihm anempfohlene Kur auf¬
merksam befolge. Diese besteht vor al¬
lem darin, daß der Kaufmann täglich
gepeitscht wird. Das verhindert nun
aber nicht, daß, sobald die Kunde von
seinem sittlichen Fall in die Stadt ge¬
drungen ist, seine zahlreichen Freunde
in Wagen bei ihm vorgefahren kom¬
men, um sich nach seinem Befinden
zu erkundigen, zu hören, wie alles kam,
welche Symptome sich zuerst zeigten,
und ihm gute Besserung zu wünschen.
Zu der anderen Seite der Moral Ere-
whons gehört es, daß dort Krankheit
mit Zwangsarbeit und Gefängnis be¬
straft wird. Was ist die Folge? Es gibt
einerseits tatsächlich weniger Krank¬
heiten in Erewhon, da sich jeder nach
Kräften bemüht, sich gesund zu erhal¬
ten. Andererseits werden viele Krank¬
heiten vertuscht oder verschwiegen. Es
ist z. B. eine beliebte Ausrede, wenn
sich jemand unpäßlich fühlt, man habe
nur ein Paar Socken auf dem Markt
gestohlen. Was will Butler mit dieser
Umwertung sagen? Gott liegt das In¬
dividuum nicht so am Herzen wie die
Gattung, der Staat. Es ist im Interesse
des Staates, möglichst viele gesunde
und gedeihende Bürger zu haben.
Kranke und auch Unglückliche sind
ihm ein Ballast. Mr. Higgs erlebt z. B.
den Fall, daß einem Witwer der Pro¬
zeß gemacht wird, da er über den Tod
der von ihm geliebten Frau unglück¬
lich ist, und der Prozeß verläuft nur
deshalb einigermaßen günstig für ihn,
weil er noch das Glück im Unglück
hatte, daß ihm seine Frau ein beträcht¬
liches Vermögen hinterließ. Es ist eine
durchaus sinnvolle Folge dieser Prin¬
zipien, daß fernerhin Reichtum vom
Staate belohnt wird. Große Vermögen
sind über eine bestimmte Grenze hin¬
aus steuerfrei. Und auf reiche Erben
ist die Gesellschaft besonders stolz, da
sie als die kompliziertesten Phänomene
der bisherigen Entwicklung angesehen
werden. Auf das sittliche Verdienst wird
hierbei nicht geachtet, sondern nur auf
das materielle Ergebnis. Man vergleiche
hierzu, wie auch sonst die Parallelen,
bei Shaw die Worte, die dieser in „Ma¬
jor Barbara“ Undershaft in den Mund
legt.
Der subjektive geschichtliche Sinn
dieser Umwertung Butlers war der, die
Lebensunzulänglichkeit des erkalteten
Puritanismus zu überwinden, den Zeit¬
konflikt zu lösen, der in dem Gegensatz
des patriarchalischen Offenbarungs¬
glaubens und der materiellen Tenden¬
zen lag. Es war stets das bewußte Wol¬
len Butlers, die Illusionen, die Shams
seiner Zeitgenossen aufzuzeigen. Die
Ethik Erewhons sollte den Viktorianem
das von ihnen erstrebte und nach But¬
ler erstrebenswerte Lebensziel deutlich
machen: den Komfort, und zweitens
durch die medizinische Betrachtung des
Moralischen darauf hinweisen, daß viele
Verbrechen durch Verbesserung der so¬
zialen Verhältnisse zu mildern und zu
verhindern wären. Es ist aber bemer¬
kenswert, daß Butler trotzdem gegen
den Sozialismus seiner Zeit war. Er
sah in diesem eine Sucht des einzelnen,
die Verantwortung von sich auf die
Allgemeinheit abzulenken.
Scheint so der Roman einen Angriff
auf den Offenbarungsglauben und die
traditionelle Ethik von der Seite der
englischen Nützlichkeitslehre und des
Geschäftsgeistes zu bedeuten, so ist
doch andererseits für Butler auch cha¬
rakteristisch, daß er sich im Erewhon
gegen die Arbeit um der Arbeit willen
ausspricht. Er ist dem englischen Rent-
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nergeist gemäß für den Geldbesitz, aber
gegen das hochkapitalistische Arbeits¬
fieber. In einer grandiosen Satire auf
die Entwicklung der Maschinen schil¬
dert er, wie sie in Erewhon die Men¬
schen so zu ihren Sklaven machten,
daß diese sich schließlich empörten
und alle Maschinen zerschlugen. Man
ist auf den vorindustriellen Wirt¬
schaftszustand zurückgekehrt, und je¬
der Gebrauch eines komplizierten Werk¬
zeuges ist untersagt. Maschinen sind
nur noch in den Museen aufgestellt,
und als Mr. Higgs, der Reisende, im
Besitze einer Uhr ertappt ist, wird ihm
der Prozeß gemacht.
Wenn wir den betrachteten Roman
historisch einordnen wollen, so ist vor
allem seine Abhängigkeit von Darwin
bemerkenswert. Butler hatte in seiner
Bergeinsamkeit auf Neuseeland das
damals neuerschienene Werk „the ori¬
gin of species“ gelesen, und es hatte
einen nachhaltigen Eindruck auf ihn
ausgeübt. Der Grundgedanke Erewhons
ist das von Darwin aufgestellte oberste
Lebensprinzip: the survival of the fit¬
test. Aus der höchsten Norm, der vitalen
Bewährung im Kampf ums Dasein, er¬
gibt sich Butlers Ethik im Erewhon
als sinnvolle Folge. Der darwinistische
Gedanke ist auch in Butlers Auffassung
von der Entwicklung der Technik so¬
zusagen als formales Prinzip maßge¬
bend gewesen. Zweifellos lag von Pea-
cock und Ruskin her eine fundamen¬
tale Kritik des Industrialismus in der
Luft, aber erst durch die Darstellung
der Maschinen als selbständiger Orga¬
nismen wurde die ganze naturgesetz¬
liche Wucht ihrer Entwicklung durch
Butler zum Ausdruck gebracht.
Die unmittelbare Nachwirkung Ere¬
whons war gering. Morris erwähnt 1882
in seinem Diary, den Roman gelesen
zu haben, und als er gegen die staats¬
sozialistische Utopie Bellamys„Looking
backward“ in den „News from No-
where“ ein Gegengewicht schaffen
wollte, ließ er sich zweifellos außer
durch Ruskin durch Butler beeinflus¬
sen in den umwertenden Gesetzen sei¬
nes Traumlandes, dessen Leben sich
wie das Erewhons vor allem in Schön¬
heit und Gesundheit erfüllt und den
Haß gegen die Maschinen zu seiner
Grundlage macht.
In „Erewhon revisited“ schildert But¬
ler, wie Mr. Higgs, der das Land im
Luftballon mit einer schönen Einge¬
borenen verlassen hatte, nach seiner
Rückkehr nach längerer Zeit sich als
„sunchild“ göttlich verehrt sieht. Er ist
entsetzt. Aber nachdem er vergeblich
versucht hat, die Verehrung von sich
abzuwenden, kommt er zu dem re¬
signierten Ergebnis: „Wenn ihr nicht
meine göttliche Natur mir ganz und
gar absprechen könnt, so macht aus mir
meinetwegen einen Pflock, an dem ihr
eure besten ethischen und spirituellen
Begriffe aufhängt.“ Man sieht also, daß
Butler durch Gibbons Begriff von der
Nützlichkeit der Religionen beeinflußt
ist, den der Historiker im 15. Kap. sei¬
nes „Decline and Fall of the Roman
Empire“ entwickelt hatte. Es ist be¬
zeichnend für Butler, daß er nicht das
Jenseits, „the unseen world“, bezwei¬
felt, aber zu der ebenso charakteristi¬
schen Folgerung kommt, daß es besser
sei, wegen der Unbegreiflichkeit der
jenseitigen Welt sich mit dieser ge¬
genwärtigen zu beschäftigen.
3.
Wie in „Erewhon“ steht in dem nach¬
gelassenen Werke Butlers, „The Way
of all Flesh“, im Mittelpunkt die Be¬
kämpfung der Illusionen seinerzeit. Und
zwar vor allem der Beziehungen zwi¬
schen Eltern und Kindern im Schatten
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Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere
568
der Church of England. Schon der Her¬
ausgeber Streatfield hat darauf hinge¬
wiesen, daß der Roman als eine Illustra¬
tion der von Butler in andern Schriften
dargestellten teleologischen Vererbungs¬
theorie aufzufassen ist. Butler sieht im
Gegensatz zu Darwin ein Zweckprinzip
nicht nur im Ergebnis der Entwick¬
lung, sondern hält es in der gesamten
Evolution für mitwirkend. Aber es
ist nicht nur dieser biologische Grund¬
gedanke, den sein Roman enthält; auch
in der Auffassung der bewußten Lüge
als einer berechtigten Mimicry der
menschlichen Natur spiegelt sich Butlers
Biologie wider. — Der Roman wird in
der Ichform erzählt von einem an den
Begebenheiten wenig beteiligten Freund
der Famiiiedes Helden. Hierdurch rücken
die Ereignisse in einen der epischen Ent¬
wicklung angemessenen, ruhigen Ab¬
stand, ein Kunstmittel, das Z.B. schon im
„Castle Rackrent“ von Miß Edgeworth
verwandt wurde.
Die Erzählung beginnt mit der Schil¬
derung des Urgroßvaters des Helden.
Er lebte als Tischler am Ende des
18. Jahrhunderts, und es wird vor allem
hervorgehoben, daß er weit vernünf¬
tiger und vor allem ehrlicher war als
der Großvater und Vater. Bei dem
Großvater, einem Verleger religiöser
Literatur, beginnt der merkwürdige Ge¬
gensatz zwischen der konventionellen
Romantik der Ansichten und den das
Handeln beherrschenden Motiven. Es
werden für erstere ergötzliche Beispiele
aus einem Tagebuch mitgeteilt, das der
Großvater auf einer Kontinentreise nach
der Schlacht bei Waterloo führte. Auf
dem Großen St. Bernhard, wo er über¬
nachtete, konnte er nicht einschla-
fen, da er in demselben Bett wie Na¬
poleon lag und dazu noch in einem
Kloster (!). Von seinem Enkel dagegen
wird lobend erzählt, wie er von einer
Besteigung des Großen St. Bernhard nur
zu berichten wußte, daß er oben die
Hunde gesehen hatte. — In scharfem Ge¬
gensatz zu der Romantik der Meinungen
steht bei dem Großvater vor allem sein
kalter Geschäftssinn und sein tyranni¬
sches Verhalten gegen seine Kinder. Die¬
ses wird von Butler historisch aufge¬
faßt. Das freundliche natürliche Verhält¬
nis der Elisabethaner zu ihren Kindern
wird hervorgehoben im Gegensatz zu
dem elterlichen Geiste im Puritanismus,
in dem etwas von den Geschichten von
Abraham und Jephta aus dem Alten
Testamente fortlebte. Es wird darauf
hingewiesen, daß in den Romanen von
Richardson, Smollet und Sheridan der
Vater stets als ein herrschsüchtiger, hef¬
tiger Charakter geschildert wurde. Auch
aus Jane Austens „Novels“ wehte noch
eine verhaltene Angst vor dem väter¬
lichen Gebieter. Der Vater ist bei But¬
ler Geistlicher und prügelt den Sohn,
wie er in seiner Jugend geprügelt
wurde. Die oberste Erziehungsmaxime
jener Generationen war nach der An¬
schauung unseres Satirikers die, den
Willen der Kinder zu brechen, um sie
zu absolutem Gehorsam gegen Gott
und Eltern zu bringen. Wir sind damit
bei der Geschichte des Ernest Pontifex,
dem Hauptteile des Romans, angelangt.
Er ist nicht der äußeren Form der ge¬
schilderten Begebnisse, aber ihrem We¬
sen nach autobiographisch. Es ist eine
Bildungsgeschichte, wie sie seit „Wil¬
helm Meister“ in England allgemein be¬
liebt war. Ernest Pontifex wird zuerst
auf einer Public School und dann in
Cambridge im Geiste der Church of
England erzogen, deren Situation am
Anfang des Jahrhunderts als allgemei¬
ner Hintergrund gezeichnet wird. Diese
Schilderung ist zugleich ein Beitrag zu
der Frage: wie wirkte die sogenannte
Literatur auf die breiten Schichten des
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569
Gustav Hilbener, Samuel Butler der Jüngere
570
lesenden Publikums jener Zeit? Butler
bezeichnet Buckles „History of Civili-
sation“ und John Stuart Mills „Li¬
berty“ als die gefährlichsten und auf¬
regendsten Bücher der Epoche. Trotz¬
dem erklärt er auch ihren Einfluß auf
Ernest Pontifex und seine Freunde für
gering. Er sieht als das bezeichnende
Merkmal der allgemeinen Stimmung in
der Kirche Gleichgültigkeit und Schläf¬
rigkeit an. Das Feuer des Evangoli-
kanismus, der versucht hatte, mit einer
Art methodistischem Puritanismus das
Leben in der Church of England neu
anzuregen, war längst erloschen, ge¬
schichtlich geworden. Nur die Simeo-
niten stellten noch eine schwache Über¬
lieferung jener Bewegung dar. Die Ox¬
fordströmung war erst in ihren An¬
fängen. Bis 1859, wo durch Darwin
und die „Essays and Reviews“ mit
ihrer Verteidigung der kritischen Me¬
thode von außen und innen neue Er¬
regungen der Kirche entstanden, störte
nichts ihren lethargischen Frieden. Vor
diesem allgemeinen Hintergrund ver¬
läuft die Jugendentwicklung Ernests.
Nach dem Studium in Cambridge geht
er nach London, um hier, angeregt
durch die soziale Bewegung, wie sie
Kingsleys Roman eines Schneiderge-/
seilen und auch Dickens repräsentieren,
sich der geistlichen Arbeit in den Ar¬
menvierteln zuzuwenden. Er erleidet
kläglich Schiffbruch. Ein Besuch bei
einem Kesselflicker, der rationalistisch
verfängliche Fragen nach der Harmonie
der Evangelien stellt, erschüttert völlig
seinen Glauben. Ein anderer Besuch
stürzt ihn in eine schwere sittliche Ver¬
irrung, so daß er ins Gefängnis gewor¬
fen wird. Butler wollte zeigen, wie die
Erziehung im Geiste der Church of
England seinen Helden ganz unvorbe¬
reitet gelassen hatte gegenüber den
Wirklichkeiten des Lebens und den
Wirklichkeiten in seiner eigenen Brust.
Nach der Entlassung aus dem Gefäng¬
nis hat Ernest Pontifex bitterste Not
zu durchkämpfen, bis auch ihn das
Allheilmittel Butlers rettet: er erbt.
Darauf lebt er als freier Schriftsteller
in London als „broadchurchman“ und
getreu den quietistischen und comfor-
tistischen Idealen des Dichters. Eine
Episode des Romanes ist für den Te¬
nor des Ganzen charakteristisch: Der
Vater, der nichts von der Erbschaft,
nur vom Gefängnis wußte, wünschte,
daß Ernest zurückkehrte, aber er fand,
wie Butler sagt, er hätte zurückkehren
sollen, wie es sich für einen respek¬
tablen, wohlgeordneten verlorenen Sohn
gehörte, nämlich heruntergekommen,
mit gebrochenem Herzen und Ver¬
zeihung erflehend von dem zärtlichsten
und langmütigsten aller Väter. Wenn
er Schuhe und Strümpfe und heile Klei¬
der überhaupt besäße, sollte das nur
sein, weil es ihm gnädigerweise ge¬
stattet war, nicht völlig in Lumpen und
Fetzen zu erscheinen. Aber nun war
er stolz angekommen in einem grauen
Ulster, mit blauweißem Shlips und bes¬
ser aussehend, als der Vater ihn je im
Leben gesehen hatte. Das war „unprin-
cipled“, das sprach gegen die Grund¬
sätze einer anglikanischen Familie.
Butlers Haltung gegenüber dem Puri¬
tanismus ist neu. Alle jene Züge, mit
denen im Mittelalter in den Moralitä¬
ten die Hypokriten gekennzeichnet wur¬
den, sind in der Renaissance von Ben
Jonson z. B. im Bartholomew Fair auf
die Puritaner angewandt und gestei¬
gert. Für die Gegner ist der Puritaner
der bewußte Heuchler. Auch Samuel
Butler der Ältere schildert in seinem
„Sir Hudibras“ den Puritaner als den
Inbegriff perfider Scheinheiligkeit. Vom
18. Jahrhundert an kommt mit dem
neuen Begriff des „cant“, der erstens
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571
572
Gustav Hübener, Samuel Butler der Jüngere
die bewußte konventionelle Lüge und I
zweitens die innere Verlogenheit bedeu¬
tet, eine neue Kategorie des Werturteils
für die Gegner des Puritanismus auf.
Die Stellungnahme Samuel Butlers des
Jüngeren unterscheidet sich auch von
dieser. Er verspottet die Puritaner mit
Wohlwollen. Gewiß, er stellt fest, daß
sie Heuchler seien, aber er entschuldigt
dieses mit der Enge und Absurdität
ihres persönlichen Buchstabenglaubens,
der ihnen in seiner Lebensunzuläng¬
lichkeit nur den Ausweg der Heuche¬
lei ließe. Die Grundeinstellung im „Way
of all Flesh“ ist, wie gesagt, die biolo¬
gische. Keines Menschen Leben, meint
Butler, sei eine sehr schlimme Lüge, so¬
lange er nur überhaupt lebt und ge¬
sund ist. Ein langes Leben und die
Sorge für ausreichenden Lebensunter¬
halt sind für Butler die obersten, ent¬
sühnenden Gesichtspunkte. Die Haupt¬
sünde, die er den alten Generationen
vorwirft, ist die, daß sie sich durch
ihre lebensunzulänglichen, puritani¬
schen Ansichten behindern ließen, ihr
Leben so erfreulich und behaglich zu
gestalten wie möglich. —
Wir stellen zum Schlüsse die Frage:
Wie kommt es, daß Butler heute in
England so populär geworden ist? 3 ) Es
I fehlt hier der Raum, die Gründe für
die Wirkung seines umfangreichen bio¬
logischen Werkes ausführlicher zu
erörtern. Nur das sei angedeutet: zwei¬
fellos ist anzunehmen, daß seine teleo¬
logische Evolutionstheorie, die an La-
marck erinnert, in England von jener
Zeitstimmung aufgenommen wurde, die
sich in der begeisterten Begrüßung
des französischen Vitalisten Bergson
in Oxford und London offenbarte und
der neuerdings H. G. Wells mit seiner
Religionsstiftung in „God the invisible
King“ entgegenkam. Den entscheiden¬
den Grund für Butlers heutigen Erfolg
als Epiker und Satiriker bildet
sicherlich der innere Abstand, den das
jetzige England in den Erschütterun¬
gen des vergangenen Krieges zum vik¬
torianischen Zeitalter gewonnen hat.
Erst jetzt fühlt man dieses als abge¬
schlossen daliegen und versteht daher
die Kritik Butlers. Andererseits ist auch
seine positive Nachwirkung nicht er¬
staunlich. Ist er doch mit seinem Com-
fort-Ideal, seinem den Zeitumständen
stets willigen, praktischen common sense-
und seinem im ganzen in politischen und
kirchlichen Dingen gemäßigt konserva¬
tiven Geiste Prototyp breiter Schichten
des gebildeten, modernen England.
Nachrichten und Mitteilungen.
Neue Literatur zur Geschichte des Altertums.*)
Ausgang, nicht Untergang des Heiden¬
tums betitelt mit Recht Joh. Geffcken“)
sein gehaltvolles Buch über den Sieg des
3) Eine ausführliche Biographie ist dort
vor kurzem erschienen, Samuel Butler,
Author of 'Erewhon’. A Memoir. By Henry
Festing Jones. (Macmillan and Co.) 2Bde.
42 Sch. Anm. der Red.
*) Siehe Heft 5.
54) Der Ausgang des griechisch-römischen
Heidentums. Religionswissenschaftliche Bi¬
bliothek. Herausgeg. von W. Streitberg 6,
Heidelberg 1920, C. Winter.
Christentums im Römerreich. „Manch edles
Kleinod der Vergangenheit ward ins neue
Haus hinübergerettet.“ Daher verlangt die
geschichtliche Betrachtung dieses Riesen¬
kampfes genaue Kunde über die beiden
Gegner. Nachdem Harnack die Mission
und Ausbreitung des Christentums in den
ersten drei Jahrh. geschildert hat (3. AuQ.
1915), sucht das vorliegende Werk dem
unterlegenen Kämpfer gerecht zu wer¬
den, was so oft die Pflicht des vorsichtig
abwägenden Geschichtschreibers ist. Die
antiken Kulte, nicht nur die griechisch-rö¬
mischen, wie im Titel viel zu eng gesagt
wird, und die letzte Philosophie desHeiden-
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573
574
Nachrichten und Mitteilungen
tums werden uns vor Augen geführt, und
wir sehen, wie die antike Welt seit dem
3. Jahrh. unter dem Druck der schweren
äußeren und inneren Nöte der Zeit aus
einer Welt des Wissens in eine Welt des
Glaubens sich wandelt, wie auch heidnische
Religionen, der persische Mithras, die ägyp¬
tische Isis, die kleinasiatische „große Mutter“
und die syrischen Baalim eine großzügige
Missionstätigkeit parallel derjenigen des Chri¬
stentums ausüben. Hat sich der Verf. in diesen
Abschnitten mehr referierend verhalten, so
steht er dann auf dem Boden eigener For¬
schung bei der Darstellung der antiken
Philosophie. Wir lernen, wie das Denken
der großen Vorkämpfer des Heidentums
immer mehr religiös sich vertieft, und sehen,
wie im Neuplatonismus die Philosophie
schließlich zur Theologie wird und den alten
Götterglauben spiritualisiert. Der Verf. be¬
dauert es mit Recht in der Einleitung, daß
er Kultus und Philosophie voneinander ge¬
trennt behandeln müsse. „Weit schönerund
überzeugender wäre es sicherlich, eine Ge¬
schichte des religiösen Bewußtseins der Hei¬
den in jener Zeit zu schreiben, die seelischen
Vorgänge als Ganzes zu beleuchten.“ Aber
so weit sind wir noch nicht, ebenso wie uns
audi die Antwort noch fehlt auf die Frage
nach den Gründen des christlichen Sieges.
Dieser bleibt ein „ernstes Problem, das nicht
durch eine Reihe schnell aufzuzählender Fak¬
toren zu lösen ist." Der Personenforschung
des ausgehenden Altertums sind mehrere
neue Bücher gewidmet. Otto Seeck 66 ) hat
ein großes Werk geliefert, das eine Vorarbeit
zur Prosopographie der christlichen Kaiser¬
zeit und gleichzeitig eine Ergänzung zu
Mommsens Ausgabe des Codex Theodosia-
nus darstellt. Es wird in beiderlei Hinsicht
derForschungwertvolleDienste leisten. Joh.
Sund wall ist auf demselben Gebiet mit
zwei Werken hervorgetreten. Das erste 60 )
beschäftigt sich mit der Geschichte des unter¬
gehenden Weströmerreiches, das seit 395
einer Ruine gleicht, „von der nur die Um¬
risse sichtbar sind, das Innere aber abge¬
tragen ist.“ Das zweite 67 ) setzt diese Stu-
55) Regesten der Kaiser und Päpste für
die Jahre 311—476 n. Chr. Stuttgart 1919,
J. B. Metzler.
56) Weströmische Studien. Berlin 1915,
Mayer & Müller.
57) Abhandlungen zur Geschichte des aus¬
gehenden Römertums. öfversigt af Finska
dien bis vor die Zeit Gregors d. Gr. herunter
fort und enthält eine tüchtige Untersuchung
über die Politik des römischen Senates unter
Odovacar und dem Gotenregiment. Damals
ist der letzte Stoß gegen den Lebensnerv
des Standes geführt worden. Das Ende des
Senates aber bezeichnet das Ende einer
langen Entwicklung. „Damit sank das Alter¬
tum in Italien endgültig in sein Grab; denn
i der Senat war das zähe Bindeglied der alten
römischen Kultur und Überlieferung, auch
in den Zeiten der Barbarenherrschaft.“ Ernst
Stein 68 ) widmet seinem Lehrer L. M. Hart¬
mann Studien über zwei Jahrzehnte byzan¬
tinischer Geschichte nach dem Tode Justi-
nians, vor allem der damals von neuem be¬
ginnenden Auseinandersetzung mit dem
Perserreich, die mit Hilfe der jetzt in der
Geschichte auftauchenden Türken auf die
Angliederung Armeniens und seiner kriegs¬
tüchtigen Bevölkerung an das Reich aus¬
ging. Die Folge dieser einseitig gegen
Osten orientierten Politik war die sträf¬
liche Vernachlässigung des Westens, wo
Italien den Langobarden zum Opfer fiel und
582 auch Sirmium für immer dem Reiche
verloren ging, eine Einbuße, „deren mora¬
lische Bedeutung die strategische weit über¬
traf“. Lu jo Brentano 69 ) hat ein Kapitel
aus seinen Vorlesungen über Wirtschafts¬
geschichte und zwar dasjenige über Byzanz
veröffentlicht. Die verdienstliche Arbeit, die
hauptsächlich aus zweiter Hand, allerdings
ohne Berücksichtigung der neuesten Litera¬
tur 00 ), schöpft, vermag dem Kenner kaum
etwas Neues zu sagen, dürfte aber vielleicht
geeignet sein, die Aufmerksamkeit der Na¬
tionalökonomen endlich mehr als seither
auf dieses gerade für unsere heutige Zeit
so interessante Gebiet zu lenken. Es sei nur
an die Organisation des Gewerbebetriebs
Vetenskaps-Societetens Förhandlingar Bd.
LX (1917/18) Afd. B. Nr. 2. Helsingfors 1919.
58) Studien zur Geschichte des byzan¬
tinischen Reiches, vornehmlich unter den
Kaisern Justinus II. und Tiberius Constan-
tinusVIII. Stuttgart 1919, J. B. Metzler. M. 18.
59) Die byzantinische Volkswirtschaft,
Schmollcrs Jahrbuch für Gesetzgebung, Ver¬
waltung und Volkswirtschaft im deutschen
Reich. 41, 2. (1917). S. 7 (569) ff.
60) Unbenutzt geblieben ist z. B. die Ar¬
beit meines Schülers Albert Stöckle,
Spätrömische und byzantinische Zünfte,
Untersuchungen zum sog. inagx^'ov ßtßllov
Leos des Weisen. Klio 9. Beiheft, 1911.
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575
Nachrichten und Mitteilungen
und des Handels unter dem Zeichen des
Staatsmonopols, weiter an die ausgedehnte
Schutzpolitik zugunsten des Bauernstandes
erinnert. Die Zeit der Einwohnerwehren
hört vielleicht auch mit Interesse von der
Existenz einer Privatarmee der Großgrund¬
besitzer in Byzanz neben dem staatlichen
Heer. Zum Schluß noch ein kurzes Wort
über zwei Werke, die über den Anfang des
Mittelalters neue Gedanken produzieren. Die
Forschung behandelt heute bekanntlich mit
Vorliebe die Kontinuitätsprobleme von Alter¬
tum und Mittelalter an Stelle der Betonung
der Zäsur, die früher eine so große Rolle
spielte und daher heute noch in Hand- und
Schulbüchern ihr Unwesen treibt bis zu dem
unseligen Jahr 476, in welchem angeblich
der letzte römische Kaiser in der Versenkung
verschwindet. A. Dopsch 81 ) hat die ganze
Frage vom Standpunkt des Wirtschafts¬
historikers in breit angelegter Darstellung
neu zu beantworten begonnen, und an seinem
Buche ist erfreulich, daß er auch das massen¬
hafte Ausgrabungsmaterial durchgearbeitet
hat, ein Zeichen, daß die römisch-germa¬
nische Kommission auch in die Reihen der
mittelalterlichen Historiker hinein zu wirken
beginnt. Ganz neue und weite Perspektiven
eröffnet das Werk von Jos.Strzygowski 8 *).
Er hat seine alte These, daß die Kultur der
klassischen Völker in der zweiten Hälfte
des Altertums vom Orient eine Erneuerung
erfahren habe, ergänzt durch die Heraus¬
arbeitung der Einflüsse, die von den No¬
maden und Nordvölkern Asiens ausgehen,
den Völkern, die man unter dem Namen
der altaischen Rasse zusammenfaßt, die dann
die sogenannte Völkerwanderung in Europa
61) Wirtschaftliche und soziale Grund¬
lagen der europäischen Kulturentwicklung
aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den
Gr. Teil I. Wien 1918, Seidel.
62) Altai-Iran und Völkerwanderung.
Ziergeschichtliche Untersuchungen über den
Eintritt der Wander- und Nordvölker in die
Treibhäuser geistigen Lebens. Anknüpfend
an einen Schatzfund in Albanien. Mit 229
Abb. u.lOLichtdrucktafeln. Leipzig 1917, J.C.
Hinrichs.
576
heraufgeführt und ganz neue Dekorations¬
formen dorthin gebracht haben. Vorher und
nachher sind im Orient, speziell in Iran,
türkisch-nordarische (sakisch-parthische) und
indische Kulturströme zusammengetroffen,
die für die Ausbildung der altarmenisch¬
christlichen 8 ’) wie der islamischen Kunst
von größter Bedeutung geworden sind.
Leider spielt bei Str. das unbewiesene und
unbeweisbare Moment der Rasse eine zu
große Rolle. Dagegen zu loben ist die Aufgabe
des einseitig klassizistischen und europa¬
zentrischen Standpunktes und die Betonung
der universalhistorischen Gesichtspunkte.
Nicht mehr Europa sondern Eurasien ist
der Schauplatz dieser Betrachtungsweise,
die für die Erforschung der Völkerwande¬
rungszeit und des beginnenden Mittelalters
neue Bahnen zu weisen sucht. Nicht allein
die Germanen und Araber führen den kul¬
turellen Umschwung herbei sondern auch
die Nomaden und Nordvölker mit ihrer
Freude an geometrischen Linien, Flächen
und Farbenspielen. Das dekorative Element
war bei ihnen ausschlaggebend, der Aus¬
gangspunkt liegt im fernen Osten. Wir
müssen uns gewöhnen, neben der Wasser¬
straße des Mittelmeers den großen Ober¬
landweg von Persien über Armenien und
das Schwarze Meer nach Südrußland und
den Donauländern mehr in den Kreis der
historischen Betrachtung zu ziehen. Str.
erwartet große Resultate von der Bearbei¬
tung der Funde der Völkerwanderungszeit
im ungarischen Nationalmuseum zu Buda¬
pest. So sehen wir auch hier in den An¬
fängen der nordeuropäischen Geschichte
die Archäologie heute in führender Stellung,
gerade so wie das nach unseren früheren
Ausführungen bei der Aufhellung der alt-
orientalischen Probleme der Fall gewesen
war.
Breslau, März 1920.
_ Ernst Kornemann.
63) Vgl. hierzu auch das große, an neuem
Material ungemein reiche Werk desselben
Verfassers: Die Baukunst der Armenier und
Europa. 2 Bde. Wien 1918, Anton Schrott
& Co. *
Für die Schriftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcelius, Berlin W 30, Lultpoldstrafle 4 .
Druck von B. G. Teubner ln Leipzig.
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PRINCETON UNlVEflS]
f
V
%
dk
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG HEFT 7
JULI 1920
Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands.
Von M. Murko.
Vor dem Kriege umfaßte Rußland die
Hälfte von .Europa, auch ohne Finn¬
land, Polen und Kaukasus, die geo¬
graphisch nicht dazu gehören, und die
Hälfte von Asien, ein Sechstel des gan¬
zen Festlandes. Hinter dem englischen
Weltreich bleibt es um 8 Millionen qkm
zurück, aber während dieses über die
ganze Erde verstreut ist, bildet das
russische Reich eine kompakte, konti¬
nental zusammenhängende Masse. An¬
dere Kontinentalstaaten wie das chine¬
sische Reich und die Vereinigten Staa¬
ten von Nordamerika übertrifft es um
das Doppelte, im Vergleich mit Deutsch¬
land ist es vierzigmal so groß. 1 ) Dieses
’ Riesenreich scheint nun aus seinen Fu¬
gen zu gehen, und es gibt Kreise, die
noch heute vorgeben, mit Rußland als
Weltmacht sei nicht mehr zu rechnen,
obgleich die Bolschewiken allein, die
doch nur einen Bruchteil seiner Be¬
völkerung bilden, der ganzen Eintente
und allen von ihr geförderten Gegnern
im Norden, Westen, Süden und Osten
trotzen. Die Zukunft ist allerdings un¬
gewiß. Um so wichtiger ist es daher
in einer Zeit, in welcher neue Staaten
auf Grund des Nationalitätenprinzips
entstanden oder im Werden begriffen
sind, die realen Faktoren kennen zu ler¬
nen, welche Rußlands Schicksale be¬
stimmen. Von diesem Gesichtspunkte
will ich also über die ethnographischen
Verhältnisse Rußlands sprechen, wo¬
bei ich von dem wichtigsten Merkmal,
U^A. Hettner, Rußland*, 4, 237.
der Sprache, ausgehe, als stark ma߬
gebend die Religion berücksichtige und
wo nötig auch die historische Entwick¬
lung erwähne. 1 “)
Zur Veranschaulichung der bunten
Völkermenge Rußlands leistet uns noch
heute die besten Dienste Rittichs
Ethnographische Karte des europäi¬
schen Rußland, die im Auftrag und
unter Aufsicht der russischen Geogra-
graphischen Gesellschaft 1875 in St.
Petersburg erschienen ist. Diese Karte
konnte natürlich die Resultate der er¬
sten und einzigen allgemeinen Volks¬
zählung in Rußland vom J. 1897 nicht
berücksichtigen, doch bietet sie im all¬
gemeinen ein richtiges Bild von der
Verbreitung der einzelnen Völker, das
sich im Laufe von Jahrzehnten eher
zugunsten der Russen verschoben hat
als umgekehrt. Die Farbenbezeichnung
ist allerdings oft unzulänglich. So sind
die Gebiete der Groß-, Weiß- und
Kleinrussen zu wenig deutlich geschie¬
den, unter den Esthen und Letten ist
die starke deutsche Oberschicht zu we¬
nig ersichtlich, unter den Litauern,
Weißrussen und einem großen Teil der
Kleinrussen die polnische, überhaupt
ist das öfters vorkommende Nebenein¬
anderleben verschiedener Völker nicht
genügend veranschaulicht, was aller¬
dings auch schwer durchzuführen ist.
Dagegen muß ich rühmend hervorhe¬
ben, daß Rittich nicht mit großen Far-
la) Gesprochen und geschrieben im Fe¬
bruar 1920.
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579
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
580
l>enflecken arbeitet, sondern nur wirk¬
lich bewohnte Gebiete andeutet, z. B.
im Norden, wo die Russen bloß an
den Flüssen Vorkommen, ln deutscher
Bearbeitung erschien diese Karte in
Petermanns Mitteilungen 1878,
Darauf sind alle russischen Siede¬
lungsgebiete mit grüner Farbe bezeich¬
net, so daß sie in der Tat eine impo¬
sante Fläche ausmachen, während die
Verteilung der Groß-, Weiß- und Klein¬
russen auf einer besonderen Karte er¬
sichtlich gemacht wird. Auf Rittichs
Originalkarte oder auf den Petermann-
schen Bearbeitungen beruhen alle Dar¬
stellungen der ethnographischen Ver¬
hältnisse Rußlands, der Slawenwelt-’),
Osteuropas 3 ) und Europas auf Einzel¬
karten, in Atlassen und enzyklopädi¬
schen Werken. Als die jüngsten Karten
erwähne ich die von Haack-Herz-
berg, Anteil der Völker an der Ge¬
samtbevölkerung Europas, Dietrich
Schäfers Völkerkarte von Europa
und zuletzt „Völkerkarte von Osteuropa“
von Dr. Richard Pohle und Her¬
bert Heyde (Berlin, Geaverlag).Diese
„nach amtlichen Quellen entworfene
und bearbeitete“ allerjüngste Karte ist
kein Fortschritt. Die ausgesprochenen
2) Besonders beachtenswert die Karte in
dem Werke von L. Niederle, Obozr&nie
sovremennago slavjanstva (Übersicht des
zeitgenössischen Slawentums) in der Enci-
klopedija slavjanskoj fllologii der Petersbur-
er Akademie der Wissenschaften, Heft 2,
etersburg 1909. Das Werk ist auch fran¬
zösisch, tschechisch und slowenisch erschie¬
nen. Dieselbe Karte ist wiederholt in dem
Sammelwerk Slovanstvo, Prag 1912. Die
ethnographische Karte der Slawenwelt in
dem Werke von Prof. T. D. Florinskij
Slavjanskoe plemja (Kiew 1907) ist etwas
primitiv ausgeführt, bietet aber den Vor-
und Nachteil, daß sie auch Sibirien als Fort¬
setzung von Rußland in demselben Ma߬
stabe bringt.
3) Am besten ist die ethnographische
Übersichtskarte von Osteuropa in dem Werke
von Stephan RudnyCkij, Ukraina, Wien
1916.
Farben sind zwar sehr übersichtlich,
doch geben die großen Farbenflächen
trotz ihrer schwarzen Striche oft eine
ganz falsche Vorstellung; z. B. könnte
man die Wogulen in der .Nordostecke
für ein großes Volk halten, während
sie 1897 nur 7000 Seelen zählten. Be¬
züglich der Völkermischung sind die
Deutschen im Baltikum durch Streifen
stark angedeutet, doch die in gleicher
Lage befindlichen Polen in den litaui¬
schen Gebieten nur schwach, in „Weiß-
ruthenien“ und in den westlichen klein¬
russischen Gebieten aber ganz ver¬
schwiegen, dagegen in Ostgalizien wie¬
der zu stark hervorgehoben. 4 )
Da ein bedeutender Teil der Klein¬
russen seit der Teilung Polens dem
Reich der Habsburger angehörte, so
brauchen wir zur Ergänzung der Völ¬
kerkarte Rußlands noch die Spra¬
chenkarte der österreichisch¬
ungarischen Monarchie von Fr.
Le Monnier (Wien 1888), die gleich¬
falls schon alt ist, aber bis heute als
Grundlage für alle sonstigen Karten dient
Eine Übersichtskarte der eth¬
nographischen Verhältnisse
von Asien und von den angrenzen¬
den Teilen Europas bearbeitete auf
Grund von Fr. Müllers Allgemeiner
Ethnographie Vinzenz von Haardt
und gab sie mit Unterstützung der
Wiener Akademie der Wissenschaften
heraus (Wien 1887).
1 .
Zum besseren Verständnis der weite¬
ren Ausführungen empfiehlt es sich in
aller Kürze zu zeigen, wie das russische
Volk und der russische Staat entstan¬
den und gewachsen sind.
4) Über die polnische Auffassung der
polnisch-russischen Grenzfragen orientieren
am besten die Karten in dem Sammelwerk
Polen, Entwicklung und gegenwärtiger
Zustand. Bern 1918.
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PRINCETON UNIVE
581
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
582
Die ältesten historisch erreichbaren
Sitze der Slawen finden wir im öst¬
lichen Polen und-in den anliegenden
weiß- und kleinrussischen Gebieten.
Wie nach dem Westen und Süden brei¬
teten sich von hier aus Slawen auch
nach dem Norden und Osten aus, so
daß wir im 10. Jahrh. eine ganze Reihe
slawischer Stämme von Nowgorod bis
Kiew und seine östliche und südliche
Umgebung antreffen. Weiter im Nord¬
osten, im ganzen Stromgebiet der
Wolga und an der Oka gab es finni¬
sche Völkerschaften, die süd- und süd¬
ostrussische Steppe wurde aber von
mongolischen und türkisch-tatarischen
Nomaden aufgesucht und beherrscht.
In Kiew, wo sich der berühmte Ostweg
von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere
und nach Konstantinopel mit dem Han¬
delsweg aiis Polen kreuzte, bildete sich
ein Mittelpunkt staatlichen Lebens, an
dessen Konsolidierung aus Ostschwe¬
den gekommene Waräger ein beson¬
deres Verdienst hatten. Normannischer
Herkunft war jedenfalls die Dynastie
Ruriks, deren Mitglieder ein einigendes
Band um die verschiedenen russischen
Stämme und Teilfürstentümer schlan¬
gen. Auch deren gemeinsamer Name
Ruö, in byzantinischer Form 'Päs,
stammt vielleicht aus dem germani¬
schen Norden. Auf dem ganzen Ge¬
biete bildete sich eine Sprache, deren
gemeinsame Merkmale noch heute alle
russischen Dialekte gegenüber den üb¬
rigen slawischen Sprachen auszeichnen.
Ein besonders wichtiges Bindemittel für
die russischen Stämme war auch das
von Wladimir 988 aus Konstantinopel
bezogene Christentum und die aus Bul¬
garien stammende Kirchen- und Litera¬
tursprache, also eine südslawische
Sprache. Die Kiewer Metropolie erhielt
die russische Staatseinheit auch in den
Zeiten der lose miteinander verbunde¬
nen Teilfürstentümer und zahlreicher
innerer Kämpfe. Orthodox (pravo-
slavnyj) und Russisch blieben identi¬
sche Begriffe bis auf den heutigen Tag.
Selbst als im alten Polen zahlreiche
Russen für die Union mit Rom ge¬
wonnen wurden, bildeten ihr orienta¬
lischer Ritus und die slawische Kir¬
chensprache ihr unverwüstliches Merk¬
mal, und wenn man in den letzten
Jahrzehnten in Ostgalizien, wo die
Union noch heute in Geltung ist, einen
Ruthenen nach seiner Nationalität
fragte, so antwortete er: ja ru&koji viry
(ich gehöre dem russischen Glauben
an). Mit dem Christentum kamen auch
die Grundlagen der geistigen und ma¬
teriellen Kultur aus Byzanz, die im
Verhältnis zu Westeuropa damals nicht
gering war, aber mit ihrem Konserva¬
tismus und ihrer Erstarrung auch Ru߬
land verhängnisvoll wurde. Wir müs¬
sen weiter bedenken, daß die griechi¬
sche Kirche die antike Religion weniger
überwand als die römische. Was das
bedeutet, will ich nur mit einem Bei¬
spiel zeigen. Der hl. Augustinus be¬
kämpft in seinen Confessiones die To¬
tenmahle und berichtet dabei, wie der
hl. Ambrosius, Bischof von Mailand,
am Ende des vierten Jahrhunderts sei¬
ner Mutter verbot, nach afrikanischer
Sitte Brei, Brot und Wein auf die
Gräber der Märtyrer zu tragen. Diese
Sitte verschwindet in der Tat bald im
ganzen Abendlande, bei den Russen
und den übrigen orthodoxen Slawen
sind aber Totenmahle am Grabe noch
heute nach dem Begräbnis und an ver¬
schiedenen Totentagen üblich. 5 )
Bei dem großen Mongoleneinfall in
Europa 1240 wurde Südrußland ver¬
wüstet und Kiew dem Boden gleich¬
gemacht. Das Zentrum des russischen
5) Vgl. des Verf. Abhandlung „Das Grab
als Tisch“, Wörter und Sachen II, 79—160.
19*
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583
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
584
Staates kam infolgedessen nach dem
Nordosten, zuerst nach Wladimir an
der Kljazma und allmählich nach Mos¬
kau, das gleichfalls einen wichtigen
Knotenpunkt für den Handel bildete
und geschickte Fürsten hatte, die ihren
Reichtum zur Erwerbung des Gro߬
fürstentitels in der Goldenen Horde
ausnützten. Die russischen Fürsten im
Nordosten waren eigentlich Statthalter
tatarischer Chane, so daß dadurch
orientalische Einflüsse im russischen
Staats- und Volksleben bedeutend ver¬
stärkt wurden und fortwirkten, als die
Moskauer Großfürsten das Tatarenjoch
abgeschüttelt hatten. Damit hängt auch
zusammen, daß das föderative System,
das im Kiewer Rußland herrschte, in
Moskau der byzantinischen Autokratie
und der orientalischen Despotie Platz
machte. Nach dem Fall von Konstanti¬
nopel betrachtete sich Moskau als das
dritte Rom, dem ein viertes nicht fol¬
gen sollte. Mit „der Sammlung der
russischen Erde“ und der äußeren
Machtentfaltung ging aber auch eine
starke Kolonisation an der Wolga und
Oka vom 13.—15. Jahrh. einher, die
von Moskau und noch früher sehr stark
auch von der Handelsrepublik Nov-
gorod ins Werk gesetzt wurde. So fällt
die Gründung von Niznij Novgorod,
d. h. Unter-Novgorod, am Zusammen¬
fluß der Wolga und Oka in das J. 1241.
Wir sind darüber wenig unterrichtet,
wie es bei dieser Kolonisation zuging,
aber es scheint, daß die finnische Be¬
völkerung meist im friedlichen Wett¬
kampfe von den durch staatliche Or¬
ganisation und durch ihr Christentum
höher stehenden Russen zurückgedrängt
und zum großen Teil auch aufgesogen
wurde.
Das Moskauer Reich wuchs zu im¬
mer größeren Aufgaben heran, so daß
es den tatarischen Chanaten von Kasan
(1552) und Astrachan (1556) ein Ende
bereitete und sich großrussische Ko¬
saken auch bereits im 16. Jahrh. sogar
am Terek vor dem Kaukasusgebirge
festsetzten. 1581 wurde auch schon Si¬
birien erobert, und in unglaublicher
Schnelligkeit drangen die Russen sogar
bis zu den Küsten des Stillen Ozeans
vor. Moskau richtete aber seine Blicke
auch nach dem Westen, nach den Kü¬
sten des Baltischen Meeres und nach
den polnisch-litauischen Provinzen, die
eine orthodoxe russische Bevölkerung
hatten. Nicht umsonst nannten sich die
Moskauer Herrscher Großfürsten und
dann Zaren „von ganz Rußland" (vseja
Rusi, seit dem 16. Jahrh. in gelehrter
byzantinischer Form vseja Rossü).
Wir müssen uns vor Augen halten,
daß nach dem Fall von Kiew ein Teil
der südrussischen Bevölkerung sich
nach dem Westen bis in die Karpathen
zurückzog. In diesem „Rotrußland“ (der
Name ist nicht aufgeklärt) spielte das
Fürstentum Haliö und Wladimir (davon
das österreichische „Galizien und Lo-
domerien") keine geringe Rolle (Fürst
Daniil erhielt 1254 sogar die Königs¬
krone von Innocenz IV.), wurde aber
zuletzt ein Streitobjekt zwischen Un¬
garn und Polen, bis sich die Piasten
und Anjous einigten und Haliö mit
Lemberg 1340 vom König Kazimir d. G.
zu Polen geschlagen wurde, 1366 auch
Wladimir in Wolhynien. Diese Ge¬
biete hatten gleichfalls den Namen RuS
beibehalten und wurden auch als Be¬
standteile des polnischen Reiches so
benannt. Im mittelalterlichen Latein
wurde für das Land der Name Ru-
thenia, für seine Bewohner Rutheni
gebraucht, der ebenso zu bewerten ist
wie Böhmisch oder Ungarisch und nicht
erst von Österreich erfunden wurde,
wie Polen und Russen behaupteten.
In einer byzantinischen Urkunde kommt
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585
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
586
aber für Haliö schon 1292 die Bezeich¬
nung (uxQii 'Pa6<sCcc vor, also Kleinru߬
land, mit offenbarer Beziehung auf das
größere im Nordosten.
Merkwürdig war das Schicksal an¬
derer klein- und der weißrussischen
Gebiete. Auf dem Boden der Litauer,
die keine Slawen sind, entstand ein
Fürstentum, das sich bald nach dem
slawischen Osten auszubreiten begann.
Schon Gedimin vereinigte 1318—1320
das ganze Gebiet der alten Krivicer, in
denen wir Vorfahren der Weißrussen
zu erblicken haben, mit Litauen, ja all¬
mählich kamen auch kleinrussische Ge¬
biete bis nach Kiew und sogar über den
Dniepr hinaus dazu. In diesem Litauen
war die russische Kultur so stark, daß
sie auch nach der Taufe Jagiellos (1386),
welcher die eigentlichen Litauer der
katholischen Religion zuführte, im
Lande herrschend blieb und ein Kir¬
chenslawisch mit sehr vielen weiß- und
kleinrussischen Elementen vom 14. bis
fast zum 17. Jahrh. als Amtssprache
diente, denn nach dem Litauischen Sta¬
tut mußten die Akten „mit russischen
Buchstaben“ geschrieben werden. Nach
der politischen Union von Lublin (1569),
welche dem litauischen Kleinadel in
seinem Kampfe gegen die Magnaten die
Rechte des polnischen Adels brachte,
und nach der kirchlichen Union von
Brest (1596), welche einen großen Teil
der Klein- und Weißrussen dem Papste
und der lateinisch-polnischen Kultur
unterordnete, machte allerdings die Po-
Ionisierung der oberen Stände große
Fortschritte und blieb selbstverständ¬
lich nicht ohne Einwirkung auch auf
die niederen, so daß starke Polonismen
auch in die Sprache der Weiß- und
Kleinrussen Eingang fanden.
Das polnische Reich verwendete im
SO kleinrussische Kosaken als Grenz¬
wächter gegen die Krim-Tataren und
gegen die Türken. Eine solche Grenz¬
mark hieß Ukräjna oder Ukrajina (diese
Betonung ist jetzt im Kleinrussischen
üblich), ähnlich wie Österreich seine
Krajina, deutsch Militärgrenze gegen
die Türkei hatte. Ein anderer Name war
Hetmanscina, d. h. das Gebiet des Het-
man, des gewählten Oberhauptes der
Kosaken. Wenn wir noch Ru£ im Sinne
von Kleinrußland und Malorossija hin¬
zunehmen, so finden wir drei, oder
eigentlich vier Benennungen für Ge¬
biete der immer mehr den Südosten
kolonisierenden Kleinrussen, aber kei¬
ner bezeichnete das ganze Land. 6 ) Der
Name „Kleinrußland“ wurde in Moskau
1654 offiziell in den Zarentitel aufge¬
nommen, als die Kosaken, unzufrieden
mit den politischen, religiösen und so¬
zialen Zuständen Polens, sich mit dem
Hetman Bogdan Chmelnickij unter den
Schutz des Moskauer rechtgläubigen
Zaren stellten, der ihnen vollständige
Autonomie zusicherte, die aber schnell
beschnitten wurde, weshalb die Ko¬
saken bald wieder mit Polen und so¬
gar der Türkei paktierten; da teilten
sich Moskau und Polen im Frieden von
Andrusov (1667) das kleinrussische Ge¬
biet, wobei das ganze rechte Dniepr-
ufer bei Polen blieb bis zu seiner Tei¬
lung 1772. Der Moskau überlassenen
Ukraine konnte auch der Schwedenkö¬
nig Karl XII. unter Mazepa zu keinem
neuen Leben verhelfen, da er die
Schlacht von Poltava (1709) verlor, und
die Kaiserin Katharina II. zerstörte das
letzte Bollwerk der kleinrussischen Ko¬
saken, die Sic im Zaporozje, d. h. im
Gebiete „hinter den Stromschnellen“
des Dniepr (1775). Die Kaiserin Katha¬
rina nützte aber auch die religiösen und
6) Vgl. N. Kostomarov in seiner Ab¬
handlung „Zwei russische Volkstümer“ in
der Gesamtausgabe Istoriöeskija monografli,
Bd. I, S. 61, Petersburg 1872.
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587
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
588
sprachlichen Verhältnisse in den weiß- 1876 jeden Gebrauch der kleinrussi-
und kleinrussischen Provinzen des pol- sehen Sprache verbot. Unterdessen
nischen Reiches aus, um ihm den Un- hatte diese aber eine starke Pflege in
tergang zu bereiten. Nach den Teilun- Galizien gefunden, wohin nun die
gen Polens (1772—1795) kamen alle Ukrainer ihre Blicke richteten und die
weißrussischen und der größte Teil der dortigen Zeitschriften und die Lember-
kleinrussischen Gebiete zu Rußland, ger Sevcenko-Gesellschaft der Wissen-
Galizien aber zu Österreich; 1839 wurde schäften, die sich zu einer wahren Aka-
unter dem Kaiser Nikolaus die kirch- demie ausbildete, geistig und materiell
liehe Union durch eine Reunion abge- förderten. Bezeichnend ist die Behand-
löst, so daß auch die Glaubenseinheit lung des Namens für die Sprache und
der russischen Stämme wiederherge- das Volkstum ihres Wirkungskreises:
stellt wurde und nur Galizien bei Rom zuerst Ukraina-RuS und ruöko-ukraTns-
verblieb. kyj, dann aber nur Ukraina und ukra-
Mit der fortschreitenden Europäisie- inskyj, so daß der allgemeinnatio-
rung Rußlands wurde auch der Bann na i e Name Ukraine, ukrainisch sehr
der Kirchensprache gebrochen, und um j un g j st . Daneben gab es in Galizien
die Mitte des 18. Jahrh. begann die allerdings auch eine Richtung, welche
Einführung der Volkssprache in die an der Einheit der russischen Schrift-
Literatur, in welcher der Moskauer Dia- spräche und Kultur festhielt. Ironisch
lekt die Herrschaft erlangte. Dieser Pro- wurden die beiden Parteien nach der
zeß wurde am Beginn des 19. Jahrh. Aussprache des s im Namen „russisch“
vollendet und zu den großen Schrift- (ruskyj und russkij) die „Weichen“ und
steilem, welche die russische Schrift- die „Harten“ genannt. Recht bezeich-
sprache und ihre bedeutende Litera- nen d für das Verhältnis zwischen Groß-
tur schufen, gehört auch Gogol, ein un d Kleinrussisch! Man findet es unter
typischer Kleinrusse. In gleicher Weise solchen Umständen begreiflich, daß sich
begann man aber im Süden bereits am Rußland auch die Vernichtung des ukra-
Ende des 18. Jahrh. auch kleinrussisch inischen Piemont und die Eroberung
zu schreiben, liebevoll wurde auch das des letzten Fleckens russischer Erde
kleinrussische Volkstum studiert, das außerhalb Rußlands als Kriegsziel
Kosakentum fand eine echt romantische steckte.
Verherrlichung und seinen großen Dich- 2.
ter im genialen Taras Sevßenko, der Nach diesen Voraussetzungen sehen
aus dem leibeigenen Bauernstände her- wir uns die heutigen Siedlungsgebiete
vorgegangen war und so recht den der russischen Stämme in großen Zügen
demokratischen Charakter der neuen an. Kompakte Siedlungen gehen im
Bewegung charakterisiert. In Kiew bil- Westen vom Weißen Meer über den
dete ein Kreis von Gelehrten und Ladogasee zur Newamündung, längs
Schriftstellern, zu denen auch Sevöenko des Finnischen Meerbusens bis Narwa,
gehörte, eine Cyrill- und Method-Bru- längs des Peipussees bis nördlich von
derschaft, die auch eine Föderation sla- Drissa, von dort westlich bis Dünaburg.
Wischer Völker im Programme hatte, ein wenig südlich und dann in einem
Die Regierung löste die Gesellschaft großen Halbbogen westlich um Wilna
auf und verfolgte weiter das anrüchig herum, dann in einer westlichen Linie
gewordene Ukrainophilentum, bis sie von Grody bis Avgustov, von da süd-
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590
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
lieh ungefähr in einer geraden Linie bis
Tomaszöw an der galizischen Grenze,
doch sind diese Gebiete stark mit Po¬
len gemischt, so daß der westlich des
Bug gelegene Streifen Kongreß-Polens
ungemein verwickelte Verhältnisse auf¬
weist, da es hier auch kleinrussisch
sprechende Katholiken gibt, die leicht
zu Polen werden, was den Streit um
das Gebiet von Cholm (poln. Chehn)
erst recht erklärt. 7 ) Westlich davon bei
Tarnogrod überschreitet die Grenze Ga¬
lizien und erreicht nördlich der Fe¬
stung PrzemySl den San, geht aber in
den Karpathen noch viel weiter nach
Westen und überschreitet sogar ihre
südlichen Abhänge in Ungarn bis zur
Bukowina, deren nordwestlicher Teil
auch kleinrussisch ist. Dabei gibt es in
Ostgalizien eine sehr starke polnische
Oberschicht, ebenso in den anliegen¬
den Gouvernements von Wolhynien
und Podolien in Rußland, wo dann der
Dniestr eine Grenze bildet, doch gibt
es starke klein russische Minoritäten
auch an seinem rechten Ufer in Bessa-
rabien bis zur Donaumündung. An das
Schwarze Meer reichen die Russen bis
zum Hochgebirge des Kaukasus, doch
bevölkern sie dessen östlichen Teil nur
an der Küste des Kaspischen Meeres^
dann die beiden Ufer der Wolga in
deren unterstem Lauf, weiter sind aber
im ganzen Wolgagebiet östlich von
Niznij Novgorod bis zum Ural verschie¬
dene finnische und namentlich starke
tatarische Völkerschaften zwischen den
Russen eingesprengt. Im Norden be¬
siedelten Russen die Ufer der Flüsse,
die schiffbar sind und Fischern reiche
Beute versprechen, denn Fische sind
7) Vgl. auf russischer Seite „Karten der
russischen und orthodoxen Bevölkerung des
Cholmer Rußland* mit statistischen Tabel¬
len von V. A. Francev, Warschau 1909
(russisch).
für die sehr lange fastenden Russen ein
wichtiges Nahrungsmittel. Die Gebiete
am Onegasee und am Weißen Meere
sind das Island des russischen Volks¬
epos, der Bylinen, die eine tausendjäh¬
rige Geschichte hinter sich haben. Die
mit der rauhen Natur am Weißen Meere
kämpfenden Russen sind nicht arm,
sondern selbstbewußt und nennen die
Beamten — kaiserliche Bettler. Das ist
ein interessanter Beitrag zur Geschichte
der russischen Kolonisation und macht
uns begreiflich, warum der Provinz¬
russe, abgesehen von seiner Geduld,
verhältnismäßig so leicht die Autokra¬
tie und nun den Terror erträgt, denn
Gott ist hoch, der Zar und nun Lenin
aber weit.
Sibirien hat eine russische Kernbe¬
völkerung in einem breiten Streifen
von Omsk bis zum Baikalsee und dann
bis zur Bogenkrümmung des Amur
(der letzte große Ort ist Nertschinsk),
sonst sind aber nur die Ufer der Flüsse
und auch des Meeres von Russen be¬
siedelt. Das Riesengebiet von Sibirien
ist aber fast ganz russisch (nach Flo-
rinskij 87 o/o der Bevölkerung, nach
Niederle allerdings bloß 80,9°/o), doch
ist die Bevölkerung sehr dünn (0,5 auf
1 Quadratwerst) und zählte 1897 nur
gegen 5 Millionen Russen und 3 /* Mil¬
lionen der verschiedenartigsten Fremd-
Völker, die meist in sehr kleinen Grup¬
pen, aber auf Riesenflächen weit zer¬
streut sind. Überdies hat die russische
Kolonisation unterdessen sehr stark zu¬
genommen; in den nach 1897 folgenden
9 Jahren sollen nicht weniger als
1350000 Russen eingewandert sein.
Die Kolonisten im europäischen und
asiatischen Rußland sind überwiegend
Großrussen. Doch gibt es überall, auch
in Sibirien, Kleinrussen, selten sind
Weißrussen außerhalb ihres Siedlungs¬
gebietes.
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591
M. Murko, Die ethnographisdien Verhältnisse Rußlands
Weißrussen überwiegen nur in vier
Gouvernements: Mogilev (82,8%), Minsk,
Wilna (nur 56%) und Vitebsk (52,95
Prozent); in den anliegenden Gouverne¬
ments sind sie nur noch in kleinen
Prozentsätzen vertreten, am stärksten
in Smolensk (6,61%). Das kleinrussische
oder ukrainische Volkstum überwiegt
in den acht südlichen Gouvernements:
Poltava (92,98%), Podolien, Charkov,
Kiew, Wolhynien, Jekaterinoslav, Cerni-
gov (66,41%) und Cherson (53,48%).
Stark vertreten ist es noch im Gebiet
der Kuban-Kosaken, in den Gouverne¬
ments Taurien, Stavropol, Voronez
(36,18%), im Gebiet der Don-Kosaken
(28®/o) und in den Gouvernements
Kursk, Bessarabien (19,67%), Grodno
in Litauen (22,61%), Sedlec in Polen
(13,97 o/o).
Im J. 1897 zählte Rußland 128924289
Einwohner, davon 83933567 Russen,
daher mit Ausschluß von Finnland
zwei Drittel (66,8%) der Gesamtbevöl¬
kerung. Darunter 55667469 Großrus¬
sen, 22380551 Kleinrussen und 5885547
Weißrussen; demnach Großrussen dop¬
pelt soviel als Klein- und Weißrussen
zusammen. Wenn man noch die Klein¬
russen Galiziens (3 340 000), der Buko¬
wina (340000) und Ungarns (653000)
nach der Volkszählung von 1900 hin¬
zuzählt, so gab es gegen Ende des vo¬
rigen Jahrhunderts Kleinrussen über
26 Millionen, Russen überhaupt gegen
88 Millionen. Für spätere Jahre sind
nur Berechnungen nach dem jährlichen
Zuwachskoeffizienten möglich, als den
manche 1,25, andere 1,5 annehmen. Da¬
nach hätte Rußland vor dem Kriege
1914 eine Gesamtbevölkerung von un¬
gefähr 141 oder 193 Millionen gehabt,
während eine Schätzung russischer Sta¬
tistiker für 1913 176,4 Millionen ergab.
Die Wahrheit dürfte also ungefähr in
der Mitte liegen, und danach sind auch
die auf 1914 entfallenden Berechnun¬
gen nach den obigen Koeffizienten zu
beurteilen: Russen 105 oder 126 Mil¬
lionen, Großrussen gegen 70 oder 83,5
Millionen, Weißrussen 7356933 oder
8828520, Kleinrussen gegen 28 oder
33,5 Millionen (in Rußland allein). Aus¬
wanderer, hauptsächlich in Nord¬
amerika, sind dabei nicht berücksich¬
tigt.
Nun können wir kurz auch die
Kernfrage der russischen Ethnogra¬
phie erörtern: ist ein Auseinandergehen
der russischen Stämme in drei Na¬
tionalitäten, Schriftsprachen
und Staatswesen möglich und
wahrscheinlich? Bei den Weißrussen
ist das ausgeschlossen, um sie werden
sich nur die Russen und Polen strei¬
ten. Man bedenke nur, daß Mickiewicz
inNowogrödek im Gouvernement Minsk
geboren ist und daß die ersten Worte
seines Epos Pan Tadeusz lauten: „Li¬
tauen, mein Vaterland!“ Dieses histo¬
rische Litauen mit seiner litauischen
und weißrussischen Bevölkerung hat
jeder Pole in sein Herz eingeschlossen.
Anderseits wird der weißrussische Dia¬
lekt zwar sprachwissenschaftlich eifrig
studiert, besitzt aber nicht einmal eine
praktische Grammatik, und Versuche,
das Weißrussische zu schreiben gehen
über die Dialektschriftstellerei anderer
Völker nicht hinaus. Eine „Republik
Weißruthenien“ war daher von vorn¬
herein eine Totgeburt.
Sehr verwickelt ist die Frage bezüg¬
lich der Kleinrussen oder Ukrainer,
über welche die Ansichten stark geteilt
sind. Es kommt dabei sehr viel auf
den Ausgangspunkt ,an, was ich am
nächst liegen den Beispiel deutlich ma¬
chen will. Mein Vorgänger in Leipzig.
A. Leskien, ein hervorragender ver¬
gleichender Sprachforscher und slawi¬
scher Grammatiker, betrachtete das
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593
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
594
Kleinrussische nur als einen Dialekt
des Russischen. Leskien war ein Deut¬
scher aus Kiel, der das Plattdeutsche
sehr gut kannte. Nun ist der Unter¬
schied zwischen Niederdeutsch und
Hochdeutsch bei weitem größer als
zwischen Groß- und Kleinrussisch, na¬
mentlich im Konsonantismus, worin
das Niederdeutsche noch auf dem
Standpunkte der ersten Lautverschie¬
bung steht. Ich gehöre jedoch einem
der kleinsten slawischen Völker an und
bin in Österreich aufgewachsen, wo
die Ruthenen Galiziens und der Buko¬
wina Sprachenrechte hatten und ihre
Sprache eifrig pflegten. Wenn nun die
Ukrainer in Rußland dasselbe tun wol¬
len, so ist das ihre Sache, Schriftspra¬
chen werden ja nicht von Gelehrten,
sondern von Schriftstellern geschaffen,
beim Volke entscheidet aber das Be¬
dürfnis oder sein Wille. So faßten auch
viele tonangebende Russen die Sache
auf und die Abteilung für russische
Sprache und Literatur der Petersbur¬
ger Akademie der Wissenschaften gab
1905 auf eine Anfrage der Regierung
das Gutachten ab, daß die Umgangs¬
sprache der Kleinrussen zur Sprache
der neuen kleinrussischen Literatur ge¬
worden und daher ihre Pflege berech¬
tigt sei. Politische Bedenken wollten
die russischen Liberalen nicht gelten
lassen: z. B. lehnte der Literarhistori¬
ker und Ethnograph Pypin den Ver¬
dacht eines hochverräterischen Sepa¬
ratismus mit der wegwerfenden Frage
ab, wohin die Kleinrussen abfallen
könnten. Dem Präsidenten der russi¬
schen Abteilung der Akademie, A.
Sachmatov, dem führenden russischen
Linguisten, der an dem genannten Gut¬
achten stark beteiligt war, bereitete da¬
her die Haltung der Ukrainer im Welt¬
kriege die größte Enttäuschung und
mehr Schmerz als die Bauernbanden,
die sein Gut bei Saratov vernichteten.
Aber auch Deutschland, das mit einer
selbständigen Ukraine Frieden schloß,
wußte mit ihr nichts anzufangen und
trieb eine dilettantenhafte Schaukel¬
politik, die noch heute von der deutsch¬
ukrainischen Gesellschaft in Berlin leb¬
haft bekämpft wird. Die Hauptschuld
wird auf die großrussisch orientierten
Deutschen aus Rußland geschoben.
Man versteht aber auch leicht den
Standpunkt eines russischen Deutschen,
der mit der russischen Schriftsprache
im ganzen Reich fortkommen will und
den Wert eines großen Wirtschaftskör¬
pers lebhaft fühlt. Vorsichtig und ver¬
nünftig behandelt die Frage der Geo¬
graph A. Hettner 8 ), welcher erklärt,
daß die geographischen Verhältnisse
einer Trennung nicht günstig sind, denn
die Volksgrenze fällt mit keiner Na¬
turgrenze zusammen. Das sieht auch
ein Laie sofort, wenn er z. B. das Step¬
pen- oder Schwarzerdegebiet betrachtet.
Überdies sind Großrußland und die
Ukraine wirtschaftlich und auch poli¬
tisch aufeinander angewiesen. Nament¬
lich wäre die Ukraine, die ohnehin nicht
alle Volksgenossen umfassen könnte,
gegenüber ihren mißgünstigen Nach¬
barn zu schwach, Rußland kann sich
aber unter keinen Umständen vom
Schwarzen Meere verdrängen lassen.
Und was hätte die Welt von einer
selbständigen Ukraine? Nach Konstan¬
tinopel und nach den Meerengen hätte
auch sie die Augen gerichtet und müßte
sich gerade deshalb wieder an Moskau
anlehnen. Über den Volkswillen der
breiten Massen kann man sich schwer
ein Urteil bilden, bezüglich der Schrift¬
sprache fand ich aber eine mich ver¬
blüffende Statistik im Katalog der rus¬
sischen Abteilung der Bugra. Danach
8) Rußland’, 304.
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Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel
erschienen 1910 an selbständigen Wer¬
ken in russischer Sprache 22 321 Titel,
in kleinrussischer — 180. Da stehen die
Ukrainer unter den Völkern Rußlands
erst an 9. Stelle. Nach der Revolution
1905 erschienen zwar zahlreiche Zei¬
tungen und Zeitschriften, aber es
scheint ihnen meist kein langes Le¬
ben beschieden gewesen zu sein; sonst
fiel mir aber die große Zahl grammati¬
scher und ähnlicher Handbücher auf,
doch ein 30—40-Millionen-Volk, was
die Ukrainer sein wollen, braucht et¬
was mehr für seine geistigen Bedürf¬
nisse. Aus dieser Statistik ersieht man
aber auch den hohen Kulturwert der
russischen Sprache, die tatsächlich eine
Weltsprache für das Riesenreich ist
und auch an der Spitze der slawischen
Völker steht, mögen diese im Westen
noch so sehr fortgeschritten sein. Um
die geistige Potenz der übrigen Völker
Rußlands, von denen wir gleich reden
werden, zu charakterisieren, führe ich
noch folgende Zahlen an; an zweiter
Stelle steht die polnische Sprache mit
2062 Titeln, die jüdische 903, deutsche
884, lettische 649, esthnische 454, ta¬
tarische 313, armenische 203, die fran¬
zösische (ohne eine entsprechende Be¬
völkerung!) 132, grusinische (georgi¬
sche) 117, litauische 103 usw., erst an
18. Stelle steht der weißrussische Dia¬
lekt mit 14.
• Wir können also von der ukraffi!-
schen Frage mit der Erkenntnis schei¬
den, daß nur eine größere oder klei¬
nere Autonomie in Betracht kommt und
■ für die Pflege der ukrainischen Spra¬
che in Rußland noch sehr viel getan
werden müßte. Parallelen, wie solche
Fragen gelöst werden können, hat der
Weltkrieg in slawischen Staaten schon
gebracht.In der tschechoslowakischen Re¬
publik ist die slowakische Sprache im
ehemaligen nordwestlichen Ungarn, die
wirklich nur ein wenig verschiedener
Dialekt des Tschechischen ist, gleich¬
berechtigt, doch sind die Slowaken auf
die tschechische Literatur angewiesen
und werden es noch lange sein. Im
neuen südslawischen Staat (Jugosla¬
wien) ist neben der serbokroatischen
Sprache die slowenische gleichberech¬
tigt, die mit der serbokroatischen in
dem Grade verwandt ist, daß die slo¬
wenischen Abgeordneten, als in der Na¬
tionalversammlung in Belgrad das Pro¬
tokoll zum erstenmal auch in slowe¬
nischer Sprache verlesen wurde, er¬
klärten, das sei nicht notwendig. Ein
besonders interessantes Beispiel sind
aber die nach Ungarn verschlagenen
kleinrussischen Volkssplitter, für die
eine autonome Provinz innerhalb der
tschechoslowakischen Republik gebil¬
det wurde. (Schluß folgt.)
Barbusse und Duhamel.
Von Leo Spitzer.
Den Abstand Barbusses von seinen
französischen Zeitgenossen können wir
ermessen — und wir müssen ihn sorg¬
lichst abmessen, um das Frankreich
von heute nicht mißzuverstehen wie
das von 1914/18 —, wenn wir seine
Kriegsschilderung mit der Duhamels
vergleichen: das Werk „Vie des Mar-
tyrs 1914—1916“ spielt an derselben
Stätte wie das Kapitel „Le poste de
secours“ in „Le feu“, im Feldspital.
Wenn etwas uns von der Vieldeutig¬
keit der Dinge, sofern sie menschlicher
Beobachtung unterworfen werden, und
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597
Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel
598
der Mannigfaltigkeit der menschlichen
Beobachtungen, die verschiedene
menschliche Individuen am selben Ob¬
jekt machen können, überzeugen kann,
so ist es von alters her die Auffassung
des Krieges durch verschiedene Be¬
obachter gewesen: Duhamel und Bar¬
busse sind Zeitgenossen, beide Fran¬
zosen, beide scharfe Beobachter und
glänzende Darsteller volkstümlichen
menschlichen Empfindens, besonders
des menschlichen Leidens, beide von
der Ungeheuerlichkeit dieses Krieges
und des Krieges überhaupt überzeugt;
und sie gelangen trotzdem nicht nur zu
entgegengesetzten Urteilen über die
„Lehre“, die aus dem Beobachteten zu
ziehen sei, sie beobachten auch Ent¬
gegengesetztes. Es ist, als ob der Mensch
nicht bloß der Spiegel aller Dinge sei,
die Dinge scheinen auch abhängig vom
beobachtenden Subjekt.
Duhamel ist Beobachter wie Bar¬
busse: er will nicht das kleinste De¬
tail unterdrücken: „Pas une ride de
votre visage ne m’6chappe“, — so sagt
er zu den Verwundeten (Vie des Mar-
tyrs, S. 228) — „pas une de vos an-
goisses, pas un ffemissement de votre
chair lacöfee. Et j’inscris tout cela,
comme j’inscris vos paroles simples, vos
cris, vos soupirs d’espoir, comme j’in¬
scris aussi l’expression de votre visage,
ä l’heure solennelle oü l’on ne parle
plus. Aucun de vos propos ne m’est in¬
different; aucun de vos gestes qui ne
merite d’ötre rapporfe. II faut que tout
oela contribue ä l’histoire de la grande
6preuve“. Das ist also das Programm
der Naturtreue, der Hingegebenheit ans
Objekt — aber dies Objekt selbst zieht
in der Darstellung naturgemäß von dem
beobachtenden Subjekt an, es vermi¬
schen sich die Grenzen zwischen Ob¬
jekt und Subjekt. In der Verteilung der
Proportionen liegt das Geheimnis ver¬
schiedenen Sehens. Auch Duhamel sieht
gelegentlich den Egoismus der Men¬
schen im Kriege, wenn er von dem
Spiel der Leidenschaften spricht, die
selbst am Bette der Verwundeten nicht
haltmachen (S. 208), wenn er die Lum¬
pensammler erwähnt, die in den Trüm¬
mern der Zerstörung nach ihrer Ware
suchen (S. 209), oder etwa die sittliche
Verdorbenheit der Soldaten, an deren
Leichen man oft Frauenbriefe oder Lie¬
dertexte findet, die man den Hinter¬
bliebenen nicht zukommen lassen kann
(S. 132), die Betulichkeit der heuchle¬
rischen Caritas, wenn er die bonnes
Mesdames, die die Spitäler besuchen,
des öfteren apostrophiert, zurechtweist,
ihnen die wahrhaft Kranken zeigt. Aber
im allgemeinen sieht Duhamel doch
den französischen Soldaten, umstrahlt
von der Leidensglorie des Märtyrers, in
idealer Überlebensgroße. Duhamel malt
wie seine romantischen Vorgänger
„grandeur et servitude militaires“, oder,
wie er sagt, man muß „retraoer dans
sa v6rife et sa simplicife votre histoire
de victimes fcmissaires, l’histoire de ces
hommes que vous ötes dans la dou-
leur“. Die Leiden des französischen
Soldaten geben eine „majestueuse le-
9on“, vor der die ganze Welt andächtig
sich neigen möge (S. 229). Duhamel
ist gelegentlich auf dem Wege zur so¬
zialistischen Lehre Barbusses von der
gegenwärtigen ungleichen Verteilung
des Leidens, wenn er von der isolie¬
renden Kraft des Leidens spricht
(S. 196): „En döpit de toute protestation
de Sympathie, l’ötre, dans sa chair,
souffre toujours solitairement, et c’est
aussi pourquoi la guerre est pos-
sible ...“ Aber er hat nicht das Zeug
zum Revolutionär oder zum Politiker:
er begnügt sich, das Leiden des Sol¬
daten zu schildern, und wie ein braver
Chirurg an der Front verzichtet er an-
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599
Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel
600
gesichts des drängenden Gebots der
Stunde auf alles Philosophieren über
Ursprung und Zweck, Berechtigung und
Sinn des Krieges, Es ist soviel zu tun
und zu helfen, da darf man nicht grü¬
beln und denken. „Eh bien, soit! soit!
Pour moi, je veux rester ä cette place,
entre les brancards chargös d’une
grande douleur. Voici l’heure, oü l’on
peut douter de tout, de l’homme et du
monde, et du sort que l’avenir röserve
au droit. Mais on ne peut pas douter de
la souffranoe des hommes. Elle est la
seule chose certaine ä cet instant du
sifecle. Je resterai donc ä m’enivrer de
cette sinistre 6vidence“ (S. 209/10).
„Vous tous, Messieurs, qui vous r6unis-
sez pour parier des causes de la guerre,
de la fin de la guerre, de l’usure des
effectifs et des bases de la sociötü fu-
ture, excusez-moi de ne point vous
donner mon opinion sur ces graves
questions; je suis vraiment trop occupü
par la plaie de ce malheureux Gr6-
goire.“ Duhamel zieht den Rahmen sei¬
ner Bilder ganz eng: er versenkt sich
mit seinem ganzen Herzen in das Lei¬
den der Menschheit, er beschreibt bloß,
und gewiß ist mit diesem Minus, der
Absage an die Gedanken des Tages
und der Öffentlichkeit, ein künstleri¬
sches Plus, eine Verinnerlichung seiner
Darstellung, verbunden. Jeder Franzose,
ob Scharf- oder Flaumacher, wird wider¬
spruchslos Duhamel lesen können, wäh¬
rend Barbusse bei seinen französischen
Durchschnittslesern auf Schritt und
Tritt auf Widerspruch stoßen wird.
Und doch ist Duhamel nicht apoli¬
tisch, wie es auch der brave Chirurg,
an den wir erinnerten, nicht sein wird,
der am Feierabend oder auf Urlaub ge¬
wiß einer ganz bestimmten politischen
Richtung gegenüber seine Zustimmung
äußern wird, wie es überhaupt niemand
sein konnte, der diese je nachdem bald
groß, bald klein genannte Zeit denkend
miterlebte: Duhamel verfolgt auch eine
Tendenz, nur ist diese Tendenz weni¬
ger lehrhaft abgelöst von dem Bericht,
sie ist organisch verwebt in diesen und
scheint desto zwingender, je mehr sie
erraten werden kann.
Und ferner: Duhamel ist mehr tra¬
ditioneller Franzose als Barbusse, der
nur in seinem Aufklärungsglauben auf
gut französischem Boden steht, aber mit
seinem Internationalismus und Euro-
päertum das Erbe der Väter verleugnet.
Wie Duhamel sein Thema möglichst eng
zu begrenzen suchte (das Leid des fran¬
zösischen Märtyrersoldaten), so hat er
auch in nationaler Beziehung sich wil¬
lentlich Schranken unterworfen: es han¬
delt sich selbstverständlich nur um den
französischen Soldaten. Gleich die
ersten Zeilen des ersten Kapitels ziehen
den Rahmen: „Des campagnes dfefigurees
oü le canon regne, jusqu’ aux mon-
tagnes du Sud, jusqu’ä l’Ocüan, jusqu’au
rivage ötincelant de la mer inte-
rieure, le cri des hommes blesses re-
tentit ä travers le territoire et, de par
le monde, un immense cri semblable
s’616ve et lui r6pond“ — Frankreich
allein leidet und die Welt hört seinen
Leidensruf. Und nun ein paar Stücke
aus dem letzten Kapitel: „Hommes de
mon pays, j’apprends chaque jour ä
vous connaitre, et c’est pour avoir con-
templ6 votre visage au fort de la souf¬
franoe que j’ai forme un espoir reli-
gieux en l’avenir de notre race. C'est
surtout pour avoir admirö votre rösigna-
tion, bontfe native, votre oonfianoe sereine
en des temps meilleurs, que je fais en-
core credit ä l’avenir moral du monde.
A l’heure möme oü l’instinct le plus
naturel enseigne ä l’univers la feroöte,
vous gardez, sur vos lits de douleur,
une beaut6, une puretö du regard qui
rachetent, ä elles seules, 1’immense
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PRINCET ON UNIVER^^^
<301
Leo Spitzer, Barbusse und Duhamel
602
crime. Hommes de France, votre naive
grandeur d’äme disculpe toute l’hu-
manitö de son plus grand crime et la
relöve de sa plus profonde döcheance.
... Unions des coeurs purs pour
l’6preuve! Union des coeurs purs pour
que notre pays se connaisse ets’admire!
Union des coeurs purs pour la rödem-
ption du monde malheureux“ — Frank¬
reichs Leiden erlöst die Welt.
Also die traditionelle französische
Auffassung der Franzosen als Diener
der Weltkultur, als Märtyrer für die
Menschheit, als Erlöser der Menschheit,
eine „le^on morale“, die, wenn auch in
einer niemand verletzenden Form gebo¬
ten, doch in der Selbstverherrlichung
gipfelt, ein Stück uneingestandener Kul¬
turpropaganda für das Franzosentum
und also doch nicht so apolitisch, wiees
zuerst den Anschein hatte. Gewiß, Du¬
hamel denkt oft an die Menschheit (so
wenn er einen Abschnitt mit dem Sto߬
seufzer beendet, die Menschheit habe
niemand, der ihr in ihrem fortschrei¬
tend gefährlicher werdenden Leiden
beistehe wie dem kranken Soldaten der
Pfleger, S. 150), aber er sieht doch
vor allem Franzosen vor sich, und es
scheint ihm nicht der für den Euro¬
päer so einfache Gedanke zu kommen,
daß auch drüben, jenseits der fran¬
zösischen Frontlinie, Menschen mit dem¬
selben Heroismus leiden und eben¬
solche Märtyrer der Menschheit darstel¬
len, ja daß diese Parallelität des Lei¬
dens bei den beiden Feinden ein tra¬
gischer Zug des Kriegerlebens genannt
werden könnte. Nur schüchtern heißt
es etwa anläßlich des Heiterkeitsbe¬
dürfnisses der schmerzgepeinigten
„Märtyrer“ (S. 128): „C’est peut-ötre
une des particularit6s ou des gran-
deurs de notre race, c’est sans
doute, plus g6n6ralement, un
i m p 6 r i e u x besoin de 1’ h u m a n i 16
entiere.“ Die Solidarität der Mensch¬
heit ist bei Duhamel nicht zu spüren:
gerade der Abschnitt „La troisiöme Sym¬
phonie“, der ein Zugeständnis an den
Feind bedeuten sollte, die Erzählung
von jenem haßerfüllten kriegsgefan-
genen deutschen Feldwebel Spät, der
sich nur für einen Augenblick aufhei¬
tert, als der behandelnde Arzt ein Mo¬
tiv der Beethovensymphonie pfeift,
zeigt, wie alle inneren Brücken zwi¬
schen Frankreich und Deutschland ab¬
gebrochen sind: „Par-dessus l’abime, un
fröle pont venait d’etre tendu soudain..
La chose dura quelques secondes, et
j’y revais taujours, quand je sentis de
nouveau tomber sur moi une ombre
glaciale, irrfevocable, qui 6tait le re-
gard adversaire de Monsieur Spät.“ Du¬
hamel ist kindisch genug, die Schuld
am innern „Abgrund“ bloß der anderen
Seite zuzuschieben. Das ist wieder Po¬
litik... Gewiß, Duhamels Patriotismus
hat nichts von der Renommierverve
eines Renö Benjamin (dessen Ga spar d
vor allem Pariser und bloß eine Um¬
kostümierung des mit Bonmots wie
mit dem Leben spielenden Gavroche
ist); er ist durch Leiden verinnerlicht,
ein Patriotismus, der nicht zur selbst¬
gewissen moralischen Feistheit bei¬
trägt, sondern stets durch Taten, durch
Dulden erprobt werden muß. Ja, aus
dem Dulden und Leiden selbst kann
er erst induziert werden: die Toten
eines Soldatenfriedhofs scheinen Du¬
hamel im Chor zuzuflüstern (S. 96):
„II y a donc quelque chose de plus
precieux que la vie, il y a donc quel¬
que chose de plus n6cessaire que la
vie... puisque nous sommes id.“ Das
ist diskret genug ausgedrückt — aber
es ist der Ausdruck des opfervollen
Patriotismus.
Aus demselben Objekt, dem Krieg,
hat Duhamel eine patriotische „le^on“.
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604
603 Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
Barbusse sein Programm eines vater¬
landslosen Weltbürgertums herausge¬
lesen.
Beide begegnen sich in der Kriegs¬
feindschaft. Duhamel betrachtet den un¬
ermeßlichen Jammer des Krieges als
Sühne der Sünde des Krieges, Bar¬
busse als Blutzeugen gegen diese Sünde,
die vertilgt werden müsse. Der Tra¬
ditionalist sieht im selben Objekt eine
Stütze des Bestehenden, in dem der
Revolutionär den wankenden Grund der
gegenwärtigen Weltordnung erblickt.
Der Traditionalist ist stets akademi¬
scher, zurückhaltender, vornehmer, der
Revolutionär drastischer, krasser, ge¬
walttätiger im Ausdruck wie im In¬
haltlichen. Barbusse hat in sein auf
dem Hilfsplatz spielendes Kapitel alle
möglichen Scheußlichkeiten des gemar¬
terten menschlichen Fleisches und da¬
neben alle mögliche Theorie und ab¬
strakte Betrachtungen hineingestopft,
während Duhamel in seinem Buche
mehr die innerliche Seelenverfassung
der fleischlich Gemarterten malt, dabei
sorgsam alles Allzukrasse mildernd, das
blutrote Gemetzel in den Spitälern mit
den sanftesten Tönungen des seelischen
Leidens versetzend, estompierend, und
nur mit den Gedanken seiner Soldaten
— fast hätte ich gesagt: Patienten —
Die Erdkunde und ihre
Von Robert
Die Geographie ist eine der ältesten
und eine der jüngsten Wissenschaften,
eine der bekanntesten und eine der un¬
bekanntesten. Herodot war bei weitem
nicht ihr erster Vertreter; aber in den
Kreis ihrer akademischen Schwestern
ist sie kaum erst seit einem Menschen¬
alter als ebenbürtige Gespielin aufge¬
nommen worden. So glaubt jedermann
genau zu wissen, was man unter Geo-
denkend. Dem Feinnervigen wird das
Vergeistigte, Versöhnliche an Duhamel
besser behagen als die rücksichtslose
Derbheit Barbusses. Duhamel ist mehr
Klassizist, Barbusse mehr Naturalist.
Jener will erbauen und belehren, dieser
empören und zum Aufruhr reizen. Der
eine ist ein vornehmerer Künstler, der
andere ein leidenschaftlicherer Volkstri¬
bun. Für den einen ist die Parole Frank¬
reich, für den anderen die Vereinigten
Staaten der Welt, wenn auch jener
Frankreich für die Welt arbeiten las-
i
sen, dieser sein Projekt durch Frank¬
reich verwirklicht sehen möchte. Und
so wird denn der Franzosen freund lie¬
ber nach Duhamels Martyrologium, der
gute Europäer nach dem Feuerbuche
greifen. Um Duhamels Buch zu schrei¬
ben. war vor 'allem ein französisches
Herz notwendig, zu dem Barbusses der
Mut des Einsamen. Duhamel hat Frank¬
reich, Barbusse die Internationale hin¬
ter sich. Aber da letztere von keiner '
kompakten Majorität, keinem Terri¬
torium, keiner positiven Macht ge¬
stützt wird und nur im Reiche der
Gedanken lebt, ist wohl Duhamel vor¬
derhand reichlicherer Gefolgschaft sicher
— Barbusse bleibt der mutige Rufer
in der Wüste.
Nachbarwissenschaften.
Gradmann.
graphie versteht, und doch herrscht
über ihre wahren Ziele große Unklar¬
heit bis in die Kreise der Höchstge¬
bildeten.
Sie hat eigentümliche Schicksale ge¬
habt. Im Altertum hat sie bereits eine
Zeit hoher Blüte durchlebt. Aber ihre
allzu vielseitige Nützlichkeit und prak¬
tische Verwendbarkeit ist ihr immer
wieder zum Verhängnis geworden. Von
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605
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
606
allen Seiten wurde sie als Hilfswissen¬
schaft in Anspruch genommen, als
Hilfswissenschaft, die ja nur oberfläch¬
lich betrieben zu werden braucht, und
ihre wahre Bestimmung hatte man
darüber ganz vergessen. Wie nun im
letzten Drittel des neunzehnten Jahr¬
hunderts unter Führung von Oskar
Peschei die Geographie als Wissen¬
schaft wieder einmal entdeckt wurde,
wie man erkannte, daß sie aus ihrer
Aschenbrödelstellung befreit und wie
jede Wissenschaft um ihrer selbst wil¬
len betrieben werden muß, um ihre
ganze Tiefe, Kraft und Schönheit zu
offenbaren — da fand es sich, daß das
angestammte Gut der Entrechteten teils
verwahrlost, teils in fremde Hände
übergegangen war. Es kostete Mühe,
auch nur Grenzen und Umfang des
zuständigen Gebiets wieder festzustel¬
len. Das Ganze in eine feste Ordnung
zu bringen, ein wohlgegliedertes Lehr¬
gebäude aufzurichten, wie es andere
Wissenschaften unter allgemeiner An¬
erkennung längst besitzen, das ist bis
heute noch nicht gelungen. Die Geo¬
graphie ist hier in der gleichen Lage
wie ganz junge Wissenschaften, wie
etwa die Anthropologie, die Prähistorie,
die Sozialwissenschaft.
Diesen Übergangszustand möglichst
bald zu überwinden, die Merkmale der
Unreife möglichst gründlich abzustrei¬
fen, muß das angelegentliche Bestre¬
ben aller Fachvertreter sein. Mit be¬
sonderem Danke begrüßen wir daher
die Möglichkeit, vor einem so ansehn¬
lichen Gerichtshof wissenschaftlich Ge¬
bildeter unsere Auffassung darzulegen
und, so viel an uns ist, die brennenden
Prinzipienfragen ihrer Lösung entge-
genzu führen.
1 .
Die Grundfrage ist bereits gelöst; es
brauchen nur noch die Folgerungen
I
gezogen zu werden. Die Stellung
der Erdkunde im System der Wis¬
senschaften hat Alfred Hettner in
vollkommen überzeugender Weise fest¬
gelegt. Man kann eine Gruppe von
konkreten Wissenschaften unterschei¬
den, wozu neben den beschreibenden
Naturwissenschaften die Völker- und
Staatenkunde, die Wirtschaftslehre, die
Sprach-, Religions- und Kunstwissen¬
schaft gehört. In allen diesen Wissen¬
schaften lassen sich die Gegenstände je
von drei verschiedenen Standpunkten
aus betrachten, entweder nach ihren
sachlichen Eigenschaften oder nach
ihrer zeitlichen Entwicklung oder nach
ihrer räumlichen Anordnung. Das erste
ist die systematische, das zweite die
geschichtliche, das dritte die geogra¬
phische Betrachtungsweise.
Natürlich steht es jedem Vertreter
der einzelnen systematischen Wissen¬
schaften frei, die dreifache Betrach¬
tungsweise gleichzeitig an seinem Ge¬
genstände .durchzuführen, also neben¬
bei auch historisch und geographisch
zu arbeiten. Allein anerkanntermaßen
genügt es nicht, daß der Jurist Rechts¬
geschichte, der Nationalökonom Wirt¬
schaftsgeschichte, ein anderer Kriegs¬
und Staatengeschichte, Kunst-, Litera¬
tur- oder Religionsgeschichte betreibt.
Es muß auch eine Universalgeschichte
geben, und dazu bedarf es beson¬
derer Historiker, deren Lebensberuf
es ist, die Entwicklung der Gesamtkul¬
tur nach allen ihren Zweigen und deren
gegenseitigem Ineinandergreifen durch
die einzelnen Zeitalter hindurch zu er¬
forschen und zur Darstellung zu
bringen.
Was für die Geschichte, die Zeitwis¬
senschaft, gilt, das gilt ebenso für die
Raumwissenschaft, die Geographie. Es
genügt nicht, daß der eine die Gestal¬
tung der Erdrinde, ein anderer die
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€07
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
Verbreitungsverhältnisse der Pflanzen¬
welt, ein dritter die räumliche Anord¬
nung der Menschenrassen, der Völker
und Staaten, der Wirtschafts- und Sied¬
lungsformen je über den ganzen Erd¬
ball verfolgt. Es bedarf noch der Unter¬
suchung und Darstellung, wie alle die
einzelnen Erscheinungsreihen innerhalb
der einzelnen Erdräume Zusammenwir¬
ken und ineinandergreifen. Dies ist die
Lebensaufgabe des Geographen. Mit
anderen Worten: die Geographie ist
ihrem Wesen nach nichts anderes als
Länderkunde, dasselbe, was ein Hero-
dot, ein Ptolemäus und Strabo, was
Sebastian Münster und Karl Ritter ge¬
trieben haben und was man auch im
gewöhnlichen Leben allgemein unter
Geographie versteht.
Die neuere wissenschaftliche Auf¬
fassung der Geographie unterscheidet
sich von der vulgären nur durch Merk¬
male, die im Begriff der Wissenschaft
selber liegen. Sie kann sich nicht be¬
gnügen mit den einfachsten, an der
Oberfläche liegenden geographischen
Tatsachen, wie sie für manche prak¬
tischen Zwecke ja wohl ausreichend
sein mögen; sie muß wie jede Wissen¬
schaft nach Gründen fragen, den Ur¬
sachen der Erscheinungen nachforschen.
Da die einzelnen Erscheinungsreihen,
wie Klima, Boden, Pflanzenwelt,
menschliche Wirtschaft, Siedlung und
Verkehr, in mancherlei Wechselwirkung
stehen, so führt die kausale Betrach¬
tungsweise ganz von selbst zu einer
besonders innigen Verknüpfung der
verschiedenen Erscheinungsreihen, und
es kommt so das in sich geschlossene,
harmonische Landschaftsbild zustande,
das jedem Geographen als begeistern¬
des Ziel vorschweben muß und das
bei der zergliedernden Betrachtungs¬
weise der einzelnen systematischen
Wissenschaften so leicht verloren geht.
Und da die Ursachen der gegenwärti¬
gen Zustände großenteils in der Ver¬
gangenheit liegen, kommt mit der kau¬
salen zugleich die genetische Auffas¬
sung, der entwicklungsgeschichtliche
Gedanke, kommt ein historischer und
erdgeschichtlicher Zug in die Geogra¬
phie herein, der dem Fernerstehenden
leicht als Fremdkörper erscheinen mag.
Der Geograph darf den neu errunge¬
nen Standpunkt schon deshalb nicht
preisgeben, weil die erklärende, an die
Entwicklungsgeschichte anknüpfende
Beschreibung meistens zugleich die
beste, anschaulichste und bei aller
Kürze inhaltreichste Beschreibung über¬
haupt ist. Wenn ich von einem
Vulkan, einem Maare, einem glazialen
Trogtal, einem Kar, einer Anschwem¬
mungsküste, einer Kliffküste, einem
Waldhufendorf rede, so habe ich da¬
mit jedesmal die Entstehung angedeu¬
tet, zugleich aber dem Kenner eine sol¬
che Fülle von Merkmalen dargeboten,
wie sie eine rein formale Beschreibung
niemals in gleicher Kürze enthalten
könnte.
So klar und einfach die Auffassung
der Geographie als Länderkunde ist,
so ist sie doch im Rahmen des allge¬
meinen Systems der Wissenschaften
völlig neu und muß sich gegenüber
älteren Formulierungen, die heute noch
nicht ganz überwunden sind, erst
durchsetzen. Bei der Wiederentdeckung
der Geographie als Wissenschaft suchte
man begreiflicherweise die Ziele mög¬
lichst hoch zu stecken. Man knüpfte
an die Problemstellung an, wie sie im
Altertum Anaximander von Milet und
Pythagoras, wie sie später Varenius, Im¬
manuel Kant und Alexander von Hum¬
boldt sich zu eigen gemacht hatten:
man trieb allgemeine Geographie im
Sinne einer Wissenschaft von der Erde,
wozu der Name „Geographie“ oder
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609
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
610
„Erdkunde“ noch besonderen Anreiz
bot. Also nicht bloß Raumwissenschaft
sondern zugleich systematische Wis¬
senschaft vom Erdganzen sollte sie
sein. Nun ist eine solche allumfassende
Wissenschaft von dem Planeten, auf
dem wir leben, gewiß ein erhabener
Gedanke; allein für seine Durchführung
wäre heute auch Humboldts Geist an
Spannweite nicht mehr ausreichend.
Die allgemeine Erdwissenschaft müßte
neben einem tüchtigen Stück Astrono¬
mie die höhere Geodäsie, die gesamte
Geophysik, mindestens die gesamte all¬
gemeine Geologie, daneben die Völker¬
kunde und eine Reihe von Geisteswis¬
senschaften umfassen. Jede dieser Diszi¬
plinen ist inzwischen zur selbständi¬
gen Wissenschaft herangewachsen, die
für sich allein imstande ist, ein ganzes
Menschenleben auszufüllen. Sie alle ne¬
beneinander gründlich zu betreiben, ist
heute ein Ding der Unmöglichkeit, und
es besteht auch gar kein Bedürfnis da¬
für, da jede von ihnen längst in guten
Händen ist. Trotzdem wirkt die fehler¬
hafte Begriffsbestimmung immer noch
nach und bringt die Geographie in den
falschen Verdacht einer Allerweltswis¬
senschaft, die alles mögliche und nichts
gründlich betreibt.
Freiherr Ferdinand von Richtho-
fen war der erste, der gegenüber sol¬
chen allzu hoch gesteckten Zielen seine
geographische Meisterschaft in der Be¬
schränkung bewährt hat. Er erkannte,
daß die Grenzen der Geographie viel
enger gezogen werden müssen, und er
hat sie in der praktischen Durchfüh¬
rung bereits ganz ähnlich gezogen, wie
dies die neue Richtung tut; sie kann ihn
geradezu als ihr Vorbild in Anspruch
nehmen. Allein nach dem treffenden
Ausdruck dafür hat er vergeblich ge¬
rungen. Die Geographie als „Lehre von
der Erdoberfläche“ ist keine glückliche
Internationale Monatssdirift
Wendung; sie läßt die verschiedensten
Deutungen zu, und ganz entgegenge¬
setzte Auffassungen, teils viel zu ein¬
seitige, teils viel zu weite, konnten
sich auf sie berufen.
Für uns ist die Länderkunde der
Kern, ja das eigentliche Wesen der Geo¬
graphie, und die allgemeine Geographie
ist nichts als Einleitungswissenschaft;
sie hat die Aufgabe, alle diejenigen
Kenntnisse zu vermitteln, die für das
Verständnis und den kunstgerechten
Betrieb der Länderkunde erforderlich
sind. Sie tritt damit in eine dienende
Stellung zurück und muß sich von den
Bedürfnissen der Länderkunde ihre
Aufgaben vorschreiben lassen. Diese
sind weit bescheidener, als das abge¬
lehnte Programm einer allgemeinen
Wissenschaft von der Erde sie verlangt.
Mit dieser strafferen Zusammenfas¬
sung glauben wir auch unserer akade¬
mischen Aufgabe am besten zu dienen.
Denn wenn im Lauf der letzten Jahr¬
zehnte allenthalben an deutschen Hoch¬
schulen Lehrstühle der Geographie er¬
richtet worden sind, so geschah das
schwerlich, um enzyklopädische Kom¬
pilationen aller auf die Erde bezüg¬
lichen Wissenschaften vortragen zu las¬
sen, vielmehr um die heute doppelt
notwendige Kenntnis fremder Länder
und die vertiefte Kenntnis des eigenen
Vaterlandes und damit auch die Liebe
zu ihm zu vermitteln und in weiten
Schichten auszubreiten.
2 .
Auch bei solcher Selbstbeschränkung
bleibt die Geographie nicht von der
Auflage befreit, ihr Arbeitsfeld 'in Wei¬
tem Umfang mit den Nach bar wis&n-
schaften zu teilen und sich somit fast
beständig auf Grenzgebieten zu bewe¬
gen Wer ein Land beschreiben will,
muß die eigentümliche Gestaltung der
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611 Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften 612
festen Erdrinde und die Verteilung der
Gewässer beschreiben, er muß Klima
und Pflanzendecke berücksichtigen,
muß sich eingehend auch mit den Be¬
wohnern und deren Werken beschäfti¬
gen, schon deshalb, weil sie der Kul¬
turlandschaft die entscheidenden Züge
aufgeprägt haben. Die Geographie teilt
geradezu jedes ihrer Objekte mit an¬
deren Wissenschaften: das liegt in der
Natur der Sache und läßt sich nicht
ändern, mögen sich auch noch so ver¬
wickelte und unbequeme Rechtsver¬
hältnisse daraus ergeben.
Die Geschichtswissenschaften sind in
einer ähnlichen und doch weit gün¬
stigeren Lage. Die ältesten Perioden
der Erdgeschichte bis zum Erscheinen
des Menschen sind ausschließlich Sache
des Geologen; die Urgeschichte behan¬
delt der Prähistoriker nach eigenen
Methoden, und nur die jüngsten Perio¬
den bleiben dem eigentlichen Histori¬
ker überlassen. Hier spielen die natür¬
lichen Veränderungen der Erdober¬
fläche nur noch eine untergeordnete
Rolle, und so kann der Historiker auf
eine engere Fühlung mit den Naturwis¬
senschaften ungestraft verzichten. Diese
Arbeitsteilung ist eine wesentliche Er¬
leichterung. Der Geograph hat es nicht
so gut; er hat es, ob er nun Mittel¬
europa oder die Südseeinseln, ob er
Tropenland schäften oder solche des ge¬
mäßigten Gürtels zu seinem Arbeits¬
gebiet erwählt, stets mit der Natur und
dem Menschen zu tun, und ist dadurch
zu einer fast beängstigenden Vielsei¬
tigkeit gezwungen.
Freilich verfährt die Länderkunde nicht
mehr in der naiv dilettantischen Weise,
daß planlos alles nur Erdenkliche her¬
beigezogen wird, was innerhalb des
einzelnen Erdraums irgendwie „sehens¬
würdig“ oder sonst „bemerkenswert“
erscheint. Es lassen sich recht wohl
feste Grundsätze dafür aufstellen, was
geographisch bedeutsam ist und was
nicht; auch aus der Geographie der
einzelnen Erscheinungsreihen entneh¬
men wir für die Länderkunde nur eine
Auswahl nach ganz bestimmten Ge¬
sichtspunkten. Aber Unmögliches hat
man versucht, wenn man jene Grenz¬
gebiete so aufteilen wollte, daß ein be¬
stimmter Anteil dem Geographen, ein
anderer dem Vertreter der entsprechen¬
den systematischen Wissenschaft als
selbständiges Arbeitsgebiet zufällt. So
wollte man die Klimatologie ausschlie߬
lich der Geographie Vorbehalten; die
Physik sollte sich auf die Meteorologie
beschränken. Die Verbreitung der ein¬
zelnen Wirtschaftsformen über die
ganze Erde sollte lediglich Sache des
Nationalökonomen sein, der Geograph
sollte sich nur mit den wirtschaft¬
lichen Verhältnissen der einzelnen Erd¬
räume beschäftigen oder gar nur mit
den natürlichen Grundlagen der
menschlichen Wirtschaft. Mit dem glei¬
chen Recht könnte man verlangen, daß
der Botaniker sich auf die Verbreitung
der einzelnen Sippen, der Geograph
auf die botanische Ausstattung der ein¬
zelnen Erdräume beschränkt. Solche
künstlich aufgerichteten Schranken sind
nur dazu da, um von beiden Seiten be¬
ständig übersprungen zu werden. Man
muß sich ein für allemal damit abfin-
den, daß alle diese Grenzgebiete unteil¬
bare Kondominate sind, mit allen Un¬
bequemlichkeiten dieses eigentümlichen
völkerrechtlichen Verhältnisses, Arbeits¬
felder, zu deren Beackerung jede der
beiden Nachbarwissenschaften gleiches
Anrecht hat. Der Unterschied besteht
nur darin, daß der Geograph anders
betont als der Systematiker, daß er auf
das landschaftlich Bedeutsame und
geographisch Wirksame besonderen
Nachdruck legt und andere Dinge, mö-
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613
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
614
gen sie von sonstigen Gesichtspunkten
aus noch so bemerkenswert sein, in
den Hintergrund treten läßt.
Zur Länderkunde gehört vor allem
die Länderbeschreibung. Der Geograph
hat daher in erster Linie alles das zu
berücksichtigen, was einen wesent¬
lichen Bestandteil der unmittelbar sinn¬
lich wahrnehmbaren Landschaft aus¬
macht; das verstehen wir unter dem
landschaftlich Bedeutsamen. Um die
volle Würdigung dieses Gesichtspunkts
hat sich besonders Otto Schlüter
verdient gemacht. Daneben gibt es aber
eine große Anzahl von Tatsachengrup¬
pen, die ohne unmittelbar in der Land¬
schaft hervorzutreten, durch ihre Wirk¬
samkeit gegenüber anderen Erschei¬
nungsreihen um so bedeutungsvoller
werden. Dazu gehören z. B. klimatolo-
gische Werte wie Luftdruck, mittlere
Luftwärme, mittlere Niederschlagshöhen
oder auch kulturgeographische Erschei¬
nungen wie politische Grenzen, Ver¬
breitung der Sprachen, der Religions¬
bekenntnisse. Das verstehen wir unter
dem geographisch Wirkungsvollen.
Das Rechtsverhältnis des Kondomi¬
nats erleidet nur ganz wenige Ausnah¬
men. Gewisse Grenzgebiete sind bisher
von den systematischen Wissenschaf¬
ten vernachlässigt und der Geographie
zur alleinigen Bearbeitung überlassen
worden; kraft eines vorläufigen Ver¬
zichts gelten sie daher einstweilen als
deren alleiniges Eigentum. Aber dieses
Verhältnis ist jeden Tag kündbar. So
hat im Altertum und bis tief in die
Neuzeit herein die Topographie, die
Feststellung der Lageverhältnisse, als
wuchtigster und unveräußerlicher Be¬
standteil der Geographie gegolten; das¬
selbe galt bis vor kurzem für die Völ¬
kerkunde. Heute sind sie beide zu selb¬
ständigen Disziplinen herangewachsen.
Die politische Geographie, als Wissen¬
schaft erst vor zwei Jahrzehnten von
dem Geographen Friedrich Ratzel
ins Leben gerufen, wird neuerdings
durch den Schweden Kjellön ener¬
gisch und mit Erfolg für die neue
Wissenschaft der Staatenkunde in An¬
spruch genommen, und nicht minder
eifrig wird jetzt unter der Marke der
Weltwirtschaft von nationalökonomi¬
scher Seite Wirtschafts- und Verkehrs¬
geographie getrieben. Die Nachbarwis¬
senschaften machen damit nur von
ihrem guten Rechte Gebrauch.
Im Alleinbesitz der Geographie befin¬
det sich augenblicklich nur noch die
Geomorphologie und die Siedlungsgeo¬
graphie. Öie Geomorphologie oder die
Lehre von den Formen der Erdober¬
fläche und ihrer Entstehung muß
grundsätzlich als ein Grenzgebiet zwi¬
schen Geographie und Geologie ' an¬
erkannt werden. Aber während diese
Disziplin für den Geologen nur unter¬
geordnete Bedeutung hat und bisher
von seiner Seite nur wenig beachtet
wurde, ist sie für den Geographen die
unerläßliche Grundlage jeder länder¬
kundlichen Darstellung. Seit ihrer Ent¬
deckung durch Oskar Peschei und
ihrem ersten Ausbau durch Ferdi¬
nand v. Richthofen und Albrecht
Penck wird sie daher von den Geo¬
graphen aufs eifrigste gepflegt, und
man darf wohl sagen, mit glänzendem
Erfolg. Aber unbestrittener Alleinbesitz
ist sie schon jetzt nicht mehr. Be¬
reits haben einzelne Geologen begon¬
nen, von dem gemeinsamen Grenz¬
gebiet auch ihrerseits Besitz zu er¬
greifen, und in der Folge wird dies
sicher noch in größerem Umfang ge¬
schehen; eine Mitarbeit, über die wir
uns nur freuen können. Ebenso kann
eines Tages die Siedlungskunde als
eigene Wissenschaft erstehen und von
der älteren Schwesterwissenschaft ihren
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Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
616
Anteil an der Siedlungsgeographie for¬
dern.
So dürfte bald von den sämtlichen
Erscheinungsreihen, mit denen es die
Länderkunde zu tun hat, keine einzige
mehr der Geographie zur alleinigen
Bearbeitung zur Verfügung stehen.
Aber auch dann bleibt dem Geogra¬
phen noch ein großes, selbständiges
Arbeitsfeld; das ist die Verknüpfung
der verschiedenen Erscheinungsreihen.
Sie kann im Rahmen der Länderkunde,
aber auch in Form von besonderen
Einzeluntersuchungen erfolgen.
Die Länderkunde macht niemand dem
Geographen streitig. Wenn sich ein an¬
derer darin versucht, so ist er sich be¬
wußt, in diesem Augenblick als Geo¬
graph tätig zu sein, und eine kunstge-
gerechte Ausführung wird schwerlich
gelingen ohne die besondere geogra¬
phische Vorbildung, zu der die gleich¬
zeitige Beherrschung einer Reihe von
Grenzgebieten ganz wesentlich gehört.
Eine solche vielseitige Vorbildung be¬
fähigt aber auch allein zu einer be¬
stimmten Klasse von Einzeluntersuchun¬
gen, deren Eigentümlichkeit in der Ver¬
knüpfung scheinbar entlegener Erschei¬
nungsreihen besteht. So ist es zwar für
jeden Botaniker selbstverständlich, daß
er, um die Verbreitung einer beliebigen
Pflanzenart zu erklären, auf Klima- und
Bodenverhältnisse zurückgreifen muß.
Ebenso ist jedem Statistiker wohlbe¬
kannt, durch welche Ursachen eine ört¬
liche Zusammenballung der Bevölke¬
rung bedingt sein kann: hohe Boden¬
fruchtbarkeit, Vorkommen von minera¬
lischen Bodenschätzen, günstige Ver¬
kehrslage, politische Begünstigung, und
daß er sich mit all diesen Verhältnis¬
sen vertraut machen muß, um das Pro¬
blem zu lösen. Aber es gibt auch ent¬
ferntere und weniger auf der Hand
liegende Beziehungen. So lassen sich
ganz unerwartete Zusammenhänge er¬
kennen zwischen Pflanzengrenzen und
Siedlungsgrenzen. In den TropenLUn-
dern knüpft sich eine dichtere Bevöl¬
kerung, wie besonders Ratzel gezeigt
hat, stets an die Steppen- und Savan¬
nengebiete; die weiten Regenwaldge¬
biete sind fast menschenleer. Die Ver¬
breitung der Araber zeigt gewisse Be¬
ziehungen zur Verbreitung der Dattel¬
palme, oder um ein Beispiel aus der
Nähe zu wählen: die Grenzen des frän¬
kischen Nadelholzgebiets fallen annä¬
hernd zusammen mit dem rätischen und
obergermanischen Limes des einstiger.
Römerreiches. Besonders merkwürdige
Beziehungen bestehen auch zwischen
Siedlungsformen und bestimmten Orts¬
namenformen, weiterhin zwischen vor¬
geschichtlicher Besiedlung und anderer¬
seits der Verbreitung bestimmter Pflan¬
zengruppen und bestimmter Nieder¬
schlagsverhältnisse, Zusammenhänge
die auf den Gang der Besiedlungsge¬
schichte und damit auf die Grundlagen
der heutigen Siedlungsverhältnisse
überraschende Lichter werfen. Kaum
jemand anders als der Geograph ist in
der Lage, alle diese Zusammenhänge
überhaupt zu bemerken, geschweige
denn zu enträtseln. Der Naturforscher
hat in der Regel mit der Geschichte
und Völkerkunde, der Historiker mit
den Naturwissenschaften zu wenig Füh¬
lung. Für den Geographen liegt hier
eines der lohnendsten Arbeitsgebiete
wo er seinen Scharfsinn üben und den
Vorteil seiner vielseitigen Vorbildung
ausnützen kann. Hier winkt ihm reiche
Beute an neuen, nur ihm allein zugäng¬
lichen Entdeckungen.
3.
Für die Selbständigkeit und das An¬
sehen einer Wissenschaft ist es beson¬
ders förderlich, wenn sie neben einem
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617
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
618
gut abgegrenzten Stoffgebiet auch über
besondere Arbeitsweisen verfügt, die
ihr alleiniges geistiges Eigentum und
nur dem Fachmann erreichbar sind,
so wie etwa die Medizin, die Physik
und Chemie, die biologischen Wissen¬
schaften mit ihren mikroskopischen
und experimentellen Untersuchungsme¬
thoden oder die Geologie mit ihrer
paläontologischen Methode. Auch nach
dieser Richtung nimmt die Geographie
eine kaum beneidenswerte Sonderstel¬
lung ein: sie ist besonders reich an
Methoden, aber arm an solchen, auf die
sie ein ausschließliches Anrecht be¬
sitzt.
Es ist ein verhängnisvoller Irrtum,
wenn man glaubt, die erwünschte Ar¬
beitsteilung etwa in der Weise durch¬
führen zu können, daß die einzelnen
Grenzgebiete von den Vertretern der
entsprechenden systematischen Wissen¬
schaften je mit ihren besonderen geo¬
logischen, botanischen, physikalischen,
historischen, vom Geographen aber aus¬
schließlich mit geographischen Metho¬
den zu bearbeiten wären. Damit würde
man zu jenem unerträglichen Zustande
zurückkehren, daß jeder seine eigene
Methode für die alleinseligmachende
hält, daß man z. B. in vorgeschichtlichen
Fragen, wie das der treffliche Viktor
Hehn getan hat, vom philologischen
Standpunkt aus für falsch erklärt, was
von einem anderen, etwa dem archäo¬
logischen, unzweifelhaft feststeht. Es
gibt nur eine Wahrheit, und sie muß
mit allen verfügbaren Erkenntnismit¬
teln gesucht werden. Wer auf einem
Grenzgebiet selbständig forschen will,
muß sich auch mit den Methoden der
Nachbarwissenschaft unbedingt vertraut
machen. Aus der großen Zahl der geo¬
graphischen Grenzgebiete ergibt sich
damit für die Geographie eine noch
größere Vielheit von Methoden, die den
Nachbarwissenschaften zu entlehnen
sind.
Daneben verfügt die Erdkunde aller¬
dings noch über einige besondere For-
schungs- und Darstellungsmethoden,
auf die ihr ein geistiges Eigentums¬
recht unzweifelhaft zusteht. Allein auch
sie verbürgen noch nicht die unabhän¬
gige Stellung der Geographie. Teils ge¬
hören sie nicht mehr ihr allein an,
teils sind sie nur in Verbindung mit
anderen Methoden verwendbar.
Die kartographische Methode oder
die Kunst, sich in Form eines Grund¬
risses eine genaue Übersicht über be¬
liebige räumliche Verhältnisse an der
Erdoberfläche zu verschaffen, war von
jeher mit der Geographie aufs engste
verbunden und wird noch heute von
ihr als vornehmstes und unschätzbares
Darstellungsmittel und neuerdings, seit
die Land- und Seekartenwerke großen
Maßstabs vorliegen, immer mehr auch
als Forschungsmittel benutzt. Aber die
Verbindung mit der Geographie hat
sich gleichwohl gelockert. Aus der
Kartographie ist eine eigene technische
Wissenschaft in Verknüpfung mit der
Geodäsie geworden, und zugleich ist
ihre Handhabung in so weite Kreise ge¬
drungen und findet so mannigfaltige
Verwendung für technische und wis¬
senschaftliche Zwecke aller Art, daß man
von einer rein geographischen Methode
hier längst nicht mehr sprechen kann.
Daß die Geographie sich eine eigene
Kunstsprache geschaffen hat und sie
zu immer größerer Klarheit und
Schärfe auszuarbeiten strebt, daß sie
ihr Gebiet, das ist die Erdoberfläche,
durch Gliederung in „natürliche Land¬
schaften“ zu bemeistern sucht, vermag
ihr ebensowenig eine besondere Stel¬
lung zu verschaffen; ganz dasselbe tun
auch andere Wissenschaften auf ihrem
Gebiete.
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619
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
620
Etwas der Geographie Eigentümliches
scheint dagegen die jetzt sehr viel an¬
gewandte sogenannte morphologische
Methode. Sie besteht darin, daß man
aus den Formen der Erdoberfläche un¬
mittelbar auf die Art ihrer Entstehung
zurückschließt. Man schließt z.B. aus
dem Vorkommen von Flußterrassen auf
wiederholte, durch eine Ruhelage un¬
terbrochene Talvertiefung, aus einer be¬
stimmten Form des Talquerschnitts auf
ehemalige Vergletscherung, aus be j
stimmten Küstenformen auf Küstenzer¬
störung durch die Meeresbrandung
oder auch auf Küstenhebung und Ko¬
stensenkung. Auch die vielgenannte
„deduktive“ Methode der Amerikaner
unter Führung von W. M. Davis ist
nichts anderes als die morphologische
Methode in etwas abenteuerlicher Ver¬
schleierung. — Die Anwendung der
morphologischen Methode erfordert be¬
sondere Vorsicht und Besonnenheit: sie
hat der Geographie die überraschend¬
sten Erfolge, aber auch manche emp¬
findliche Niederlage gebracht. Wirtnüs¬
sen uns darüber klar sein, daß die Ge¬
fahr des Zirkelschlusses hier ganz be¬
sonders naheliegt: aus den Formen der
Erdoberfläche schließen wir auf ge¬
wisse Vorgänge, und diese Vorgänge
sollen ihrerseits wieder die Ober¬
flächenformen erklären. Nach gesun¬
den wissenschaftlichen Grundsätzen
darf die morphologische Methode im¬
mer nur ein Notbehelf sein; stets muß
es unser Bestreben sein, die Vorgänge,
durch die wir die Formen erkLären wol¬
len, womöglich anderweitig, nament¬
lich auf geologischem Wege, nachzu¬
weisen. Es war daher gegenüber Os¬
kar Peschei ein bedeutender Fort¬
schritt, wenn Ferdinand von Richt¬
hofen die Morphologie entschieden
auf geologische Grundlage stellte, und
ebenso gewiß ist es ein Rückschritt,
wenn sich die amerikanische Schule
aufs neue darauf versteift, ganz ohne
geologische Hilfsmittel, ausschließlich
mit rein geographischen Methoden Mor¬
phologie treiben zu wollen.
Übrigens ist die morphologische Me¬
thode nur ein spezieller Fall des auch
sonst geübten Rückschlusses aus der
geographischen Gegenwart auf die hi¬
storische Vergangenheit. So schließt
man in gewissen Fällen aus der Ver¬
breitung der Pflanzen auf deren Ein¬
wanderungsgeschichte, aus gewissen
Tatsachen der Tierverbreitung auf ehe¬
malige Landverbindungen zwischen den
Kontinenten; so benutzt man die Ver¬
breitung bestimmter Siedlungsformen zu
Rückschlüssen auf den Gang der Sied¬
lungsgeschichte. Solche Rückschlüsse
haben stets einen besonderen Reiz; aber
hinter jedem lauert die gleiche Gefahr
des Zirkelschlusses, und jedesmal ist.
wenn das Ergebnis nicht Hypothese
bleiben soll, die Ergänzung durch eine
anderweitige Erkenntnisquelle dringend
geboten.
Ähnlich verhält es sich mit der eben¬
falls vielgeübten und besonders frucht¬
baren Methode der geographischen Ver¬
gleichung, einer besonderen Form der
Induktion. Bald handelt es sich um
Vergleichung verschiedener Erdräume,
bald um Vergleichung verschiedener
Erscheinungsreihen oder um beides zu¬
gleich; aber jedesmal sind es Verbrei¬
tungsbilder, Kartenbilder, entweder aus¬
geführte oder nur gedachte, die mitein¬
ander verglichen werden. Es ist nicht
ganz dasselbe, was Oskar Peschei, und
auch nicht, was Karl Ritter unter „ver¬
gleichender Erdkunde“ verstanden hat.
Die wertvollsten Dienste leistet die
Methode als Prüfstein für vermutete
Zusammenhänge, die bereits auf an¬
derem Wege erschlossen worden sind.
Ein Beispiel aus der Siedlungsgeogra-
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621
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
622
phie. Die sog. Weilersiedlungen, d.
h. die Ortschaften, deren Namen die
Endung -weder als Grundwort enthal¬
ten, hat man auf römischen Ursprung
zurückgeführt, weil das Wort, alt vi-
lare, ohne Zweifel mit dem lateinischen
villa zusammenhängt. Ist die Ansicht
richtig, dann muß sich die Verbreitung
der Weilersiedlungen auf das altrömi¬
sche Siedlungsgebiet beschränken. Dies
trifft am Mittelrhein tatsächlich zu, aber
gar nicht in Franken, wo die Ortsna¬
men mit der Endung -weder beträcht¬
lich über den römischen Limes hinaus¬
greifen, und auch nicht im Schwarz¬
wald, wo sie häufig sind in einem Ge¬
biet, das nachweislich erst im Mittel-
alter gerodet wurde. Die Hypothese
hat die Probe durch das Kartenbild
nicht bestanden.
Weit häufiger wird aus der Überein¬
stimmung der Verbreitungsbilder selbst
erst ein innerer Zusammenhang er¬
schlossen. Legt man sich eine Karte
über die Verbreitung des Nomadentums
an und vergleicht sie mit einer pflan¬
zengeographischen Karte, so stellt sich
heraus, daß die nomadische Lebens¬
weise an Wüsten- und Steppenländer
gebunden ist. Sie ist demnach eine
Anpassung an die Landesnatur und
nicht, wie schon die Griechen lehrten
und wie die Schulmeinung bisher all¬
gemein annahm, eine Kulturstufe, die
angeblich jedes Volk zu durchlaufen
habe; sie ist, wie Eduard Hahn ge¬
zeigt hat, ein geographisches, kein ge¬
schichtliches Phänomen.
Aber nicht immer ist der Zusammen¬
hang so eindeutig. Oft wird auf Grund
einer nur beiläufigen Übereinstimmung
ein bestimmter Zusammenhang vermu¬
tet, der sich dann bei genauerer und
umfassenderer Anwendung der verglei¬
chenden Methode als nicht stichhaltig
erweist. Im Bereich alemannischer Sied- J
lung treten Ortsnamen mit der Endung
-ingen besonders häufig auf, ebenso
häufig im fränkischen Siedlungsgebiet
die Namen auf -heim. Auf Grund die¬
ser und ähnlicher Beobachtungen hat
Wilhelm Arnold eine eingehende
Siedlungsgeschichte deutscher Land¬
schaften aufgebaut und ist damit zu Er¬
gebnissen gelangt, die sich in wesent¬
lichen Beziehungen als verfehlt erwie¬
sen haben. Dagegen bestätigt sich
durch Vergleichung mit der archäolo¬
gischen Fundkarte, die Arnold ver¬
schmäht hat, daß beide Namenendun¬
gen einer sehr frühen Siedlungsperiode
angehören. Während daher z.B. das
Regnitztal bis Forchheim herauf zu den
frühbesiedelten Gegenden zu rechnen
ist, muß die Umgebung von Erlangen
und Nürnberg, wo altertümliche Na¬
men fehlen und dafür Namen auf -reut,
-lohe, -bach, -dorf um so häufiger sind,
erst im Mittelalter gerodet worden sein,
wie überhaupt der größte Teil von
Mittelfranken. Diesem Umstand ver¬
dankt man die zahllosen, weit ausein¬
andergezogenen, oft so malerisch zwi¬
schen die Wälder und Obstgärten ein¬
gestreuten kleinen Weiler und auch
eine eigentümliche Flureinteilung, die
eine Zersplitterung des Grundbesitzes
und das Uberhandnehmen kleinbäuer¬
licher Verhältnisse weniger begünstigt,
als dies in den großen geschlossenen
Dörfern des älteren Kulturlandes am
Rhein, Main und Neckar der Fall ist.
Der überaus häufige methodische
Fehler, daß man sich mit der ersten
besten Lösung begnügt und sie durch
die geographische Übereinstimmung
ohne weiteres für erwiesen hält, läßt
sich meist nur durch eine sorgfältige
sachliche Untersuchung beseitigen, wo¬
bei außergeographische Methoden nicht
zu entbehren sind. August Grise-
bach hat den geistvollen Gedanken
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623
Robert Gradmann, Die Erdkunde und ihre Nachbarwissenschaften
624
gehabt, die Grenzlinien der einzelnen
Pflanzenareale mit der von Humboldt
erdachten Methode der Isothermen zu
verknüpfen. Schon diese Leistung allein
hätte genügt, ihm einen dauernden
Platz unter den bahnbrechenden För¬
derern der Pflanzengeographie zu si¬
chern. Deckt sich eine Pflanzengrenze,
wie z. B. die Polargrenze des Wein¬
stocks in Mitteleuropa, mit einer Iso¬
therme des wärmsten Monats, so ist an¬
zunehmen, daß der Pflanze hier durch
ungenügende Sommerwärme ein Ziel
gesetzt ist. Entspricht sie einer Iso¬
therme des kältesten Monats, wie etwa
die Ostgrenze der Stechpalme in
Deutschland, so ist auf Frostempfind-
iichkeit zu schließen. Mit vollem Recht
hatte Grisebach ursprünglich die For¬
derung aufgestellt, die vorgenommene
Deutung des geographischen Zusam¬
menhangs müsse jedesmal durch un¬
mittelbare botanische Beobachtung erst
bestätigt werden; erst dann sollte die
betreffende Pflanzengrenze als klima¬
tisch bedingte „Vegetationslinie“ gel¬
ten. In unseren beiden Fällen ist die
Bestätigung einfach: die Erfahrung
lehrt, daß die Rebe jenseits ihrer Po¬
largrenze die Beeren nicht mehr ge¬
nügend zur Reife bringt, und die Stech¬
palme geht, wenn sie außerhalb ihres
natürlichen Verbreitungsgebiets ge¬
pflanzt wird, leicht durch Erfrieren zu¬
grunde. Aber sehr bald hat man diese
Vorsichtsmaßregel außer acht gelas¬
sen, hat blindlings jede Pflanzengrenze,
wenn sie mit irgendwelcher künstlich
konstruierten klimatischen Linie in an¬
nähernde Übereinstimmung zu bringen
war, als „Vegetationslinie" gedeutet
und sie als unmittelbare Funktion des
betreffenden klimatischen Elements auf¬
gefaßt. Auch Grisebach selbst ist von
diesem methodischen Fehler nicht ganz
freizusprechen. Indem man übersah, daß
die geographische Übereinstimmung
auch durch ganz andere, sehr mittel¬
bare Zusammenhänge bedingt sein, daß
sie auch reiner Zufall sein kann, ist
man zu zahllosen Fehlschlüssen ge¬
langt. Eine solche einseitige und feh¬
lerhafte Anwendung der geographi¬
schen Vergleichung ist es z. B„ wenn
man die Waldgrenze auf der nörd¬
lichen Halbkugel durch die mittlere
Juliwärme von 10° bestimmt sein läßt.
Die behauptete Übereinstimmung mit
der Isotherme ist ohnehin nur eine
sehr beiläufige, und die genauere bota¬
nische Untersuchung lehrt, daß hier
viel zu mannigfaltige und verwickelte
Verhältnisse obwalten, als daß sie
durch bloße Vergleichung mit irgend¬
welchen Linien gleicher mittlerer Luft¬
wärme erfaßt werden könnten.
Ein Fall vorschnellen Sehließens aus
bloßer geographischer Übereinstim¬
mung auf einen ganz bestimmten Zu¬
sammenhang war es auch, wenn man
früher die Wüstenländer der Erde all¬
gemein als alte Meeresbecken auffaßte,
nur wegen des Reichtums an Sand- und
Salzböden und der weithin ebenen Ge¬
stalt. Heute sehen wir in dem allen
nur die Folge des durch die planeta¬
rische Lage bedingten trockenen Kli¬
mas. Verschärfte geographische Ver¬
gleichung, verbunden mit klimatologi-
schen, morphologischen, geologischen,
pflanzengeographischen Beobachtungen
hat uns zu der neuen Erkenntnis ge¬
führt.
So sehen wir überall, wie die Me¬
thode der geographischen Vergleichung
erst der Ergänzung und Nachprüfung
durch fremde Methoden bedarf. Sie er¬
füllt ihren Zweck in erster Linie als
heuristisches Prinzip. Das tut ihrem
Werte keinen Eintrag. Auf den richti¬
gen Weg zu leiten, ja auch nur neue
Probleme zu finden und zu neuartigen
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626
Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen
Gedankengängen anzuregen, kann für
das Leben und den Fortschritt der Wis¬
senschaft mindestens ebenso fruchtbar
sein wie die abschließende Lösung
einer gegebenen Frage.
Es hebt aber auch die Selbständig¬
keit der Geographie nicht auf, wenn
sie mit fremden Methoden zu arbei¬
ten gezwungen ist. Nicht die Methode,
die Fragestellung macht das Wesen der
einzelnen Wissenschaft aus, und gerade
dadurch unterscheidet sich die Wis¬
senschaft vom Handwerk, daß sie keine
mechanische Arbeitsteilung kennt, daß
sie sich nicht an ein bestimmtes Hand¬
werkszeug bindet. Der Schmied arbeitet
mit Hammer und Amboß, der Schlos¬
ser mit Schraubstock und Feile, der
Bader mit Pflaster und Schröpfkopf;
aber der wissenschaftlich ausgebildete
Arzt verwendet je nach Bedürfnis ne¬
ben den rein medizinischen auch die
allerverschiedensten physikalischen,che¬
mischen, biologischen Methoden. Nicht
minder erfolgreich bedient sich der Ju¬
rist, der Theologe historischer und phi¬
lologischer Methoden, und gerade die
Herübemahme fremder Methoden in die
eigene Wissenschaft hat häufig bahn¬
brechend gewirkt und entscheidende
Fortschritte begründet.
Die besonders vielfältige Berührung
mit anderen Wissenschaften ist das
Kreuz der Geographie, aber auch ihre
Zierde. Sie bringt viel Arbeit und Un¬
ruhe und birgt auch eigentümliche Ge¬
fahren; aber sie bewahrt vor Enge und
Einseitigkeit. Der Behagliche und Denk¬
träge und vor allem, wer zur Flüchtig¬
keit und Oberflächlichkeit neigt oder
wer die Wissenschaft nur als ein Vir¬
tuosentum des Gedächtnisses auffaßt,
der wird in der Geographie noch we¬
niger Lorbeeren ernten als anderswo.
Aber wer den Dingen gerne auf den
Grund geht, wer zugleich beweglichen
Geistes ist und die Mühe und Ver¬
antwortung nicht scheut, sich je nach
Bedürfnis bald in naturwissenschaft¬
liche, bald in geisteswissenschaftliche
Probleme und Methoden einzuarbeiten
und zu vertiefen, der mag es mit der
Geographie versuchen; er wird loh¬
nende Arbeit die Fülle finden.
Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen.
Von Emst Werner.
l.
Es ist in diesen Tagen eine undank¬
bare Aufgabe, für die bessere Gestal¬
tung des neusprachlichen Unterrichts
einzutreten. Handelt es sich doch da¬
bei in erster Reihe um die Sprache der
Franzosen und Engländer, die bestrebt
sind, das staatliche, wirtschaftliche und
kulturelle Leben unseres Volkes zu zer¬
stören. Man ist wenig geneigt, die
Werke ihrer Dichter und Denker als
wertvollen Bildungsstoff für unsere Ju¬
gend anzusehen, und fordert statt des¬
sen gründlichere Beschäftigung mit der
Muttersprache, mit dem eigenen Schrift¬
tum.
Aber wollte man sich wirklich die
Freude an Shakespeare, Carlyle und
Dickens verderben lassen, so würde die¬
ser Verzicht doch nichts an der Tat¬
sache ändern, daß wir gegenwärtig
mehr als je auf das Ausland angewie¬
sen sind und uns den aus dieser Lage
sich ergebenden Notwendigkeiten nicht
entziehen können.
Schon während des Krieges wurde
zugestanden, daß sich pianche Irrtümer
hätten vermeiden lassen, wenn man
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Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen
628
627
nicht nur die staatlichen Einrichtun¬
gen, die wirtschaftlichen Verhältnisse,
sondern auch die Seelenverfassung un¬
serer Nachbarn besser gekannt hätte.
So bekennt z. B., um eine amtliche
Kundgebung aus dem dritten Kriegs¬
jahr anzuführen, die Denkschrift des
preußischen Kultusministeriums über
die Förderung der Auslandsstudien (ab¬
gedruckt in der Internat. Monatsschrift
XI 514ff.): „Der Krieg hat auch die, die
die es noch nicht wußten, darüber auf¬
geklärt, wie erschreckend unsere Un¬
kenntnis ausländischen Denkens gewe¬
sen ist."
Wenn schon damals, bei Aussicht auf
günstigen Verlauf des Krieges, Aus¬
landsstudien in gesteigertem Umfang
für nötig angesehen wurden, wieviel
mehr unter gegenwärtigen Verhält¬
nissen!
Es soll nicht verkannt werden, daß
die Denkschrift vor allem staatswis¬
senschaftliche Kenntnisse, und zwar des
Auslandes in weitestem Sinne, im Auge
hat, aber unsere nächsten Nachbarn in
Westeuropa nicht ausschließt und die
Erwerbung der erforderlichen Sprach-
kenntnisse als unentbehrliche Vor¬
stufe voraussetzt. Den Grund zu einem
Wissen letzterer Art legt an der höhe¬
ren Schule der Neuphilologe. Ihm sol¬
len Sprache und Dichtung, aber auch
das Geistesleben der Völker, deren
Sprache er lehrt, vertraut sein. Doch es
ist ihm gegenwärtig, und wohl noch
lange, verwehrt, diese Kenntnisse an
der Quelle zu schöpfen. Daher gewin¬
nen die Ausbildungsmöglichkeiten, die
das eigene Land bietet, erhöhte Bedeu¬
tung.
In die Aufgabe, einzuführen in das
Studium der fremden Sprache, teilt sich
an unseren Universitäten der Ordi¬
narius mit dem Lektor meist in der
Weise, daß ersterer, häufig unterstützt
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von Extraordinarius und Privatdozent,
vorzugsweise die geschichtliche Seite
der Sprache, die ältere Zeit der Litera¬
tur pflegt, während letzterer die le¬
bende Sprache, häufig auch die neuere
Literatur lehrt. Entspricht dieser Zu¬
stand den Anforderungen, die man an
die Ausbildung der Lehrer neuerer
Sprachen unter gegenwärtigen Verhält¬
nissen stellen muß?
Offenbar ist man in weiten Kreisen
der Neuphilologen nicht recht von dem
augenblicklichen Stand der Dinge be¬
friedigt. Daher ist diese Frage auf der
Vortagung des Allgem. Neuphilologen-
Verbands behandelt worden, die als
Vorbereitung für die Hauptversamm¬
lung an Pfingsten am 1. und 2. Nov.
1919 in Halle stattfand. Danach soll,
nach einem Referat von Geh. Rat
Voretzsch, u. a. eine Vermehrung der
Lektorstellen in der Weise gefordert
werden, daß je ein Deutscher und ein
geborener Franzose (Engländer) neben¬
einander wirken (so schon in der preu¬
ßischen Ministerialverordnung vom Ja¬
nuar 1919 empfohlen), denen an grö¬
ßeren Universitäten noch Assistenten
beizugeben sind.
Außerdem soll die Zahl der Professu¬
ren für romanische Philologie um zwei,
die für Englisch um eine vermehrt
werden. Es geht aus den Leitsätzen
nicht hervor, daß einer Professur aus¬
schließlich oder auch nur vorzugsweise
die neuere Zeit (Pflege der lebenden
Sprache) zugewiesen werden soll; viel¬
mehr scheint der Wortlaut eine solche
Teilung auszuschließen („eine schema¬
tische Trennung der Lehraufträge nach
Sprachen oder Disziplinen müßte dabei
vermieden werden“). Somit bleibt die
Pflege der lebenden Sprache auch nach
diesem Vorschlag dem Lektor überlas¬
sen; damit steht in Einklang, daß die
Zahl der Lektoren vermehrt, u. U. auch
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PRINCETON UNIVERS
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630
Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen
Unterstützung durch Assistenten ins
Auge gefaßt ist.
Es ist kein Zweifel, daß durch die¬
sen Vorschlag die Lektorübungen we¬
sentlich gefördert werden sollen. Es
erhebt sich nun die Frage, ob eine der¬
artige Maßregel genügt, um das er¬
strebte Ziel zu erreichen, oder ob noch
weitere Schritte erforderlich sind.
Um darauf eine Antwort geben zu
können, sei die Stellung des Lektors,
wie sie sich allmählich gestaltet hat,
näher untersucht. Eine solche Prüfung
wird dann zeigen, was von dem Lek¬
torat in seiner jetzigen Gestalt oder
auch in der geplanten Erweiterung er¬
wartet werden darf.
2 .
Zunächst sei die Art der Besetzung
betrachtet.
Häufig wählte man zu Lektoren Aus¬
länder, meist solche mit sprachlicher
und literarischer Fachbildung, wenn
auch nicht ausschließlich; namentlich
lautliche Schulung hat manchem ge¬
fehlt, wie neuerdings Stiefel auf
Grund eigener und fremder Erfahrun¬
gen hervorhebt (Phonetik im fremdspr.
Unterr. an Univ. u. Schule, Zeitschr.
f. frz. u. engl. Unterr. XVIII 2. Heft
1919, S. 130—35). Immerhin kann ein
solcher Lektor, der in seinem Sprach¬
gefühl einen untrüglichen Maßstab für
Feinheiten der Aussprache und des
Ausdrucks besitzt, namentlich den Vor¬
geschrittenen wertvolle Hinweise geben.
Manchmal entschied man sich indes¬
sen für einen Inländer, an dessen wis¬
senschaftliche Vorbildung man dann
höhere Ansprüche stellen konnte. Ein
Deutscher, der die Schwierigkeiten der
Fremdsprache gewissermaßen am eige¬
nen Leibe erfahren hat, wird am
ehesten in der Lage sein, nicht nur
etw r aige Verstöße, z. B. in der Lautbil¬
dung, sofort zu erkennen, sondern auch
das Wesen des Fehlers aufzudecken
und Anleitung zu geben, wie er ver¬
mieden werden kann. Er hat den nöti¬
gen Abstand, der ihm den Überblick
über den Gegenstand gewährt, während
der geborene Engländer mitten drin
steht, sich über vieles, was ihm von
Jugend auf vertraut ist, noch nie Re¬
chenschaft abgelegt hat. i
Indessen hat auch diese Lösung einst¬
weilen ihre Schattenseite. Ist der deut¬
sche Lektor einer Fremdsprache zu¬
gleich habilitiert, so wird er in erster
Linie bestrebt sein, den Nachweis zu
erbringen, daß er zum wissenschaft¬
lichen Vertreter seines Faches geeignet
ist. Bei der zur Zeit immer noch herr¬
schenden hohen Bewertung der ge¬
schichtlichen Seite der Sprachforschung
wird es ihm näher liegen, sein Arbeits¬
feld auf dem Gebiet der älteren Sprache
und Dichtung zu suchen. „Ohne einen
dicken Wälzer über Zustände vergan¬
gener Jahrhunderte gilt niemand als
professorabel für das Bürgerliche Ge¬
setzbuch. Derselbe Zustand auf
philologischem Gebiet. Die
Sprachgeschichte, der histori¬
sche Lautwandel beherrscht das
gelehrte Interesse“ (C. H. Becker,
Gedanken zur Hochschulreform S. 12).
Das schließt natürlich nicht aus, daß
ein Privatdozent erfolgreich bestrebt
sein kann, seine Pflicht als Lektor zu
erfüllen; aber gerade wenn er ein tüch¬
tiger Mann ist, der etwas leistet, wird
er durch eine Berufung dem Lektorat
verloren gehen, sobald er sich in dieses
eingelebt, sobald er wertvolle Erfah¬
rungen gesammelt hat, die seiner wei¬
teren Tätigkeit auf diesem Gebiet zu¬
gute kommen könnten.
Manches scheint dafür zu sprechen,
einen Lehrer an einer höheren Schule
mit dem Lektorat zu betrauen. Man
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kann aus einer großen Zahl diejenigen
auswählen, die nicht nur über gründ¬
liche Fachkenntnisse verfügen, die sei¬
nerzeit im Auslande erworben, im Lauf
der Berufstätigkeit erweitert, durch Rei¬
sen ins Ausland wieder aufgefrischt
worden sind, sondern die auch in der
Ausübung ihres Berufes ein gewisses
Lehrgeschick an den Tag gelegt ha¬
ben. Was der Ausländer an der Fülle
der Kenntnisse vor ihm voraus hat,
wird er durch geschicktes Lehrverfah¬
ren ausgleichen können. Aber er wird
angestrengt zu arbeiten haben, um aus
dem vollen schöpfen zu können, na¬
mentlich wird er vermissen, daß ihm
zur Ausarbeitung seiner Vorlesungen
nicht die reichlicher bemessenen Ferien
der Hochschullehrer zur Verfügung
stehen.
Eine teilweise Entlastung von seinen
Pflichten an der Schule ist unerläßlich;
aber auch dann ist es ein Notbehelf,
der nur für eine beschränkte Zeit am
Platze ist. Denn bei längerer Dauer
einer solchen Doppelstellung ist zu be¬
fürchten, daß der Oberlehrer seiner
Schule entfremdet wird. Auch wenn er
sich bemüht, seinen Unterricht gewis¬
senhaft zu erteilen, so leidet doch die
freie Weiterbildung im Beruf. Er ver¬
sagt es sich, einen Gegenstand, der im
Unterricht aufgetreten ist, zu verfol¬
gen; statt Fragen der Erziehung nach¬
zugehen, wenden sich in seinen Muße¬
stunden die Gedanken der anderen Auf¬
gabe zu. So kommt das eigentümliche
Mißverhältnis zustande, daß der Ober¬
lehrer seine Hauptkraft auf sein Neben¬
amt an der Universität verwendet,
während die Schule, die ihm den grö¬
ßeren Teil seines Lebensunterhalts ge¬
währt, sich mit dem Rest begnügen
muß. Ein solcher Zustand ist auf die
Länge für den Oberlehrer unbefriedi¬
gend, der Universität, die es doch nicht
nötig hätte, von der Schule zu borgen,
wenig würdig, daher als dauernde
Einrichtung kaum anzustreben.
Nur vereinzelt findet sich die Lösung,
daß ein Gelehrter sich ausschließlich der
Aufgabe widmet, die Studierenden mit
der lebenden Sprache vertraut zu ma¬
chen. Das hat seine triftigen Gründe.
Das Lektorat wird nämlich nirgends
als ein vollständiger Lebensbe¬
ruf gewertet, vielmehr sind die Be¬
züge nur so bemessen, daß ein Pri¬
vatdozent sie als Beisteuer für seine
Wartezeit gerne annimmt, ein Oberleh¬
rer, der noch sein volles Gehalt emp¬
fängt, damit zufrieden sein kann,
ebenso ein ausländischer Sprachlehrer,
dem seine Stellung an der Universität
als Empfehlung für seinen Privatunter¬
richt dient.
3 .
Mag nun auch diese Einrichtung ira
einzelnen noch verbesserungsfähig sein,
jedenfalls besteht wohl an allen Hoch¬
schulen Gelegenheit, sich in den wich¬
tigsten Fremdsprachen zu üben. Das
Bedauerliche ist nur, daß von dieser
Möglichkeit nicht in dem wünschens¬
werten Umfang Gebrauch gemacht
wird. Es bedarf manchmal nachdrück¬
licher Hinweise durch den Ordinarius,
und auch dann bleiben oft noch diejeni¬
gen fern, für die der Besuch am aller¬
nötigsten wäre, während strebsame Stu¬
denten zuweilen länger als für ihre
unmittelbaren Zwecke erforderlich an
den Lektorübungen teilnehmen. So er¬
schien z. B. eine Kandidatin wenige Wo¬
chen vor der mündlichen Staatsprüfung
erstmals beim Lektor. Ihre Kenntnisse
in der Sprache waren so gering, daß sie
sich vor keiner Schulklasse hätte sehen
lassen können; sie fiel in der Staats¬
prüfung verdientermaßen durch. Noch
schlimmer als Fälle wie der vorlie¬
gende, der ja seine Sühne und hoffent-
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Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen
634
lieh seine nachträgliche Abhilfe fand,
sind solche, von denen Stiefel a. a. O.
berichtet, daß nämlich der Kandidat
trotz recht dürftiger Kenntnisse in der
lebenden Sprache noch durchgelassen
wird und eine Verlegenheit für den Di¬
rektor der Anstalt bildet, der er zuge¬
teilt wird.
Diese Abneigung mancher Studieren¬
den, sich rechtzeitig mit der Ausbil¬
dung in der lebenden Fremdsprache
zu befassen, verdient wohl eine nähere
Beleuchtung. Es hat den Anschein, daß
manche Studenten sich bei der Aus¬
wahl ihrer Vorlesungen weniger von
dem Gegenstand oder der Art des Vor¬
trages leiten lassen als von der Erwä¬
gung, ob der Dozent auch prüft. Sie
denken, es genüge, in den Vorlesungen
und Übungen des prüfenden Dozenten
einigen Eifer an den Tag gelegt zu
haben, um bei der Prüfung über et¬
waige Klippen hinwegzukommen. Ge¬
wiß ist bei der Beurteilung eines Kan¬
didaten auch der Eindruck heranzu¬
ziehen, den er etwa im Seminar oder
bei sonstigen Übungen gemacht hat;
bekanntlich gibt es ganz tüchtige Men¬
schen, die eben keine Examensnaturen
sind. Aber wesentlich anders als ein
solcher billiger Ausgleich zwischen son¬
stiger Bewährung und Prüfungsleistung
wäre es zu beurteilen, wenn ein Prü¬
fender, der selbst vorzugsweise die äl¬
tere Sprache und Dichtung in seinen
Vorlesungen gepflegt hat, bei günsti¬
gem Ergebnis auf diesem Gebiet man¬
gelhafte Leistungen in der lebenden
Sprache zu wenig ins Gewicht fallen
ließe. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
manche Studenten geradezu auf eine
derartige Bewertung bauen, nicht im¬
mer mit Recht, wie obiger Fall zeigt,
aber auch diese irrige Meinung ist in
Rechnung zu stellen.
Daß auch die Extraordinarien diesen
Mißstand empfinden, zeigen folgende
Auslassungen: „Der Ordinarius hat die
Pflichtkollegs zu lesen ..., er hat die
Prüfungen abzuhalten und damit über
das Schicksal der Studenten zu ent¬
scheiden. ... Die Pflichtkollegs besu¬
chen sie überwiegend ... bei demjeni¬
gen Mann, der sie nachher zu prüfen
hat, dessen besondere Ansichten und
ev. Liebhabereien sie kennen lernen und
auf die sie sich rechtzeitig einstellen
wollen“ (Schmeidler, Grundsätzliches
zur Universitätsreform, Leipzig 1919,
S. 33).
4.
Soll nun die Wirksamkeit des fremd¬
sprachlichen Lektors in der Weise ge¬
steigert werden, daß sie einen mög¬
lichst vollwertigen Ersatz für Aufent¬
halt im Ausland bietet, so kämen zu¬
nächst zwei Dinge in Betracht: Er muß
eine wirkliche Lebensstellung
erhalten (etwa mit dem Gehalt eines
Oberlehrers) und an der Staatsprü¬
fung beteiligt sein, soweit die le¬
bende Sprache Gegenstand ist.
Wenn die erste dieser Forderungen
erfüllt ist, kann der Lektor (was einst¬
weilen höchstens vereinzelt der Fall
ist) seinen Beruf als ausschließliche Be¬
schäftigung ausüben. Sein wichtigstes
Arbeitsfeld wird dann nicht auf einem
anderen, wenn auch nur wenig ab¬
liegenden Gebiet liegen, wie bei dem
Privatdozenten; seine Kraft wird nicht
von seinem Hauptamt beansprucht wie
beim Oberlehrer; er ist nicht vom Pri¬
vatunterricht oder sonstigen Nebenver¬
dienst in Beschlag genommen wie der
ausländische Lektor. Er wird mit Muße
die einzelnen Zweige seines Faches wei¬
ter ausbauen, er wird z. B. die Lautbil¬
dung — vielleicht die wichtigsten euro¬
päischen Sprachen zusammenfassend —
in Vorlesungen und Übungen in der
Weise behandeln, daß der junge Neu-
i
1
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PRINCETON UNIVERSITY
635 Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 636
Philologe lernt, wie er in Zukunft mit
Sicherheit die Fehler seiner Schüler er¬
kennen und richtigstellen kann. Der
Lektor wird durch vertiefte Betrach¬
tung einzelner Fragen des Wortge¬
brauchs, des Satzbaus zeigen, daß auch
die lebende Sprache sehr wohl Gegen¬
stand wissenschaftlicher Behandlung
sein kann. Er wird auf Grund umfas¬
sender Belesenheit mit den wichtigsten
geistigen Strömungen neuerer Zeit ver¬
traut sein, er wird Bescheid wissen in
der staatlichen, wirtschaftlichen und
künstlerischen Entwicklung, den An¬
schauungen, Sitten und Gebräuchen des
Landes, so daß er dem Studierenden
ein Führer sein kann in der Gedanken¬
welt neuerer Schriftsteller, sie anregen
kann, etwa im Anschluß an etwas ge¬
meinsam Gelesenes, in Berichten und
Vorträgen einzelne Hinweise weiter aus¬
zuführen. Auch wird er nicht nur zei¬
gen, wie man beim Übersetzen in die
Fremdsprache den dieser eigenen Aus¬
druck und Satzbau findet, sondern
auch sich bereit finden lassen, schrift¬
liche Ausarbeitungen in der Fremd¬
sprache, seien es nun Übersetzungen
oder freie Aufsätze, auf ihre Sprach-
richtigkeit durchzusehen und seine Vor¬
schläge zu einem mehr entsprechenden
Sprachgebrauch einzutragen.
Ein Mann, der in diesem Umfange
sich seiner Aufgabe widmen kann, ist
der gegebene Vertreter des Faches in
der Staatsprüfung, wenigstens soweit
die lebende Sprache deren Gegenstand
ist. Er wird also den Text der Klau¬
surarbeit auswählen, diese beurtei¬
len und im mündlichen Teil die Aus¬
sprache und Sprachfertigkeit des Kan¬
didaten prüfen, vielleicht auch seine
phonetischen Kenntnisse. Diese Anord¬
nung hätte jedenfalls die günstige Wir¬
kung, daß auch die minder Strebsamen
veranlaßt würden, sich etwas mehr mit
der lebenden Sprache zu befassen. Der¬
artige äußere Dinge sollen gewiß nicht
überschätzt, aber auch nicht ganz au¬
ßer acht gelassen werden; denn man
kann kaum erwarten, daß die Studie¬
renden Einrichtungen richtig werten,
die von der Universität und der Staats¬
behörde erst in dritte Reihe gestellt
werden.
5 .
Ist jedoch das Lektorat in dieser
Weise ausgestattet und ausgestaltet,
dann wird es nicht schwer fallen, einen
geeigneten Vertreter zu finden, der be¬
reit ist, sich ausschließlich dieser Auf¬
gabe zu widmen. Es wird sich empfeh¬
len, bei der Auswahl nicht engherziger
zu verfahren als früher, man wird also
keine der bisherigen Möglichkeiten aus¬
schließen, allerdings auch vom Auslän¬
der fachwissenschaftliche Ausbildung
fordern. Man mag dann, wie in Halle
gefordert wurde, für Französisch und
Englisch je einen Deutschen und einen
Ausländer nebeneinander beschäftigen.
Schon um der Verschiedenheit der Vor¬
kenntnisse willen muß man ja die Übun¬
gen in mehrere Stufen zerlegen; außer¬
dem darf die Zahl der Teilnehmer nicht
zu groß sein, damit sich der Lektor
dem einzelnen, namentlich auf dem Ge¬
biet der Aussprache, aber auch bei son¬
stigen Übungen, eingehender widmen
kann.
Es wäre allerdings noch zu erwägen,
ob die Zeit schon gekommen ist, Eng¬
ländern und Franzosen ein solches Amt
zu übertragen. Sollten wirklich Deut¬
sche aus England und Frankreich einst¬
weilen grundsätzlich ausgeschlossen
sein, so wäre dies ein ernstliches Hin¬
dernis dafür, Angehörige dieser Staa¬
ten in den öffentlichen Dienst aufzu¬
nehmen. Eine Ausnahme wäre höch¬
stens solchen gegenüber am Platz, die
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PRINCETON UNIVER
637
Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen
638
schon vor dem Krieg in gleicher Eigen¬
schaft bei uns tätig waren. Abgesehen
von letzterem Fall wird man indessen
kaum vor eine solche Entscheidung ge¬
stellt sein, wenn man wirklich tüch¬
tige Ausländer gewinnen will. Die äu¬
ßeren Daseinsbedingungen, die wir als
Schicksal unseres Volkes zu ertragen
wissen, sind nicht verlockend für einen,
der sich nicht mit uns verbunden fühlt.
Dagegen finden sich unter den deut¬
schen Lehrern, die im Ausland,
namentlich in England, eine zweite
Heimat gefunden zu haben
glaubten, gewiß manche, die den
oben entwickelten Anforderungen genü¬
gen würden. Auf diese Lösung sei hier
nachdrücklich hingewiesen I
Im übrigen wird man Wert darauf
legen, daß man Persönlichkeiten ge¬
winnt, die nicht nur die Sprache im
Land selbst gründlich kennen gelernt
haben, sondern auch eine gewisse Lehr¬
gabe besitzen. Handelt es sich doch
weniger um Einführung in die For¬
schung als um Vorbereitung für den
Beruf, und zwar durch Übermittlung
einer Reihe einzelner Kenntnisse, die
dann unmittelbare Verwendung finden.
Man wird daher nicht nur junge Ge¬
lehrte, die etwa nach längerem Aus¬
landsaufenthalt sich zur Verfügung
stellen, sondern auch in Zukunft Ober¬
lehrer für das Lektorat heranziehen.
Ob man (namentlich im letzteren Fall)
vorhergehende Habilitation mit demsel¬
ben Nachdruck zur Bedingung macht,
wie Becker (S. 39) für den akademi¬
schen Nachwuchs und Spranger
(Wandlungen im Wesen der Universität
S. 19 und Anmerkung 9) schon für
Lehraufträge verlangen, bleibe einstwei¬
len dahingestellt. Vielleicht genügt die
von ersterem für Privatdozenten vorge¬
schlagene Befristung.
6 .
Eine derartige Entwicklung des Lek¬
torats wird von manchen Universitäts¬
kreisen wahrscheinlich als ein star¬
ker Eingriff in die bestehende Glie¬
derung der Hochschullehrer emp¬
funden, und es wird wohl nicht
•an Widerständen fehlen. Sollte in¬
folgedessen der. vorgeschlagene Weg
wirklich ungangbar sein, so könnte man
schließlich an den Ausweg denken, daß
ein derartiges Lektorat an der Tech¬
nischen Hochschule errichtet würde:
man hat ja auch den Mathematikern
auf diese Weise Gelegenheit zu gewis¬
sen Vorlesungen und Übungen gebo¬
ten, die von der Universität nicht ab¬
gehalten werden. Natürlich müßten diese
Semester bei der Staatsprüfung ange¬
rechnet werden. Auch die Handelshoch¬
schulen, die ja der lebenden Sprache
erheblich weiteren Raum gewähren, kö¬
rnen in Betracht. Für die Einheitlich¬
keit unserer akademischen Bildung wäre
diese Verweisung von der Universität
indessen nicht förderlich, wie Becker
(a. a. O. S. 7) und Mahr holz („Der
Student und die Hochschule", Berlin
1919, bes. S. 23) überzeugend darlegen.
Oder man könnte die Ausbildung in
der lebenden Fremdsprache der Zeit
nach der Staatsprüfung, dem Seminar-
und Probejahr, zuweisen; vielleicht
müßte dieses dann um ein Jahr ver¬
längert, die Universitätszeit entspre¬
chend verkürzt werden. Die Ausbil¬
dungszeit würde sich dann wie bei
den Juristen gliedern in 3 7 2 Jahre Uni-
versitätsstudium und 3 Jahre prak¬
tische Berufsbildung (statt 4 1 / 2 + 2).
Mindestens die lautliche Schulung ließe
sich nach der ersten Prüfung leicht
nachholen, während für die sonstigen
Kenntnisse, namentlich die breite Be¬
lesenheit, die ersten Semester geeig¬
neter wären, dann wäre keine Ver-
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639
Ernst Werner, Das Lektorat und die Ausbildung der Neuphilologen 040
Schiebung der Zeitdauer nötig. Doch
auch diesen Ausweg wird man nur
im äußersten Fall ergreifen; zur Pflege
der lebenden Sprache soll gerade in
den ersten Semestern der Grund ge¬
legt werden, dagegen das Schulsemi¬
nar soll nur anleiten zur praktischen
Ausübung des Berufes; die wissen¬
schaftliche Ausbildung soll in der
Hauptsache der Universität verbleiben.
Gegenüber diesen beiden Notbehel¬
fen wird vielleicht doch der oben ent¬
wickelte Plan Beifall finden. Es ist dies
um so eher zu erhoffen, als er sich in
gleicher Richtung bewegt mit einigen
Hauptforderungen der Hochschul¬
reform. So verlangt, um nur die
neuste Fassung zu nennen, der Antrag
Dr. Taer, den die deutsche Volkspartei
im Staatshaushaltsausschuß der Preu¬
ßischen Landesversammlung einge¬
bracht hat, u. a., daß dauernde Lehrbe¬
dürfnisse durch volle Ordinariate zu
befriedigen sind, und daß alle Assisten¬
tenstellen, die nur von wissenschaftlich
voll durchgebildeten Spezialisten be¬
kleidet werden können, in Stellen um¬
gewandelt werden, die rechtlich und
materiell den Oberlehrerstellen gleich¬
stehen (beides vorbehaltlich der Finanz¬
lage!). In demselben Sinne äußern sich
Linck („Gedanken zur Universitätsre¬
form“, Jena 1919, S. 9f.) und Becker
(a. a. 0., S. 36; vgl. auch den im An¬
hang wiedergegebenen Erlaß des Unter¬
richtsministers Haenisch vom 17. Mai
1919, in dem die Senate und Fakultä¬
ten ersucht werden, sich zu der Frage
der Umwandlung sämtlicher planmäßi¬
ger Extraordinariate in persönliche Or¬
dinariate zu äußern). Nicht ganz soweit
geht Schmeidler (bes. S. 42f.), der
für die Extraordinarien nur eine ange¬
messene je nach Art ihres Auftrags ver¬
schieden abgestufte Bezahlung ver¬
langt; dagegen fordert er, daß sie zu
den Prüfungen herangezogen wer¬
den. Becker nimmt zu letzterer Frage
nicht Stellung; ihm schwebt das eng¬
lische Vorbild vor, wonach kein Pro¬
fessor einen Schüler prüft, den er selbst
ausgebildet hat (S. 63). Auch eine solche
Lösung wäre gegenüber dem jetzigen
Zustand ein Fortschritt; näher auf das
Für und Wider einzugehen, ist hier
nicht der Ort.
Was hier für den außerordent¬
lichen Professor verlangt wird,
läßt sich sinngemäß auf die Ver¬
hältnisse des Lektors übertra¬
gen, von dem allerdings die Hoch¬
schulreform bis jetzt nicht zu sprechen
scheint. Er gehört nach dem Wesen
seiner Tätigkeit und seiner Aufgabe
viel mehr zu den Extraordinarien als
zu den Vertretern freier Künste, mit
denen er ursprünglich auf gleicher Stufe
stand. So hat z.B. der Zeichenlehrer
an der Universität nur Dilettanten
einige Anleitung zu geben; berufsmä¬
ßige Ausbildung im Zeichnen und Ma¬
len ist anderswo zu finden. Dagegen
dem Lektor — wenigstens soweit die
von ihm vertretenen Sprachen Unter¬
richtsfächer höherer Schulen sind —
ist derjenige Teil der sprachlichen Aus¬
bildung des künftigen Oberlehrers an¬
vertraut, den er unmittelbar in seinem
Amt anzuwenden hat.
Wird also die Stellung des fremd¬
sprachlichen Lektors innerhalb des aka¬
demischen Lehrkörpers entsprechend
seiner Bedeutung, wie oben vorgeschla¬
gen, gehoben, so wird wie bei den
Extraordinarien seiner Wirksamkeit erst
die rechte Grundlage gegeben. Dann
wird er mit dem wünschenwerten Er¬
folg dem künftigen Oberlehrer einen
wichtigen Teil seiner Berufsbildung
übermitteln können, und dann erst wer¬
den durchweg auf unseren höheren
Schulen trotz aller zur Zeit bestehen-
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PRINCETON UNIVERSI'
641
Nachrichten und Mitteilungen
642
den Schwierigkeiten die lebenden
Fremdsprachen in einer Weise gelehrt
werden können, die den gesteigerten
Anforderungen der Jetztzeit gerecht
wird; sagt doch die genannte Denk¬
schrift: Auslandskenntnisse sind
bei einem Weltvolk nicht nur
das Rüstzeug für Ausländs¬
deutsche und Auslandsinter¬
essenten, sondern ein unent¬
behrlicher Bestandteil der na¬
tionalen Bildung.
Nachrichten und Mitteilungen.
Die Zukunft unserer Auslandkunde.
Der neu aufgeblühten wissenschaftlichen
Auslandkunde geht es ähnlich wie anderen
jungen Zweigen unseres Kulturlebens: Ein¬
sicht und Wille zu ihrer Förderung sind
endlich vorhanden, große Pläne stehen vor
der Verwirklichung — da fehlen die Mittel,
sie durchzufllhren. Mit einer solchen Gefahr
bedroht die Entwertung des deutschen Gel¬
des die Auslandkunde, soweit sie auf aus¬
ländische Quellen angewiesen ist. Die Theo¬
rie der Auslandkunde war bereits vor dem
Kriege auf dem besten Wege. Reich und
Bundesstaaten wetteiferten in weitausschau-
enden Plänen zu ihrer systematischen För¬
derung; es sei nur an die Denkschriften des
Reichskanzlers und des preußischen Kultus¬
ministers 1 ). an den Organisationsplan des
Hamburger Ausschusses für Auslandsfor¬
schung und an die großzügige Erweiterung
der Bayerischen Staatsbibliothek im Hin¬
blick auf die Auslandsliteratur erinnert.
Wissenschaftler und Männer des praktischen
Lebens waren sich über Notwendigkeit und
Nutzen theoretischer wie praktischer Aus¬
landkunde einig; die Öffentlichkeit nahm
alle Projekte, die wie Pilze aus der Erde
schossen, günstig auf. Eine natürliche Ar¬
beitsteilung trat insofern ein, als sich die
Universitäten mehr auf die geisteswissen¬
schaftliche, die technischen und Fachschulen
auf'die technisch-wirtschaftliche, die doppel-
staatlichen Gesellschaften auf die kulturelle
Seite der Frage einstellten. Einen guten
Überblick über die Gesamtheit der Institute,
ihre Veranstaltungen und Veröffentlichungen
gibt der letzte Halbjahresbericht von Paul
Salvisberg, Das Auslandsstudienwesen auf
deutschen Hochschulen und praktische Kul¬
turarbeit im Ausland W.-S. 1918 19. (Mün¬
chen 1919, Akadem. Verlag.) Neben diese
mehr theoretisch interessierten Körperschaf-
1)S. Die Auslandsstudien im preußischen
Landtag. Internat. Monatsschrift. Jg. 11. H. 7 8.
Internationale Monatsschrift
ten traten die doppelstaatlichen Wirtschafts¬
verbände, die auf eine meist regional be¬
grenzte Auslandsberichterstattung Wert leg¬
ten. Die meisten von ihnen sind bei Schuchart,
Zur Frage der deutschen Außenhandelsför¬
derung (Berlin 1916, Simion), und im Hand¬
buch wirtschaftlicher Verbände und Vereine
des Deutschen Reiches (2. Aufl., Berlin 1919,
Spaeth & Linde) aufgezählt. Schließlich wur¬
den für die künftige Pflege der Auslandkunde,
die ja eine klare geistige Einstellung ver¬
langt, neue Grundlagen gelegt, indem bei
der Neugestaltung der Lehrpläne, besonders
für den Erdkunde- und Geschichtsunterricht
der Gesichtspunkt der Auslandkunde ma߬
gebend wurde. Die neuen Richtlinien findet
man am besten bei Paul Wagner, Geogra¬
phischer Unterricht und Auslandkunde (Geo¬
graph. Abende i. Zentralinst. f. Erziehg. u.
Unterricht H. 9, Berlin 1919, Mittler) dar¬
gestellt.
Die hoffnungsvolle Entwicklung erfuhr
durch den Krieg zunächst keine Unterbre¬
chung; im Gegenteil, durch den Krieg fiel
es jedem, der es noch nicht wußte, wie
Schuppen von den Augen, daß unsere Aus¬
landskenntnis vielleicht historischen, aber
keinen Gegenwartswert mehr hatte, weder
nach der politischen noch nach der kulturel¬
len Seite. Unsere Vorstellungen von in
rascher Entwicklung begriffenen Kulturge¬
bieten wie Kanada, Sibirien oder Japan
waren nach Maßstäben gebildet, die viel¬
leicht vor 20 Jahren Geltung hatten. Der
Krieg spornte an, das Versäumte nachzu¬
holen. Die Einrichtungen dafür und die
Wege, Auslandkunde zu verbreiten, sind
noch kürzlich in einem Aufsatz von Willi
Roß, Mehr Auslandkunde (Europ. Staats-
u. Wirtschaftsztg. Jg. 4, 1919, Nr. 52, Berlin,
Hofrichter) und von Siegfried Brase, Aus¬
landskunde (Die deutsche Nation, Jg. 2.
1920, H. 2, Charlottenburg, Deutsche Verlags-
Gesellschaft f. Politik u. Geschichte), erörtert
worden. Mit der Länge des Krieges machte
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PRINCETON UNIVERSITY
643
Nachrichten und Mitteilungen
644
sich die Abschnürung vom Auslande auch
für den Betrieb der Auslandkunde fühlbar.
Es blieb zwar zur Beschaffung von Material
der Weg über die Neutralen offen. Aber
die Mehrzahl der staatlichen wie der pri¬
vaten Institute scheute den umständlichen
und durch Zwischenstellen verteuerten Be¬
zug und gab sich der Hoffnung hin, die
Lücken nach dem Kriege durch billigeren
Einkauf zu schließen. Diese Hoffnung hat
sich seit einem Jahr als eitel erwiesen.
Auslandkunde läßt sich unmöglich von
der Heimat allein aus treiben. Sie bedarf
der Befruchtung aus der ursprünglichen
Quelle, dem Auslande selbst. Diese Quellen,
die in Friedenszeiten als breiter Strom des
geistigen Austauschs flössen, schrumpfen
infolge der deutschen Geldentwertung zu
einem mageren Bächlein zusammen und
werden versiegen, wenn das deutsche Geld
auch den Rest seiner Kaufkraft im Auslande
verloren hat. Die erste Quelle war die un¬
mittelbare Anschauung, wie sie sich durch
Reisen gewinnen ließ. Reisen zu wissen¬
schaftlichen Zwecken werden sich auf lange
Zeit verbieten, es sei denn nach den we¬
nigen Ländern mit einer Währung von noch
geringerem absolutem Wert, als die unsere
besitzt. Doch das sind meist Staaten von
relativ unentwickelter Kultur. Die andere,
ihrem Umfang nach weit wichtigere Quelle
ist die gesamte gedruckte Erzeugung des
Auslandes an Büchern, Zeitungen und Zeit¬
schriften, die uns im Frieden zu einem nicht
viel höheren Preise als unsere eigene Pro¬
duktion zur Verfügung stand. Von dieser
Quelle werden wir trotz des Friedensschlus¬
ses bald abgeschnitten sein. Schon der
Preis des deutschen Buches ist in viel stei¬
lerer Kurve gestiegen als die Einkünfte, die
dem Gelehrten und den wissenschaftlichen
Anstalten, insbesondere den Bibliotheken,
zu ihrer Anschaffung zu Gebote standen.
Die Beschaffung der neuen deutschen Lite¬
ratur machte also bereits bedauerliche Ein¬
schränkungen nötig. Aber dieser Rüdegang
ist erträglich im Vergleich zu dem Verzicht
auf Auslandsliteratur, den uns die Entwer¬
tung unseres Geldes unerbittlich aufzwingt.
Wenn nach den Ausführungen von Geheim¬
rat Harnack die Preußische Staatsbibliothek
in Berlin als größte deutsche Bibliothek
nicht einmal mehr ein Zehntel der auslän¬
dischen Zeitschriften halten kann, die in
ihrem Friedenshaushalt vorgesehen waren,
kann man sich einen Begriff davon machen,
zu welchen Betriebseinschränkungen roma¬
nische, nordische oder englische Seminare,
chemische, medizinische und technische In¬
stitute, die auf teuere Fachzeitschriften, In¬
strumente und Apparate angewiesen sind,
greifen müssen. Der Zeitpunkt scheint nidit
mehr fern, wo die wissenschaftliche Aus¬
landkunde aus Mangel an frischer Nahrung
verkümmern muß. Welche Gefahr solch eine
unfreiwillige Isolierung nicht nur für unsere
kulturelle Entwicklung, sondern auch für
die politische und wirtschaftliche Orientie¬
rung hat, braucht nach fünf Jahren Krieg
nicht mehr dargelegt zu werden. Trotzdem
muß versucht werden, diesen Zeitpunkt mög¬
lichst weit hinauszuschieben, vielleicht so
weit, bis eine Erholung unserer Währung
erlaubt, die empfindlichsten Lücken auszu-
füllen und langsam auf den verschütteten
Fundamenten neu aufzubauen.
Die Notlage zu mildern, bieten sich ver¬
schiedene Wege. Zunächst muß sich die
Zusammenarbeit der deutschen Bibliotheken
immer enger gestalten. Schon jetzt findet
ja ein weitherzig gehandhabter Leihverkehr
zwischen ihnen statt, der die Schätze der
einen den Benutzern der anderen Biblio¬
thek zugänglich macht. Bei selten verlang¬
ten Büchern ist dieser Weg gangbar. Er
wird mit um so mehr Aussicht auf Erfolg
beschriften werden, je mehr sich Gesamt¬
verzeichnisse nach dem Muster der Berliner
Titeldrucke oder des Preußischen Gesamt¬
zeitschriftenverzeichnisses (1914), das einen
Überblick über die in den deutschen Haupt¬
bibliotheken vorhandenen laufenden Zeit¬
schriften gestattet, einbürgern. Dem Ab¬
schluß der Neubearbeitung dieses Verzeich¬
nisses sehen alle wissenschaftlichen Kreise
daher mit Spannung entgegen.
Die Zusammenarbeit kann noch viel
enger sein bei Bibliotheken an einem und
demselben Ort. Hier müßte sie sich auf
die Vermehrung der Bestände ausdehnen
und zur Folge haben, daß Neuanschaffungen
von einem gemeinsamen Standpunkt aus
betrachtet und durchgeführt werden. Stehen
beispielsweise drei hochwertige Werke wie
Rein, Abessinien, Steffens, Westpatagonien,
und Nansen, Sibirien, in Frage, so würde
sich ein Osteuropa-Institut wahrscheinlich für
Nansen, ein Südamerika-Institut für Steffens
entscheiden usw.; die anderen Bibliotheken
würden sich damit begnügen, das Werk
ihren Benutzern am Orte nachzuweisen.
Das setzt allerdings lokale Nachweiskata-
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PRINCETON UNIVERSITT'
645
Nachrichten und Mitteilungen
646
löge voraus, wie sie die Rothschildsche Bi¬
bliothek für Frankfurt (s. Berghöffer, Der
Sammelkatalog wissensch. Bibliotheken des
deutsch. Sprachgebiets bei der Rothschild-
schen öffentl. Bibliothek, Frankfurt a. M. 1919,
Baer) und das Deutsche£Ausland-Institut in
Stuttgart für die Württembergische Landes¬
bibliothek besitzt und für andere Biblio¬
theken unter Beschränkung auf Ausland-
deutschtum und Auslandlcunde ausbaut. Mit
Hilfe der Berliner Zetteldrucke lassen sich
solche Nachweiskataloge, wenn nian sich
auf die Neuerscheinungen beschränkt, un¬
schwer anlegen. Sie sind dann ein Mittel,
die an Ort und Stelle vorhandenen Bücher¬
bestände ganz anders als bisher auszunützen.
Es können also bei gemeinsamem Vorgehen
der Bibliotheken hier Anschaffungsgelder
gespart werden, die dann anderen Gebieten
zugute kommen. Das gilt erst recht von
den Zeitschriften, wo Doppelanschaffungen
zu vermeiden und statt dessen möglichste
Reichhaltigkeit innerhalb eines Bibliotheks¬
bezirkes anzustreben wäre.
Bei Neuerscheinungen des Auslandes
wird man froh sein müssen, wenn die wich¬
tigsten Buchwerke und Zeitschriften an den
größten Bibliotheken vertreten sind. (Von
dem Angebot neutraler Buchhändler, die
Beträge für deutsche Bestellungen gegen
eine mäßige Verzinsung [6%] zu stunden,
Gebrauch zu machen, werden viele bisher
nach dem Muster eines bürgerlichen Haus¬
halts verwaltete Bibliotheken zögern, um
ihre Zukunft nicht mit einem völlig unsiche¬
ren Faktor zu belasten.) Alle Neuerwer¬
bungen dem Publikum möglichst rasch be¬
kannt zu geben, sei es durch besondere
Zugangsverzeichnisse, sei es durch Ver¬
öffentlichung in einem Amtsblatt, ist nun¬
mehr ein dringendes Bedürfnis. Auch dann
werden sich die Anschaffungen auf das
Allernotwendigste beschränken müssen. Man
kann z. B. zweifeln, ob das in Europa heute
schon berühmte Buch von John Maynard
Keynes, The economic consequences of the
Peace (London 1919, Macmillan) heute in
mehr als 20 Exemplaren in Deutschland all¬
gemein zugänglich ist.
In gewissem Grade kann diesem Mangel
durch zwei Mittel abgeholfen werden, durch
indirekte Berichterstattung auf der einen
und durch bessere Ausnutzung der wenigen
vorhandenen Quellen auf der anderen Seite.
Die indirekte Berichterstattung, die unter
Angabe ihrer Quelle Auszüge und Zusam¬
menfassungen aus der Auslandpresse bringt,
hat während des Krieges einen bemerkens¬
werten Aufschwung genommen. Es seien
hier nur die wichtigsten allgemeinen poli¬
tischen und wirtschaftlichen Nachrichten¬
dienste genannt: Wirtschaftsdienst (Ham¬
burg), Weltwirtschaftliche Nachrichten
(Kiel), Auslandsnachrichten herausgegeben
vom Überseedienst, Internationales Telegra¬
phenbureau, Industrie- und Handelszeitung,
Politische Nachrichten, Wirtschaftliche Nach¬
richten und Rotbuch der Auslandspresse
(sämtlich in Berlin), Auslandspost und Zen¬
tralarchiv für Politik und Wirtschaft (beide
in München). Neben ihnen gehen Dutzende
von Nachrichtenblättern her, die entweder
regional (für Polen, Finnland, Ukraine usw.)
oder fachlich begrenzt sind wie «Auslands¬
recht“ (Berlin, Simion),(Technische) Auslands¬
nachrichten (Berlin, Siemens - Schuckert-
Werke). Für die Zwecke des Kaufmanns
und des Politikers werden diese Hilfsmittel
genügen. Anders bei der rein wissenschaft¬
lichen Literatur. Gegenüber juristischen oder
exakt wissenschaftlichen Schriften und allen
illustrierten Werken muß jede auszugsweise
Berichterstattung versagen. Hier kann nur
die oben angedeutete genossenschaftliche
Zusammenarbeit aller interessierten Stellen
helfen.
Ein zweiter von der Not gebotener Aus¬
weg ist die bessere Ausnutzung des
Stoffes. Wenn die Valutamauer auch den
Privatmann im allgemeinen vom Auslande
absperrt, so gibt es immer noch eine Reihe
kapitalkräftiger Zeitungsverleger und Groß-
firmen, die sich Vertreter im Auslande leisten.
Von ihnen laufen teils in Form von aus¬
führlichen Berichten, teils in Gestalt un¬
scheinbarer Nachrichten Beobachtungen ein,
die, gesammelt und miteinander verglichen,
eine leidlich zutreffende Zustandsschilderung
des betreffenden Landes entstehen lassen.
Es muß nur Stellen geben, die dieses Ma¬
terial planmäßig sammeln und zur Verfü¬
gung der interessierten Kreise halten. Für
die wirtschaftlichen Materialien sind derar¬
tige Zentralstellen bereits geschaffen, die
über glänzend ausgebaute Archive verfügen,
wie etwa die Zentralstelle des Hamburgi-
schen Kolonialinstituts in Hamburg oder
das Institut für Seeverkehr und Weltwirt¬
schaft in Kiel. Neben ihnen stehen Spezial¬
institute, welche dieselbe Aufgabe für ihren
Bezirk bearbeiten, etwa den Balkan, Ost¬
europa oder Mittel- und Südamerika. Eine
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Nachrichten und Mitteilungen
648
Stelle, welche die Arbeiten aller dieser In¬
stitute unter dem Gesichtspunkt der Aus¬
landkunde zusammenfassend verwertet, ist
im Deutschen Auslandinstitut in Stuttgart
entstanden. Natürlich konnte es sich nicht
darum handeln, der Spezialarbeit alter In¬
stitute nachzueifern. Das müßte die Kräfte
jedes Unternehmens übersteigen und könnte
im besten Falle zu unnützer, an der Ober¬
fläche haftender Doppelarbeit führen. Aber
es besteht ein theoretisches wie praktisches
Bedürfnis, einen Überblick über alle Orga¬
nisationen zu gewinnen, die sich irgendwie
mit Auslandkunde befassen, um den In¬
teressenten an die richtige Schmiede, sei
es ein Buch, einen Verein, eine Behörde
oder eine Privatperson, zu verweisen. Die¬
ser Vermittlung dienen die Archive und die
Bibliothek des Deutschen Auslandinstituts.
Handelt es sich z. B- um Sibirien, so wird
der Student Angaben über Bücher und Zeit¬
schriften, der Kaufmann über Wirtschafts¬
verbände und Handelskammern, der Aus¬
wanderungslustige über Siedelungsgenos¬
senschaften, Beratungsstellen, Reiseführer
und Karten verlangen. Diesen verschieden¬
artigen Anforderungen zu genügen, ver¬
mochte nur ein sehr elastisches, auf der
Grundlage der regionalen Länderkunde oder
der Nationenwissenschaft aufgebautes Sy¬
stem, das die Kulturäußerungen aller Län¬
der nach ein und demselben Schema in
seinen Bereich zog. Ein solches System
wurde auf der Basis eines von Professor
Kampffmeyer, dem Leiter der Deutschen
Auslandsbibliothek in Berlin, geschaffenen
Planes zugleich der Bibliothek und den Ar¬
chiven des Deutschen Auslandinstituts zu¬
grunde gelegt. Wenn es in der Bibliothek
die Aufgabe erfüllen soll, die einschlägige
Literatur an Büchern, Zeitschriften und Zeit¬
schriftenaufsätzen für ein Ländergebiet und
die nach Ausweis ihrer Produktion auf die¬
sem Gebiet als Sachkenner anzusprechenden
lebenden Autoren nachzuweisen, so erlaubt
es den Archiven, die Fortschritte der Aus¬
landkunde, wie sie sich in Nachrichten¬
diensten, Vorträgen, Kursen, Instituts- und
Vereinsveröffentlichungen beurkunden, fort¬
laufend festzustellen. Das Vereinsarchiv
wird beispielsweise in der Lage sein, die
Organisationen anzugeben, die sich wissen¬
schaftlich oder praktisch mit Ostasien be¬
schäftigen; die Bibliothek wird diese Nach¬
weise ergänzen, indem sie die Veröffent¬
lichungen dieser Vereine, Handelskammern,
Hochschulinstitute oder doppelstaatlichen
Verbände namhaft macht. Aus dieser Zu¬
sammenarbeit ergibt sich ein Querschnitt
durch die auslandkundliche Tätigkeit auf
irgendeinem Gebiet, der oft überrascht. Es
zeigt sich etwa, daß es kaum zehn deutsche
Schriftsteller gibt, die als Kenner Serbiens
gelten können, während im gleichen Zeit¬
raum eine wenn nicht tiefe, so doch fabel¬
haft breite Türkenliteratur entstanden ist.
Mit Hilfe desselben weitmaschigen Netzes
läßt sich jede Zeitungsmeldung einfangen,
die von irgendwoher eine Nachricht von
deutschkundlichem Interesse bringt. So
werden die Archive des Deutschen Aus¬
landinstituts nach vollendetem Ausbau ein
geordnetes Nebeneinander länderkundlicher
Materialien zeigen, bei dem das Gewicht
auf die deutschen Belange und Beziehungen
jeder Art gelegt ist.
Ein dritter Weg zur bestmöglichen Aus¬
nutzung des Gegebenen ist die Beschrän¬
kung der Zeitschriften nach Zahl und
Inhalt. In dieser Beziehung leben wir
noch in einem Urzustand des Kampfes aller
gegen alle, den man vom Standpunkt des
nationalen Krafthaushalts als Anarchie be¬
zeichnen muß. Ist es nicht unsinnig, daß
man Aufsätze über Spanien aus hundert
Zeitschriften zusammensuchen muß, wäh¬
rend man sie in einer einzigen Zeitschrift
beisammen finden könnte, teils als Original¬
abhandlungen, teils als Quellennachweise?
Eine solche kulturwissenschaftliche Zeit¬
schrift könnte die besten Sachkenner und
dementsprechend einen leistungsfähigen Ab¬
nehmerkreis um sich scharen. Für Spanien
ist diese Aufgabe zufällig gelöst (Spanien.
Zeitschrift für Auslandskunde. Hamburg,
Bangert). Aber das gleiche Bedürfnis be¬
steht für Rußland, Skandinavien oder die
Vereinigten Staaten. Statt dessen stehen
wir einem Chaos von Zeitschriften gegen¬
über, von denen die Hälfte ein unbekann¬
tes und kümmerliches Dasein fristet.
Was von den Zeitschriften gesagt ist,
gilt auch von der Bibliographie; auch
hier ist es Verschwendung, wenn ein und
dasselbe Buch in hundert allgemeinen Bi¬
bliographien oder Literaturblättern wahllos
aufgeführt wird, wie unsere Zeitschriften zu
tun pflegen, während der Fachmann es nur
in einer Fachbibliographie sucht und fin¬
det. Spezialisierung ist ein Gebot der
Stunde. Es ist Kraftvergeudung, wenn der
Geograph beim Gebrauch der sonst groß
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PRINCETON UNIVERSIll
649
Zeitschriftenschau
650
angelegten Dietrichschen Bibliographie der
Zeitschriftenliteratur Hunderte von medizi¬
nischen Schlagwörtern überfliegen muß,
wahrend ihm nur mit den geographischen
gedient ist. Die Zukunft wird den Biblio¬
graphien gehören, die alles Material von
einem bestimmten Gesichtspunkt aus sach¬
lich oder regional geordnet dem Leser dar¬
bieten. Einen solchen Versuch machen in
ganz verschiedenen Formen etwa die in¬
zwischen eingegangene Bibliographie der
Sozialwissenschaften, das Literarische Jahr¬
buch des Dürerbundes, das Weltwirtschaft¬
liche Archiv, die Jahrbücher für National¬
ökonomie und Statistik und die Mitteilun¬
gen des Deutsch-Südamerikanischen Insti¬
tuts. Das systematische Register zum Deut¬
schen Bücherverzeichnis 1911—1914 im Ver¬
lag des Börsenvereins der deutschen Buch¬
händler zu Leipzig wird sehnlichst erwartet.
Sollte die wirtschaftliche Not schließlich
dazu führen, statt der verschiedenen biblio¬
graphischen Mittelpunkte (Berlin, Leipzig,
München) eine Zentralstelle zu schaffen,
die, ähnlich wie die Kongreßbibliothek die
Vereinigten Staaten, das ganze deutsche
Sprachgebiet mit fertig gedruckten Titeln
aller Neuerscheinungen an Büchern und
Zeitschriftenaufsätzen versorgte — eine Aus¬
sicht, die der Bibliothekar an der Deutschen
Bücherei, Dr. Frels, im Beiheft 47 zum
Zentralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig
1919, Harrassowitz, eröffnet, so wäre diese
Not als Lehrmeisterin in der Kunst zu be¬
grüßen, die wir so laut preisen und so wenig
üben, der Organisation der wissenschaft¬
lichen Arbeit.
Stuttgart, März 1920. Dr. H. Mannhart,
Bibliothekar d. Deutsch.
Ausland-Instituts.
Die Ostmark. Eine Landeskunde des deut¬
schen Nordostens von Prof. Fritz Braun.
Leipzig 1919, Friedr. Brandstetter.
Das Büchlein bringt auf 100 Seiten eine
Fülle des Wissenswerten über Bodengestal¬
tung, Klima, Pflanzen- und Tierleben, Be¬
wohner, Stadt- und Landleben, Kultur und
politische Verhältnisse. Der Begriff Ost¬
mark wird weit gefaßt als das Grenzgebiet
von Memel bis nach Oberschlesien (das aber
nicht hineingezogen wird), von der Ostsee
bis zu den Landesgrenzen, also ganz Ost-
und Westpreußen, Hinterpommern, Posen
und auch ein Teil von Niederschlesien. Per¬
sönliche Beobachtungen auf Wanderungen
und Streifzügen werden in frischer, leben¬
diger, oft schwungvoller Darstellung ge¬
geben. Die überraschend mannigfaltigen
Landschaften und Städtebilder werden an¬
schaulich und farbenreich hingestellt; deut¬
sche Kulturarbeit und Geistesleben im Ge¬
gensatz und Kampfe mit den Grenzvölkern,
den Polen, Masuren und Litauern, erleben
wir mit. Die verschiedenen Siedelungen;
die Großstädte Königsberg, Danzig und
Posen; die wechselnden Typen der kleinen
Städte und Dörfer mit ihren Wohnstätten
bis zum kassubischen Erdloch werden ge¬
kennzeichnet. Wie die Waldverteilung das
Landsdiaftsbild bestimmt, den Dünen-,
Heide- und Auwald, lernen wir kennen,
und daß der Slawe im allgemeinen für
Forstwirtschaft wenig tut. Mit warmer Hei¬
matliebe ist das alles geschildert. Das Buch
verdient, überall, auch in Mittel- und Süd¬
deutschland, gelesen zu werden, wie auch
die Ostmark, jetzt die arme, zerrissene und
verstümmelte, jede Teilnahme verdient.
„Sie bleibt in Kern und Wesen deutsch*,
so schließt unser Buch, „ein Kind so vie¬
ler Schmerzen darf nicht verloren gehen“.
Ein größeres Werk, Die Ostmark, Ein
Heimatbuch, im selben Verlage, ist im Er¬
scheinen. Darin wird der Verfasser eigene
Aufsätze mit solchen anderer Landeskun¬
diger zusammenstellen und herausgeben.
Als vertriebener Ostmärker grüße ich mit
Dank für Belehrung und Genuß den Ver¬
fasser, meinen Landsmann, Amtsgenossen
und früheren Schüler vom Danziger Gym¬
nasium.
Erfurt, Mai 1920. M. Rosbund.
Zeitschriftenschau.
Theologie.
Mars regiert zwar nicht mehr die Stunde,
aber die Nachwirkungen seiner Herrschaft
werden länger dauern und empfindlicher
sein, als man voraussah. Die Revolution,
die Arbeitseinstellungen, das von unseren
Feinden eingeschlagene Verfahren, den
Friedensschluß lange hinauszuzögern und
uns schwerste Friedensbedingungen aufzu-
zulegen — wie das alles zusammengewirkt
hat, den Druck von Büchern und Zeitschrif¬
ten und damit auch die wissenschaftliche
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651
Zeitschriftenschau
652
Arbeit bei uns sehr zu erschweren, das
haben wir hier nicht weiter zu besprechen;
wir gehen den Ursachen nicht nach, aber
wir sehen die Wirkung: von den Zeitschrif¬
ten, die während des Kriegs ihr Erscheinen
einstellen mußten, sind nur wenige wieder
zum Leben erwacht.
Schon können Akademien ihre eigenen
Veröffentlichungen nur mit Mühe drucken.
Der Staat wird wenig helfen können, da
er längst überschuldet ist. Nur durch groß-
zügigeZusammenfassung derprivaten Opfer¬
willigkeit wird Besserung möglich sein.
Auf theologischem Gebiet dient diesem
Zwedc eine im letzten Winter in Berlin be¬
gründete Gesellschaft (Näheres durch Pro¬
fessor Greßmann, Berlin - Schlachtensee,
Friedrich-Wilhelmstr. 60). In jedem Fall
treten diese äußeren Schwierigkeiten, unter
denen der Betrieb der Wissenschaft leidet,
heute jedem sofort entgegen, der sich einen
Überblick über die gelehrte Zeitschriften¬
literatur in Deutschland zu verschaffen
sucht.
Daneben besteht die schon im vorigen
Jahr (13. Jahrg., Sp. 529) geschilderte Tat¬
sache fort, daß Krieg, Revolution und son¬
stige Not es nicht so rasch und nicht so
leicht wieder zu der planmäßigen und ge¬
sammelten geistigen Arbeit an den großen
wissenschaftlichen Fragen kommen läßt,
sondern an die Stelle dieser Arbeit oft mehr
die Behandlung von Tagesfragen getreten
ist, die ernst und eindringend sein kann,
aber eine andere Art der Schriftstellerei
bedeutet, als die vor dem Krieg in unseren
wissenschaftlichen Zeitschriften übliche. So
ist der Abstand zwischen manchen eigent¬
lich wissenschaftlichen Zeitschriften und
den mehr dem praktischen Leben zuge¬
wandten geringer geworden, wenigstens
soweit es sich um die Wissenschaften von
Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, um wis¬
senschaftliche Erörterung ethischer, päd¬
agogischer und verwandter Fragen handelt.
Und es kann auch heute noch nicht die
Aufgabe dieser Übersicht über theologische
Zeitschriften sein, eine geringe Zahl um¬
fänglicher oder durch ihren Inhalt neue
Wege weisender Abhandlungen ausführ¬
lich zu würdigen und alles übrige zurück¬
zustellen. Eine Zeitschrift, die gerade durch
prinzipielle Aufsätze oft neue Fragestellun¬
gen brachte und Anlaß zu lebhafter Dis¬
kussion gab, die Zeitschrift für Theo-
logieund Kirche, ist im Berichtsjahr noch
nicht wieder aufgelebt; erfreulicherweise
hat sie aber 1920 wieder zu erscheinen be¬
gonnen. Der diesjährige Bericht wird noch
wie der vorjährige eine größere Zahl meist
kurzer Aufsätze zu umfassen haben; dar¬
unter ist zwar Tüchtiges, aber das Gesamt¬
bild zeigt durchaus noch die Spuren der
Notzeit. Eine allgemeine Charakteristik
gebe ich nur von denjenigen Zeitschriften,
deren Art nicht schon im vorigen Jahre
kurz geschildert worden ist.
Mit dem ästhetischen und dem ethischen
Gebiet ist es dem religiösen gemeinsam,
daß hier das Denken und Urteilen der ver¬
schiedenen Menschen nicht das Maß von
Übereinstimmung erreicht wie in den exak¬
ten Wissenschaften; eine Sonderstellung hat
aber das religiöse Gebiet, sofern hier diese
Verschiedenheit der Empfindungen und
Überzeugungen zur Sonderung der Organi¬
sationen führt. Religiöses Leben ist tat¬
sächlich, von ganz vereinzelten, wenn auch
bisweilen bedeutenden Ausnahmen abge¬
sehen, nur innerhalb organisierter religiöser
Gemeinschaften vorhanden, und mit dem
Leben dieser Gemeinschaften, der Kirchen,
ist die wissenschaftliche Religionsforschung
verwachsen, so gewiß sie andererseits oft
genug in Gegensatz zu kirchlichen Über¬
lieferungen und Herrschaftsansprüchen ge¬
treten ist und treten muß. Am leichtesten
können sich zu gemeinsamer religionswis¬
senschaftlicher Arbeit Gelehrte von verschie¬
denem Bekenntnis zusammenfinden, wenn
diese Arbeit speziellen oder entlegenen re¬
ligionsgeschichtlichen Stoffen gilt, am schwer¬
sten, wenn es sich um grundsätzliche Fra¬
gen handelt, die zwischen diesen Bekennt¬
nissen strittig sind. Über Probleme der Ge¬
schichte fremder Religionen werden sich
Katholiken und Protestanten, auch Juden
und Atheisten leichter verständigen, als
etwa Theisten und Atheisten über die sitt¬
lichen Motive und Wirkungen des Gottes¬
glaubens oder Katholiken und Protestanten
über die Bedeutung Luthers.
Beachtenswerte Beiträge zur Kenntnis
fremder Religionen sind seit langer Zeit
auch in den Missionszeitschriften ent¬
halten. So gewiß es Missionare ohne wis¬
senschaftlichen Sinn gegeben hat und gibt,
so gewiß verdanken wir die erste Erfor¬
schung der Sprache, der Sitte und der Re¬
ligion namentlich vieler kulturell tiefstehen¬
der Völker den Männern, die dort das Chri¬
stentum zu verbreiten suchten. Aber das
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PRINCETON UNIVERSITY
653
Zeitschriftenschau
654
ganze Streben, nichtchristliche Völker für
das Christentum zu gewinnen, hat seinen
Sitz in Kreisen mit starkem religiösen Emp¬
finden, ausgeprägtem kirchlichen Interesse.
So trägt die Mission natürlich kirchlichen
Sondercharakter, ist evangelisch oder katho¬
lisch, anglikanisch oder methodistisch oder
dgl., und so haben auch die der Mission
dienenden Zeitschriften ihre konfessionelle
Sonderart. Wenn eine von den deutschen,
die Zeitschrift für Missionskunde und Re¬
ligionswissenschaft (herausg. von Dr. Witte
in Berlin und Prof. Haas in Leipzig, Ber¬
lin SW 11, Hutten-Verlag), schon im Titel
andeutet, daß sie einer objektiven religions¬
wissenschaftlichen Forschung dienen will,
so ist diese Zeitschrift aus denjenigen Krei¬
sen des deutschen Protestantismus hervor¬
gegangen, die von Recht und Pflicht zu
historisch-kritischer Forschung auch auf
dem Gebiete der Religion überzeugt sind;
die von ihnen geförderte Werbearbeit für
das Christentum unter den Kulturvölkern
Ostasiens, die der Allgemeine evangelisch¬
protestantische Missionsverein betreibt (und
auch jetzt noch in Tsingtau und Japan trei¬
ben kann), wird aber eben deshalb von den
Anhängern der älteren Missionsgesellschaf-
ten oft unfreundlich beurteilt. Man muß
wünschen, daß einerseits auch in außer¬
kirchlichen Kreisen das Verständnis für die
Leistungen, zum mindesten für die kultu¬
rellen Leistungen der Mission wachse —
England und Amerika waren uns in sol¬
chem Verständnis bisher weit überlegen —,
andererseits unter den Missionaren draußen
und den Missionsfreunden in der Heimat
der Sinn für das Eigenartige und Wertvolle
in fremden Religionen und für die Aufga¬
ben vergleichender Religionswissenschaft
zunehme. Heute soll hier nicht von Mis¬
sionszeitschriften die Rede sein, sondern
zunächst von einer wesentlich religions¬
historischen, die immer besonders von Alt¬
philologen getragen worden ist und an der
Männer der verschiedensten Bekenntnisse
mitarbeiten.
Das Archiv für Religionswissen¬
schaft, das nach Dieterich und Wünsch
jetzt Otto Weinreich, Prof, in Heidelberg,
herausgibt, unter Mitwirkung von Bezold,
Boll, Kern, Nilsson, E. Norden, Oldenberg,
K. Th. Preuß, Reitzenstein, Wissowa (Leip¬
zig, Teubner), enthält im 19. Band (1917—19)
größere Aufsätze von Wissowa, Nilsson,
Scheftelowitz.Constantin Ritter, Joh.Geffcken.
I Wissowa behandelt die interpretatio ro-
mana fremder Göttemamen, d. h. den Brauch
der Römer und Griechen, die Götternamen
fremder Völker nicht wie sonstige Eigen¬
namen unverändert oder nur mit einiger
lautlicher Anpassung an die eigene Sprache
wiederzugeben, sondern sie meist, wie man
die Appeilativa übersetzt, so durch die Na¬
men der entsprechenden römischen bzw.
griechischen Gottheiten zu ersetzen, wobei
nun natürlich im einzelnen oft die fremde
Gottheit der römischen keineswegs voll ent¬
sprach, sondern lediglich gewisse Ähnlich¬
keiten vorhanden waren. Römer und Grie¬
chen selbst haben ja ihre an sich keines¬
wegs ganz einander entsprechenden Götter
so parallelisiert und angeglichen. Merkur,
Herkules, Mars, die Tacitus als Germanen¬
götter nennt, werden heute allgemein als
Wotan, Donar, Tiu angesehen; in andern
Fällen vermögen wir den Namen des frem¬
den Gottes nicht mehr zu ermitteln oder
die Gleichung nicht zu vollziehen. Auf In¬
schriften der Eingeborenen werden teils die
einheimischen, teils die lateinischen Na¬
men, teils beide nebeneinander angegeben.
Nilsson, Prof, in Lund, erörtert die Vor¬
geschichte des Weihnachtsfests, die in den
letzten Jahrzehnten schon mannigfach be¬
handelt worden ist, so von Usener und La-
garde, wie auch die damit zusammengehö¬
riger Feste, z. B. die des Epiphanienfestes
kürzlich von Holl. Die Menge der Probleme,
die da zusammenwachsen, da es sich um
die ganze Zeit der 12 Nächte handelt, und
denen Nilsson etwa 100 Seiten widmet, läßt
sich hier nur andeuten. Es handelt sich
zum Teil um die Geschichte des Neujahrs¬
festes, das in Rom zu Ovids Zeiten noch
ohne Schmaus begangen wurde, später, im
4. Jahrh., dagegen mehrtägig und so üppig
wie früher die im Dezember gefeierten Sa¬
turnalien. Vermummungen verschiedener
Art, im Westen solche in Tiergestalt, im
Osten eine Prozession mit Götter- und Frauen¬
masken, eine Art Karneval gehören in die¬
sen Festkreis. Die Christen haben ihr Weih¬
nachtsfest der römischen Bedeutung des
25. Dezember als des dies invicti solis ent¬
gegengesetzt. Im Frühmittelalter wurde
der Jahresanfang im Abendlande vom 1. Ja¬
nuar auf den 25. Dezember verlegt (zum
1. Januar zurückgekehrt ist man dann nicht
überall am gleichen Zeitpunkte; Luther z. B.
begann das neue Jahr noch am 25. Dezem¬
ber). Der Zusammenhang zwischen unse-
Dic
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Zeitschriftenschau
656
ren Weihnachten und einem altgermani¬
schen Fest ist umstritten; leiten Armin
Tille und Bilfinger alles Wesentliche des
Weihnachtsfestes nicht von einem germa¬
nischen Sonnwendfest her, sondern teils
aus der römischen Kalendenfeier, teils aus
christlichen Gebrauchen, so erklärt Nilsson
die große Rolle, zu der das Weihnachtsfest
gelangte, doch daraus, daß hier ein vor¬
christliches Julfest nachwirkt, von dem wir
freilich keine genauere Kenntnis haben,
dessen Bedeutung aber nicht zuletzt im
nordischen Klima begründet ist — der Win¬
ter ist die Zeit des Rühens und Feierns.
Im Zusammenhang mit diesem Aufsatze
Nilssons stehen solche von Weber über
das Kronosfest in Durosturum (Silistria) —
das Martyrium, das ein christlicher Soldat
hier 303 erlitt, hängt mit diesem Fest zu¬
sammen, das den Saturnalien verwandt er¬
scheint — und von Boll über die Gleich¬
setzung von Kronos und Helios. C. Ritter
behandelt Platons Gedanken über Gott und
das Verhältnis der Welt und des Menschen
zu ihm, die zum Teil nicht zur Harmonie
gelangt sind, zum Teil auch von uns nur
vorsichtig erschlossen werden können; z. B.
darf man nicht alle Mythen Platons für bare
Münze, Ausdruck seiner wissenschaftlichen
Denkweise nehmen. Das Verhältnis Gottes
zur Welt ist schließlich bei ihm doch nicht
das pantheistische, sondern seine Gedanken
stehen einem Panentheismus nahe, wie ihn
im 19. Jahrh. Krause oder Fechner vertre¬
ten. Das Problem der Willensfreiheit er¬
fährt keine einheitliche Beantwortung. Zu¬
letzt geht R., von dem ein umfängliches
Werk über Platon bereits zum Teil vorliegt,
auf die eigentümliche Stelle der Nomoi ein,
die den Atheismus bestraft sehen wollen;
was R. hier zur Rechtfertigung der plato¬
nischen Denkweise aus dem ethischen und
optimistischen Charakter des Gottesglaubens
Platons anführt, scheint mir sie zwar zu er¬
klären, aber nicht zu rechtfertigen. Joh.
Geffcken bespricht den Bilderstreit, den
schon das ausgehende Altertum hatte. Es
ist das kein so gewaltsamer Kampf wie
der bekannte Streit, den das christliche
Morgenland im Frühmittelalter um das Recht
der Bilder im Kultus hatte; das morgen¬
ländische Christentum stand da zwischen
massiver Bilderanbetung durch das Volk
einerseits, denVorwürfen andererseits, die der
bildlose Islam dem hier scheinbar insHeiden-
tum zurücksinkenden Christentum machte.
Sondern bei dem von Geffcken dargestell¬
ten Streit handelt es sich um eine immer¬
hin lebhafte Diskussion zwischen religiösen
Denkern der spätgriechischeu Welt. Hatte
zunächst die Religionsphilosophie im Zu¬
sammenhang mit fortschreitender Verinner¬
lichung und Vergeistigung die bildliche Dar¬
stellung des Göttlichen und vollends die
Verehrung von Götterbildern mehr und
mehr verworfen, so wird später unter dem
Einfluß der Volksfrömmigkeit und des Neu¬
platonismus jene sinnlichere Denkweise
immer unbedenklicher gerechtfertigt — eine
Entwicklung, die Geffcken historisch dar¬
stellt, die wir sicher nicht oder mindestens
nicht nur als Ergänzung des Idealismus
durch gesunden Realismus beurteilen wer¬
den, sondern zum guten Teil einfach als
Erlahmen der geistigen Kraft gegenüber
bunter Phantastik und gegenüber den Ge¬
wöhnungen der Masse. Scheftelowitz
behandelt den Seelen- und Unsterblichkeits¬
glauben des Alten Testaments, in Gegen¬
satz zur landläufigen Meinung, wonach Un¬
sterblichkeitsglaube dem alten Israel fremd
gewesen und erst im Judentum der letzten
vorchristlichen Jahrhunderte namentlich un¬
ter persischen Einflüssen aufgekommen sei.
Gewiß kann man betonen, daß ein Fort¬
leben der Seelen in der Scheol, dem Schat¬
tenreich, doch schon zur Gedankenwelt der
alten Israeliten gehört, was übrigens kaum
bestritten wird; nur ist solch schattenhaftes
Hindämmern von der Unsterblichkeit recht
verschieden, die im Platonismus, und voll¬
ends von der Fleischesauferstehung, die im
Spätjudentum erhofft wird. Außer diesen
größeren Aufsätzen enthält das Archiv eine
Anzahl kleinerer und zusammenfassende
Berichte über die einschlägige Literatur
der letzten Jahre, von Schwally über die
zur semitischen Religion, von Oskar Holtz-
mann über die zum Spätjudentum, von
Günter über Hagiographisches, beson¬
ders über Delehayes Origines du culte des
martyrs, die Lucius’ Meinung berichtigen,
es seien die christlichen Heiligen zum guten
Teil christianisierte Heidengötter, und über
Anrichs Hagios Nikolaos (Anrich hat dar¬
getan, daß der namentlich im Morgenland
überaus beliebte hl. Nikolaos zusammen¬
gewachsen ist aus zwei geschichtlichen Per¬
sonen, einem kleinasiatischen Bischof wohl
des 4. und einem gleichnamigen Abt des
6. Jahrh.), endlich von Werminghoff über
Literatur zur mittleren und neueren Kircben-
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Zeitschriftenschau
658
geschichte. Weinreich beurteilt die bei
Diederichs erscheinende Sammlung Reli¬
giöse Stimmen der Völker, und daß Oester¬
reich Rudolf Ottos Buch das Heilige einer
gesonderten Besprechung unterzieht, ist bei
der Bedeutung dieses Werkes des Marbur-
ger Theologen durchaus angemessen. 1 )
Sind im übrigen, obwohl in neuerer Zeit
erfreulicherweise bei verschiedenen Anlässen
Theologen verschiedener Bekenntnisse in
steigendem Maße Zusammenarbeiten, die
theologischen Zeitschriften von Haus aus
konfessionell gesondert, so beginnen wir
wiederum mit zwei katholischen. Die schon
im vorigen Jahre hier erwähnte Theolo¬
gische Quartalschrift, herausgegeben
von Sägmüller, Rießler, Rohr, Bihlmeyer,
Schilling, Professoren in Tübingen (Tübingen,
Laupp), ist in ihren hundertsten Jahrgang ge¬
treten, dessen 1. Heft berechtigterweise als
Festgabe gestaltet ist. Ein Vorwort blickt
auf das hundertjährige Bestehen der Zeit¬
schrift zurück, an der berühmte Männer wie
Möhler, Hirscher, Hefele, Funk mitgearbeitet
haben. Wenn die jetzigen Herausgeber über¬
zeugt sind, im alten Geiste zu arbeiten, und
daß das ursprüngliche Programm der Zeit¬
schrift im wesentlichen heute noch gelte, so
entspricht das durchaus ihrem katholischen
Empfinden; dem ferner Stehenden wird es
allerdings erlaubt sein, auszusprechen, daß
im Katholizismus die Bewegungsfreiheit vor
hundert Jahren größer war als heute, nach¬
dem namentlich Pius X. den Kampf gegen
jeden Modernismus*so rücksichtslos geführt
und den Ton stärker auf Autorität und Über¬
lieferung gelegt hat. Um so offener darf
anerkannt werden, daß auch in diesem Jahr¬
gang der Quartalschrift ernste wissenschaft¬
liche Arbeit vorliegt. Das Urteil über Ein¬
zelfragen wird dabei natürlich noch oft aus¬
einandergehen. Z. B. bleibt mir Rießlers
neue Deutung des Hohenliedes gerade auch
1) Inhalt von Bd. XIX Heft 4: F. v. Duhn,
Bemerkungen zur Orientierung von Kirchen
und Gräbern. Wiedemann, Beiträge zur
ägyptischen Religion II. C. Ritter, Pla¬
tons Gedanken über Gott usw. II. Wer-
minghoff, Neuerscheinungen zur Reli-
gions- und Kirchengeschichte des Mittel¬
alters und der Neuzeit. Van derLeeuw,
Das neuentdeckte Osirisheiligtum in Aby-
dos. Fehrle, Das Sieb im Volksglauben.
Kern, Kabiriaka. Boll, Der Adler als
Mystengrad. Oesterreich, Das Heilige.
Weinreich, Die religionsgeschichtliche Bi¬
bliographie.
beim Lesen der von ihm gegebenen Über¬
setzung fremd. Bekanntlich hat man über
die eigentümliche Tatsache, daß eine Samm¬
lung von Liebesliedern, dem Salomo zu¬
geschrieben, in die heiligen Schriften der
Israeliten gekommen ist, sich dadurch hin¬
wegzuhelfen gesucht, daß man sie allego¬
risch deutete, etwa auf Jahwe und Israel.
Christliche Theologen, so auch Luther in
seinen Kapitelüberschriften, fanden hier das
Verhältnis Christi zur Kirche als seiner Braut
versinnbildlicht. Rießler meint, die Braut
sei vielmehr eine religiöse Gemeinschaft von
der Art der ordensähnlichen Genossenschaf¬
ten im Spätjudentum, der Essener oder der
nur von Philo geschilderten Therapeuten.
Es gibt nun zwar seltsame Allegorien, nicht
nur gewaltsame allegorische Deutungen, son¬
dern auch Gedichte, die von vornherein als
Allegorien gemeint sind, obwohl uns Bild
und Deutung himmelweit auseinander zu
liegen scheinen. Aber hier ist im Text der
Charakter wirklicher orientalischer Liebes-
poesie zu bestimmt ausgeprägt, als daß man
solche geistliche Deutungen versuchen dürfte.
Rohr behandelt die Humanitätsidee im Zeit¬
alter Jesu d. h. besonders die Bedeutung
solcher neutestamentlicher Stücke wie der
Geschichte vom barmherzigen Samariter für
den Ausgleich nationaler und ständischer
Gegensätze, für die Besserung der Lage der
Sklaven, Frauen usw. Sägmüller erörtert
die Stellung der kirchlichen Rechtsgeschichte
in der akademischen Disziplin des Kirchen-
rechts gegenüber der Forderung von Stutz,
der die kirchliche Rechtsgeschichte geson¬
dert behandelt sehen will. Für eine histo¬
rische neben der rechtsdogmatischen Vor¬
lesung ist aber in dem bei uns üblichen
Studiengang kein Raum; so bleibt nach Säg¬
müller nur übrig, daß man in der Vorlesung
über das Kirchenrecht einleitungsweise und
sonst den geschichtlichen Stoff nicht zu knapp
mitteile. Schilling bespricht das Zins¬
problem. Bekanntlich ist von der katho¬
lischen Kirche vergangener Jahrhunderte das
Zinsnehmen verboten, dies Verbot aber nie
ganz durchgesetzt worden. Neuere katho¬
lische Theologen haben auf verschiedene
Art das Nehmen eines mäßigen Zinses zu
rechtfertigen gesucht, so zuletzt Landner
durch den Hinweis darauf, daß das Geld im
Laufe der Zeit an Wert langsam einbüßt,
die Ware teurer zu werden pflegt. Einer¬
seits wird auch jeder nichtkatholische Ethiker
anerkennen müssen, daß, wenn man jenes
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Zeitschriftenschau
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Verbot einfach als unmöglich bezeichnet und
das wirtschaftliche Leben seinen eigenen
Gesetzen überlassen will wie etwa auch die
Politik, damit die sittlichen Fragen auf die¬
sem Gebiet keineswegs gelöst sind, viel¬
mehr nur eine Art Anarchie der mensch¬
lichen Triebe proklamiert ist. Suchen wir
überhaupt sittliche Grundsätze und sollen
sie unsere höchsten Grundsätze sein, so
wird auch die wirtschaftliche Selbstsucht
sich Einschränkungen gefallen lassen müs¬
sen nicht nur vom wirtschaftlichen Gebiet
selbst her. Andererseits werden, wenn
Schilling in Übereinstimmung mit der heu¬
tigen katholischen Moral und dem neuen,
vom jetzigen Papst erlassenen Codex iuris
canonici einen mäßigen Zins rechtfertigt,
Nichtkatholiken doch die Unterscheidung,
die er hierbei macht, kaum ebenso betonen
wie er; er erklärt, der Darlehnsgeber dürfe
sich einen mäßigen Zins ausbedingen „durch¬
aus nicht, weil er dem anderen die Mög¬
lichkeit, Gewinn zu machen, verschafft, son¬
dern lediglich, weil er“ (der Geldgeber) „auf
die Möglichkeit, Gewinn zu machen, ver¬
zichtet“ (die er haben würde, wenn er das
Geld inzwischen selbst irgendwie verwen¬
dete). Den Schluß bildet eine Darlegung
Bihlmeyers über Möhler als Kirchenhisto¬
riker, seine Leistungen und seine Methode,
die Bihlmeyer lehrreich in den Entwick¬
lungsgang der deutschen historischen For¬
schung im 19 Jahrh. hineinstellt. Im fol¬
genden Doppelheft (dem letzten, das mir
vorliegt) wendet sich Witzei gegen eine
von dem Benediktiner Landersdorfer im
Anschluß an den Engländer Langdon be¬
hauptete weitgehende Analogie zwischen
einem sumerischen Text und der biblischen
Paradieses- und Sintflutgeschichte. Zwar
gehen die namentlich seit Friedr. Delitzsch
vielbeachteten babylonisch-assyrischen dem
Alten Testament verwandten Texte wahr¬
scheinlich zum Teil auf sumerische zurück,
es bleibt aber bei Witzeis Übersetzung, deren
Recht gegenüber der anderen ich nicht nach¬
prüfen kann, fast nichts von Parallelen übrig.’)
2) Inhalt des 2. und 3. Quartalhefts 1919:
Witzei, Angebliche sumerische Parallelen
zur biblischen Urgeschichte. Slaby, Gene¬
sis 50, 2—10 im Lichte der altägyptischen
Denkmäler. Baur, Duplikate in Mignes
Patrologia graeca. Minges, Skotistisches
bei Richard von Mediavilla. Waldmann,
Zur inneren Begründungder läßlichenSünde.
Rezensionen. Analekten.
Wie die Theologische Quartalschrift von
der katholisch-theologischen Fakultät in Tü¬
bingen, so wird die Monatschrift Theolo¬
gie und Glaube von den Professoren des
Priesterseminars zu Paderborn herausgege¬
ben, Peters, Poggel, Bartmann, Müller, Funke,
Tenckhoff, Fuchs, Feldmann, Schneider (Pa¬
derborn, Schöningh). Der soeben erwähnte
Landersdorfer berichtet hier über das
hethitische Problem und die Bibel. Im zwei¬
ten Jahrtausend v. Chr. besaßen die Hethiter
in Kleinasien, Syrien und Nordmesopota¬
mien ein großes Reich, das hernach nicht
nur zerstört, sondern fast vergessen worden
ist. An der Entzifferung der hethitischen
Inschriften arbeitet die Forschung jetzt. Ver¬
mischt hat sich dieses Volk auch mit den
Israeliten, was, wenn die Hethiter Indoger¬
manen waren, von besonderem Interesse ist.
Der Geschichte des sog. comma Iohanneum
geht Bischof Bludau von Ermland, früher
Professor in Münster, in zwei Aufsätzen
nach; es handelt sich um eine Stelle im
1. Joh.-Brief, die als Beleg dafür, daß die
Dreieinigkeitslehre schon im Urchristentum
vorhanden gewesen wäre, von Bedeutung
sein würde, aber unecht ist. Bludau zeigt,
daß man die Verwendung der Stelle in ei¬
nem nordafrikanischen Glaubensbekenntnis
des 5. Jahrh. nicht überschätzen darf und
daß sie Augustin unbekannt war; diese Dar¬
legungen sind auch deshalb von Interesse,
weil die Inquisitionskongregation in Rom
1897 verboten hat, die Echtheit jener Stelle
in Zweifel zu ziehen; derartige Dekrete
päpstlicher Behörden stehen zur wissen¬
schaftlichen Arbeit katholischer Theologen
in seltsamem Mißverhältnis. Altaner be¬
handelt den Armutsgedanken bei Domini¬
kus, dem Stifter des Dominikanerordens.
Für Dominikus war das Ideal der Armut
nicht so bedeutsam wie für seinen Zeit¬
genossen Franz von Assisi; dafür war die
Form, in der er es vertrat, dauerhafter. Der
Würzburger Philosoph Stölzle berichtet
über Intrigen, die es veranlaßten, daß der
bekannte mildgesinnte Sailer, nachmals Bi¬
schof von Regensburg, 1819 von Rom als
Kandidat für den Augsburger Bischofsstuli!
abgelehnt wurde. Eingehend wird über
solche Erscheinungen der Gegenwart be¬
richtet, die für die kirchliche Praxis bedeut¬
sam sind, so über die Volkshochschulen.
Liese beschreibt die in Freiburg neuer¬
dings begründete Caritasschule, eine Anstalt
zur planmäßigen Weiterbildung der auf den
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Zeitschriftenschau
662
verschiedenen Gebieten der kirchlichen Lie¬
bestätigkeit arbeitenden Katholiken. Das
starke soziale Interesse der deutschen Ka¬
tholiken ist mit bemerkenswerter Organisa¬
tionsgabe verbunden. Namentlich der länd¬
lichen Wohlfahrtspflege wendet man stei¬
gende Aufmerksamkeit zu. Neben der Ca¬
ritasschule steht in Freiburg ein Missions¬
institut, das nichts mit Heidenmission zu
tun hat, sondern Mission bezeichnet hier
planmäßige religiöse Beeinflussung nament¬
lich solcher, die der Kirche entfremdet oder
doch kirchenfeindlichen Einwirkungen aus¬
gesetzt sind. Jenes Institut gibt den Prie¬
stern Anleitung, besonders auch je nach der
Verschiedenheit der Stände solche Mission
zu treiben, wie der Franziskaner Schulte
darlegt. Freilich wird es der Nichtkatholik
bisweilen beklagen, daß zu allen möglichen,
nicht etwa protestantischen, sondern inter¬
konfessionellen Unternehmungen katholi¬
sche Parallelen geschaffen werden. Katho¬
lisch-soziale Frauenschulen mag es geben,
wie und weil es evangelische gibt, aber es
tritt z. B. auch dem Wandervogel eine ähn-
lidie katholische Bewegung, Quickborn, zur
Seite oder entgegen. Die katholischen
Schüler höherer Lehranstalten sucht gegen¬
über deutschnationalen und anderen Jugend¬
bünden der schon sehr verbreitete Bund
Neu-Deutschland zusammenzufassen, über
den sein Geschäftsführer, der Jesuit Esch,
berichtet. Den Schluß jeder Nummer bil¬
den Literaturberichte von verschiedenen
Gebieten und eine kurze Umschau in Welt
und Kirche. ’)
Neben oder vielmehr dem Alter nach vor
der Zeitschrift „Theologie und Glaube“ wäre
hier „Der Katholik“ zu würdigen gewesen,
das Organ der Mainzer Theologen, fast so
alt wie die Tübinger „Theologische Quartal¬
schrift“, aber in seiner langen Geschichte oft
einem anderen Geiste dienend: war Tü¬
bingen ein Hauptsitz einer historischen und
3) Inhalt von Heft 7/8 des 11. Jahrgangs:
Müller, ZurVolkshochschulbewegung. Eit-
ner, Pfarrkartotheken. Stiglmayr, Man¬
nigfache Bedeutungen von „Theologie“ und
„Theologen“. Schulte, Das Missionsinsti¬
tut in Freiburg. Doergens, Griechische
Welt- und Lebensanschauung in ihrem Ver¬
hältnis zum Christentum. Stölzle, Warum
Sailer 1819 nicht Bischof von Augsburg
wurde. Höflin, Quickborn. Gspann, Das
Vaterunser des Philosophen. Erlasse und
Entscheidungen. Aus der Theologie der
Gegenwart usw.
innerhalb der Grenzen des katholischen Den¬
kens auch kritischen Theologie, so Mainz
eine Stätte der Neuscholastik. Nur darf man
keineswegs die gesamte theologische Ar¬
beit dieser Zeitschrift damit abstempeln
wollen. Indes verschiebe ich die Würdi¬
gung dieses Organs, das, bei Kirchheim in
Mainz erscheinend, zuletzt von den dortigen
Professoren Becker und Selbst herausgege¬
ben wurde, auf später, da es zu Beginn
des Jahres 1919 sein Erscheinen bis auf
weiteres einstellen mußte. Andere katho¬
lisch-theologische Zeitschriften gleichfalls
einem künftigen Berichte vorbehaltend, gehe
ich zu protestantischen über.
Die bereits im vorigen Jahre hier charak¬
terisierten „TheologischenStudienund
Kritiken“, herausgegeben von den Pro¬
fessoren Kattenbusch und Loofs in Halle
(Gotha, F. A. Perthes), bringen in ihrem
92. Jahrgang größere Aufsätze von Preisker,
Ernst, Hering und Hölscher. Preisker be¬
handelt die Art und Tragweite der Lebens¬
lehre Jesu, d. h. die seit einem Menschen¬
alter besonders lebhaft verhandelte Frage,
wie sich die Ethik Jesu zur heutigen Kultur
verhält, ob sie uns noch heute die Grund¬
linien gesunder kultureller Betätigung gibt
oder vielmehr, weil wesentlich durch die
Erwartung baldigen Weitendes bestimmt,
für uns unbrauchbar ist oder uns doch in
starke Spannung zur heutigen Kultur bringt;
solche Spannung könnte ja in mancher Be¬
ziehung heilsam sein, ist in gewissem Sinne
mit aller lebendigen Religion gegeben; wer
überweltliche Güter ahnt, sucht, kennt, wird
nicht kulturselig werden. Preisker betont
stärker als die Erwartung baldigen Weit¬
endes das, was er den Individualismus Jesu
nennt — ob der Ausdruck glücklich ist, mag
umstritten bleiben; es handelt sich um die
Verinnerlichung, Vertiefung, persönliche Zu¬
spitzung der religiös-ethischen Hauptgedan¬
ken, die in dieser Form dann durchaus ihre
Bedeutung für uns behalten. Ernst stellt
die Frömmigkeit des Erasmus dar, dessen
in vielem modern anmutende Denkweise
heute wieder Gegenstand stärkeren Inter¬
esses ist, unter anderem in einem wertvollen
Buch des leider gefallenen jungen Theolo¬
gen Mestwerdt behandelt wurde. Erasmus
erscheint als Vertreter eines von der plato¬
nisch-stoischen Philosophie beeinflußten,
biblisch begründeten, moralistisch gerichte¬
ten Christentums. Soweit er trotz scharfer
Kritik, die er an dem herkömmlichen kirch-
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663
Zeitschriftenschau
664
liehen Betrieb übt, doch schließlich in den
Bahnen des überlieferten Katholizismus
bleibt, fragt man sich, ob er da ehrlich war.
Ernst bejaht das, und findet, daß dieser
Typus der immer nach dem Guten streben¬
den, dabei ungebrochenen, weil sich nidit
brechenlassenden Menschennatur bleibende
Bedeutung hat, auch auf protestantischem
Boden; im Rationalismus der Aufklärungs¬
zeit gewann diese Art der Frömmigkeit be¬
sondere Macht. Aber den höheren Wert
erkennt Ernst doch der ganz anderen Art
Luthers zu, der sich ganz Gott hingab, von
da aus dann aber Welt und Zeit wirklich
umzugestalten vermochte. Hering, der Se¬
nior der hallischen theologischen Fakultät,
hat die Forschung nach Schleiermachers
Vorfahren, in deren Seelen zum Teil schon
eigentümliche religiöse Kämpfe wahrzuneh¬
men sind, in dankenswerter Weise weiter¬
geführt, indem er einen Zusammenhang
zwischen dem ältesten bisher bekannten,
einem Ratsschöffen in Gemünden in Nieder¬
hessen um 17C0, und der in Wildungen schon
im 16. Jahrh. ansässigen Familie gleichen
Namens fast sicher macht. Hölscher, Pro¬
fessor in Halle, geht der Entstehung des
Buches Daniel nach. Diese Schrift wird
immer allgemeiner wesentlich in die Zeit
der Bedrückung gesetzt, die das jüdische
Volk unter Antiochus IV. Epiphanes um 165
v. Chr. erlitt. Die Einheitlichkeit des Buchs
mußte aber schon deshalb zweifelhaft sein,
weil es nur zum Teil hebräisch, zum Teil
dagegen aramäisch geschrieben ist. Hölscher
führt eine zuerst von Spinoza, in unseren
Tagen von Sellin vorgenommene Scheidung
weiter, wonach der erste Teil des Buchs
doch älter ist, aus dem 3. Jahrh. stammt —
aber also auch nicht etwa, wie der Text
glauben machen will, aus der Zeit Nebu-
kadnezars — die Kapitel von 8 an dagegen
aus der soeben angegebenen Zeit; im ein¬
zelnen seien noch Einschübe und Nachträge
kenntlich. Es folgt eine Reihe kürzerer Bei¬
träge. 4 )
4) Inhalt des 2. Hefts 1919: Hering,
Schleiermachers Familienheimat und Vor¬
fahren väterlicherseits. Hölscher, Die Ent¬
stehung des Buches Daniel. Brüne, Das
Zeugnis des Josephus über Christus. Moe-
ring, Egenomen en pneumati. Mulert,
Die angeblich älteste Schrift Schleiermachers.
Stephan, Zwei ungedruckte Briefe Schleier¬
machers. v. Rohden, Eine neue Apologe¬
tik. Hering, Schleiermachers Braut. Kat-
Von Zeitschriften, die allen Gebieten der
wissenschaftlichen Theologie dienen, sind
im vorigen Jahre hier außer den „Studien
und Kritiken“ die „Protestantischen Monats¬
hefte“ und die „Neue kirchliche Zeitschrift“
gewürdigt worden. Neben diesen Organen,
die der Theologie überhaupt dienen, haben
— übrigens auch auf katholischer Seite —
schon längst eine Anzahl spezieller Fach¬
zeitschriften gestanden, für biblische oder
kirchengeschichtliche Forschung, für syste¬
matische und für die verschiedenen Zweige
der praktischen Theologie, kirchliche Kunst,
Kirchenrecht, Religionsunterricht; auch die
obengenannten Missionszeitschriften gehö¬
ren hierher. Ober einige von ihnen sei
hier noch kurz berichtet, die neutestament-
liche, die kirchengeschichtliche und, da ge¬
rade in den letzten Jahren im Zusammen¬
hang mit der Revolution einige Probleme
der kirchlichen Praxis, der Kirchenverfas¬
sungsreform besonders hervortraten, über
zwei praktisch-theologische.
Die „Zeitschrift für neutestament-
liche Wissenschaft und Kunde des Ur¬
christentums“, herausgegeben von Preuschen
(Gießen, Töpelmann), liegt im 19. Jahrgang
vor, von dem bei Abfassung dieses Berichts
das 1. Heft erschienen war. Hier finden
wir rein gelehrte Forschung ohne Hinblick
auf Tagesereignisse. Corssen wendet sich
gegen Reitzensteins Meinung, Paulus hätte
mit seinen Gleichnissen vom Spiegel und
sich spiegeln (1. Kor. 13 und 2. Kor. 3) Ge¬
danken ausgesprochen, die mit solchen des
Porphyrius, eines neuplatonischen Gegners
des Christentums im 3. Jahrh., so verwandt
seien, daß wir eine gemeinsame Quelle ver¬
muten müßten. Corssen sucht zu zeigen, daß
die Denkweise beider hier doch sehr ver¬
schieden sei, die Gedanken des Paulus seien
wesentlich durch die alttestamentliche Über¬
lieferung bestimmt. Hadorn deutet die
vielbesprochene Stelle in der Offenbarung
Johannis, in der als Zahl des Tieres 666 an¬
gegeben wird, auf den Kaiser Trajan; nach
verbreiteter Meinung wird da in der Tat ein
Name zahlensymbolisch angedeutet, natür¬
lich der eines Christenfeindes; meist hat
man an Nero gedacht. Carl Sachsse er¬
örtert die Lage der Kreuzigungsstätte Jesu
(die der englische General Gordon nicht dort
suchte, wo auf Grund einer bis in Konstan¬
tenbusch, Schleiermachers Wohnung in
Halle.
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Zeitschriftenschau
666
tins Zeiten zurückreichenden Überlieferung
die Grabeskirche steht, sondern auf einem
in der Tat schädelähnlichen weiter außer¬
halb liegenden Hügel; Golgatha bedeutet
Schädel) und der Stelle, wo der Prozeß vor
Pilatus stattfand. Hertlein lehnt Kuhnerts
Versuch ab, Jesu Selbstbezeichnung Men¬
schensohn in Anknüpfung an hellenistische
Ehrentitel (hyios Laodikeon Wohltäter —
man möchte fast sagen; Ehrenbürger — von
Laodicea) als Wohltäter der Menschheit zu
deuten. 8 )
Die von dem als Professor in Leipzig ver¬
storbenen Brieger begründete „Zeitschrift
für Kirchengeschichte“ (Gotha, F. A.
Perthes) ist mit ihrem 38. Band neu orga¬
nisiert worden; hinter ihr steht jetzt eine
deutsche Gesellschaft für Kirchengeschichte,
Herausgeber ist Prof. Zscharnack in Ber¬
lin geworden. Im 1. Heft beginnt Th. Zahn,
der Erlanger Altmeister, eine Untersuchung
über die verschiedenen Ammonius (der
Name war in Ägypten häufig, bekannt ist
der Begründer des Neuplatonismus, Ammo¬
nius Sakkas; dann sind Stücke aus Bibel¬
auslegungen unter dem Namen eines oder
mehrerer A. überliefert). Holl zeigt, wie
der Streit, den Paulus gemäß seiner Erzäh¬
lung im Galaterbrief mit Petrus in Antiochia
hatte, Luther in den Jahren, in denen er
sich zum Reformator entwickelte, wieder¬
holt beschäftigt hat; den von römischer
Seite behaupteten Vorrang des Petrus vor
den übrigen Aposteln mußte auch diese Er¬
zählung dem Reformator unsicher machen.
Prof. Stuhlfauth regt an, bei der Samm¬
lung für kirchliche Kunst an der Berliner
Universität eine solche von Reproduktionen
der Bilder aller kirchengeschichtlich bedeut¬
samen Personen zu schaffen. Fischer
macht Vorschläge für die Ausgestaltung der
kirchen- und kulturgeschichtlich wichtigen
Pfarrerverzeichnisse. Ein wichtiger Beitrag
dazu wäre, wie Pallas darlegt, der weitere
Drude des sog. Wittenberger Ordinierten-
buchs, von dem erst der Anfang allgemein
zugänglich ist. Aus dem übrigen Inhalt
des Heftes sei Schaumkeils Aufsatz über
5) Inhalt von Heft 1 des 19. Jahrgangs:
Corssen, Paulus und Porphyrius. Hadorn,
Die Zahl 666, ein Hinweis auf Trajan.
Sachsse, Golgatha und das Prätorium des
Pilatus. Erbes, Was bedeutet allotrioepi-
skopus 1. Ps. 4, 15? Alt, Zu Epiphanios
Panarion 51, 30. Hertlein, Ho hyios tu
anthropu.
Richard Rothes Beurteilung Luthers und der
Reformation genannt, die mit Rothes Ge¬
danken zusammenhängt, das Ziel der Ent¬
wicklung sei Verchristlichung der Welt und
Aufhören der Kirche, die in einem christ¬
lichen Kulturstaat aufgehen sollte; die Re¬
formation erscheint bei Rothe als ein wich¬
tiger Schritt auf dem Wege dorthin. Den
Abschluß bildet ein lehrreicher Bericht Carl
Clemens über die religionsgeschichtliche
Literatur der letzten Jahre. 0 )
Aus den Zeitschriften, die der praktischen
Theologie dienen, bleiben solche Stücke,
die lediglich Interesse für die kirchliche
Praxis haben, hier unerwähnt; die beiden
Blätter aber, über die jetzt noch berichtet
werden soll, pflegen zugleich beachtens¬
werte grundsätzliche, zum Teil auch ge¬
schichtliche Darlegungen zu enthalten. Die
Monatschrift für Pastoraltheologie,
herausgegeben von Prof. Wurster in Tü¬
bingen und Generalsuperintendent Sc ho eil
in Reutlingen, jetzt im 16. Jahrgang (bisher
Berlin, Reuther & Reichard, nun Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht), brachte nach der
Revolution Aufsätze von Wurster und Prof.
Eger in Halle: Was nun mit unserer Kirche?
Was Wurster im Interesse der Erhaltung
des Volkskirchentums fordert, ist im wesent¬
lichen durch die Weimarer Verfassung zu¬
gesagt oder doch ermöglicht worden. Wenn
er zunächst hoffte, die Neuregelung werde
durch die Länder, nicht durch das Reich
erfolgen, so hat man es inzwischen auf
kirchlicher Seite gewiß überwiegend als Er¬
leichterung empfunden, daß die Dinge in
Weimar einheitlich geregelt wurden. Denn
sonst hätte zwar in manchen Gebieten die
katholische Kirche ihren Willen durchgesetzt.
6) Inhalt von Heft 1 des 38. Jahrganges:
Zahn, Der Exeget Ammonius. Holl, Der
Streit zwischen Petrus und Paulus in seiner
Bedeutung für Luthers Entwicklung. Stuhl¬
fauth, Eine kirchengeschichtliche Bildnis-
zentrale. Fischer, Presbyterologien. Pal¬
las, Das Wittenberger Ordiniertenbuch.
Schremmer, Kirchengeschidite in der
Schule. Bernoulli, Ein Reisebüchlein für
Jerusalemspilger. Hugo Koch, Zum nova-
tianischenSchrifttum. Hugo Lehmann, Zum
Briefwechsel zwischen Spener und Land¬
graf Ernst von Hessen-Rheinfels. Schaum¬
keil, Rothes Beurteilung Luthers. Zschar¬
nack, Zur Geschichte und Aufgabe der
deutschen evangel. kirchengeschichtlichen
Organisationen. Einzelberichte: CI einen,
Christentum und andere Religionen.
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668
anderwärts aber, in Sachsen, Thüringen,
Hamburg, hätte eine sozialdemokratische
Mehrheit freie Hand, die Kirchen an die
Wand zu drücken. Daß verschiedene Teile
unseres Vaterlandes in ihrer Kulturpolitik
allzuweit auseinandergehen, ist jedoch schon
im Interesse des nationalen Zusammenhalts
unerwünscht. Eger lehnt u. a. den Plan
ab, innerhalb der Volkskirche den wirklich
tätigen Mitgliedern eine bevorrechtete Stel¬
lung zu geben; durch solche Scheidung
von Ganzen und Halben mache man die
letzteren erst recht gleichgültig gegen die
Kirche. Nicht unwichtig zur Erklärung da¬
für, daß schließlich in der Heimat das staats¬
bürgerliche Pflichtbewußtsein zusammen¬
brach, ist vielleicht, was Jehle hervorhebt:
früher wurden die antiken Vorbilder un¬
bedingter Pflichttreue gegen den Staat auf
den höheren Schulen den jungen Gemütern
eingeprägt; hat das Zurücktreten der huma¬
nistischen Bildung etwa hier eine unerwar¬
tete üble Nebenwirkung gehabt? Lehrreich
sind die Berichte aus dem Leben evange¬
lischer Kirchgemeinden während des
Kriegs, aus Kurhessen, Westpreußen usw.;
zum Teil sieht man deutlich die unzufrie¬
dene, schließlich revolutionäre Stimmung
auch unter sonst konservativen Bauern ent¬
stehen und wachsen. Dabei erzählt ein
Pfarrer ganz harmlos, ein Gemeindeabend
habe der Vaterlandspartei 50 neue Mitglie¬
der zugeführt 1 Zu besserer Scheidung von
Religion und Politik, als sie hier vorliegt,
leitet der Berliner Prediger Stäglich an.
Einen kräftigen Reformvorschlag macht Pfar¬
rer Völter in Eßlingen: Die Tragik der
Kirche. Hier redet ein in seinem Amt er¬
grauter Mann von den Gelegenheiten, bei
denen es die Kirche verpaßt habe, das Wort
zu sprechen, das die Volksseele verlangte.
Es werde viel zu viel gepredigt; statt des¬
sen solle etwa jeden zweiten Sonntag eine
Gemeindeversammlung mit Aussprache statt¬
finden, eine Nachhilfsstunde für Lebens¬
schüler, wie Schrempf sagt, eine Christen¬
lehre für Erwachsene, wenn das nicht zu
pastoral oder schulmüßig klingt. Busch
zeigt anregend, wie er auch den Konfir¬
mandenunterricht als Arbeiisunterricht ge¬
staltet, d. h. praktisch in steter Fühlung mit
dem wirklichen Leben hält, Witte berich¬
tet lehrreich über Staat und Kirche in Japan,
die 1868 sozusagen getrennt wurden; d. h.
die Vorrechte des Buddhismus wurden auf¬
gehoben und in allen Schulen Moralunter¬
richt eingeführt, später freilich die Schinto-
religion staatlich begünstigt. Heute nun
widerstrebt der inzwischen mächtiger ge¬
wordene Buddhismus einer neuen Verbin¬
dung mit dem Staat, der dem Christentum
nicht unfreundlich gegenübersteht. Gauß
behandelt die Stellung der Kirche zu den
sog. Gemeinschaften, mit guten psychologi¬
schen Einsichten in die Motive des immer
wiederkehrenden engeren Zusammenschlus¬
ses gleichgesinnter Frommer. Der Aufsatz
ist fromm und frei: «Die Kirche kann das
Religiöse nicht für ihr Monopol erklären.“ Hin¬
zu kommen geschichtliche Artikel, Bücher¬
besprechungen (z. B. eine ausführliche Wür¬
digung von Heilers bedeutsamem Werk
über das Gebet durch Saathoff).’)
Wesentlich den gleichen Aufgaben dient,
aber eine ausgesprochener „moderne“ Hal¬
tung hat die „Monatsschrift für die kirch¬
liche Praxis in der gegenwärtigen Kultur“,
die seit 1901 Professor Baumgarten in
Kiel herausgibt, seit 1907 mit dem Ober¬
titel Evangelische Freiheit (Tübingen,
Mohr; nicht zu verwechseln mit der Christ¬
lichen Freiheit, dem früheren Evangelischen
Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen,
einer, seit Gottfried Traub sie herausgab,
auch über diese Provinzen hinaus verbrei¬
teten Wochenschrift, die scharf im Sinne des
freien Protestantismus, seit dem Kriege aber
zugleich immer mehr im Sinne der Vater¬
landspartei arbeitete, wie denn der Heraus¬
geber sich vom Anhänger Naumanns und
fortschrittlichen Abgeordneten hinüber ent¬
wickelte zum deutschnationalen Wortführer,
ja zum Mitarbeiter Kapps). Baumgartens
Monatsschrift hat von vornherein einen stark
persönlichen Charakter gehabt. Die Mit¬
herausgeber — jetzt Professor Niebergall
in Heidelberg und die Pfarrer Jüngst in
Stettin und Ja eger in Freiburg — kommen
in charakteristischer Weise zum Wort, na¬
mentlich Niebergall mit Aufsätzen über Nöte
und Aufgaben der Pfarrer, aber für die Ge¬
samthaltung des Blattes ist bestimmend ge¬
worden die in jeder Nummer von Baum¬
garten geschriebene kirchliche Chronik,
7) Inhalt des letzten Heftes des 15. Jahr¬
gangs: Saat hoff, Anregungen für den Kon¬
firmandenunterricht. Schöllkopf, Die An¬
fänge der Menschheit als apologetisches
Problem. Knolle, Luthers Predigt im Ver¬
hältnis zum Text. Bücherbesprechungen.
Aus Zeitschriften. Aus der neuesten theo¬
logischen Literatur.
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Zeitschriftenschau
670
wobei nur das Wort »kirchlich“ nicht zu
eng gefaßt werden darf. Nicht nur die Zu¬
sammenhänge zwischen der Kirchenpolitik
und sonstigen politischen Vorgängen, son¬
dern auch die Verflechtung der Schicksale
der religiösen Bewegungen mit der allge¬
meinen kulturellen Lage, den sonstigen gei¬
stigen, auch den wirtschaftlichen Strömungen
hat Baumgarten immer betont, politisch
lange Zeit nationalliberal, jetzt Demokrat,
kirchlich immer für den freien Protestantis¬
mus wirkend, aber nie parteimäßig gebun¬
den: wie ihn von jeher sein starkes sozial¬
politisches Interesse nach »links“ zog, so
unterschied ihn seine Gegnerschaft gegen
Gleichmacherei der Bildung stets vom vul¬
gären Liberalismus. Bei den jetzigen Post¬
verhältnissen kann eine Zeitschrift, die in
Kiel geschrieben oder zusammengestellt,
aber in Tübingen gedruckt wird, oft nicht
aktuell sein. Aber mag auch manches aus
Baumgartens Chroniken in unserer ereignis¬
reichen Zeit, wenn es zu den Lesern kommt,
überholt sein, diese charaktervollen Dar¬
legungen sind von vielen nachdenklichen
und ernsten Kulturpolitikern immer gern
gelesen worden, wobei man ja fragen kann,
ob es zweckmäßig ist, daß sie in einer Zeit¬
schrift für Pfarrer enthalten, d. h. für viele
andere, die dergleichen auch gern lesen
würden, vergraben sind.
Die Chroniken des letzten Jahrgangs han¬
deln von den Wandlungen der politischen
Lage, der Wahlbewegung, den Weimarer
Beschlüssen über Staat, Kirche und Schule,
Baumgartens Tätigkeit bei der Friedens¬
kommission und den Folgen des Versailler
Friedens, dem Dresdner Kirchentag u. dgl.
Aber auch außerhalb der Chronik ist viel
von Tagesfragen die Rede. Von der neuen
Lage des Religionsunterrichts in Preußen
berichtet Seminardirektor Plath; von kirch¬
lichen Feiern des 1. Mai sind zwei Anspra¬
chen mitgeteilt, eine von Baumgarten, eine
von dem sozialistischen Pfarrer Dehn in
Berlin-Moabit. Eine kräftige Predigt gegen
die Arbeitsscheu liefert der Charlottenburger
Pfarrer Siems. Eine längere Aussprache
hat der Vorschlag hervorgerufen, künftig
Laienhelfern einen größeren Teil der Ge¬
schäfte zu übertragen, die bisher die Pfarrer
hatten. Nach dem Tode Friedrich Naumanns
sind außer einer Chronik, in der Baum¬
garten ihn würdigt, die an seinem Sarg ge¬
haltene Rede von Johannes Naumann (dem
Bruder) und eine Gedächtnispredigt von
Jaeger in Freiburg mitgeteilt. Eingeleitet
wird jede Nummer dieser Zeitschrift durch
eine Reihe kurzer Buchbesprechungen, „No¬
tizen“. Einer Frage, die schon lange vor¬
handen war, aber jetzt besonders bedeut¬
sam ist, gilt des Herausgebers Vortrag über
die Mitarbeit der Frauen bei der Bekämpfung
der öffentlichen Unsittlichkeit. Beiträge aus
früheren Jahrgängen werden fortgesetzt in
der praktischen Auslegung der Geschichten
vom Propheten Elisa, die Gunkel gibt, und
dem „theologischen Krebsbüchlein“, einer
anonymen Sammlung viel beachteter und
in der Tat oft sehr treffender Satiren auf
kirchliche Mißbräuche und pastorale Un¬
sitten. Wenn doch alle Stände so scharfe
Selbstkritik üben wollten, und wenn doch
die Theologen die hier geübte befolgen
wollten! 8 )
Dem Nichttheologen, der religiös interes¬
siert ist, werden Fachzeitschriften dieser
Art natürlich nicht so nahe liegen wie
Blätter, die mehr auf die allgemeinen Fra¬
gen des religiösen und kirchlichen Lebens
in der heutigen Welt eingehen. Von den
Zeitschriften dieser Art sei zum Schlüsse
hier die bereits im vorigen Jahre charak¬
terisierte Christliche Welt noch einmal
erwähnt, herausgegeben von Professor Rade
(Marburg a. d. Lahn, Verlag der Christi.
Welt), während andere, die sich gleichfalls
an weitere Kreise wenden, seien sie nun
mehr kirchenpolitisch interessiert, oder aber
mehr auf religiöse Klärung bedacht unter
Absehen von den kirchenpolitischen Tages¬
kämpfen, im nächsten Bericht gewürdigt
werden sollen. Freilich ist der Gesamtein¬
drude eines Jahrgangs der Christlichen Welt
— früher über tausend Spalten Großquart,
jetzt etwas weniger — nicht einfach und
kurz zu kennzeichnen. Geht eine Wodien-
schrift nicht nur auf die verschiedensten
religiösen und theologischen Fragen von
bleibender Bedeutung ein, sondern zugleich
auf die Tagesereignisse, und sucht sie, was
irgend aus unserem Kulturleben in bedeut¬
same, sei es freundliche, sei es feindliche
Beziehung zum Christentum tritt, vom Stand¬
punkt einer freien Frömmigkeit aus zu be-
8) Inhalt des Nov.-Dez.-Heftes 1919: No¬
tizen. — Ein Prophet. Predigt von Jaeger.
Aus dem theologischen Krebsbüchlein. —
Elisa-Geschichten. Von Gunkel. — Kirche
und Sozialdemokratie. Von Taube. — Kirch¬
liche Chronik. Von Baumgarten.
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Zeitschriftenschau
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leuchten, so müssen solcher Fülle von Stoff
gegenüber die Interessen der Leser ausein¬
andergehen. Ein erhebliches Maß überein¬
stimmender Gesinnung kann, wer schärfer
zusieht, im Kreise der Mitarbeiter doch wahr¬
nehmen, so gewiß viele Stimmungen und
Urteile etwa den sozialistischen Solinger
PfarrerHartmann einerseits,Baumgarten
andererseits scheiden, der in einer Aufsatz-
reihe die Bedeutung des Protestantismus
für das deutsche Volk dahin kennzeichnet,
daß der Protestantismus gegenüber Katho¬
lizismus und Sozialismus, die beide zu Mas¬
senwirkungen geeigneter seien, im Kerne
individualistisch und insofern eine Sache
weniger bleiben werde, die höher streben.
Viel verhandelt werden auch hier die Fra¬
gen der Neugestaltung unserer Kirchenver¬
fassungen, auf die Rade als Mitglied der
preußischen Nationalversammlung Einfluß
ausgeübt hat; aber nicht nur Kirchenleute im
engeren Sinne äußern sich dazu, sondern
es schrieb z. B. die Dichterin Auguste Sup¬
per, die dem Dresdner Kirchentag angehört
hat, über ihn ein sehr anziehendes kritisches
Stimmungsbild. Um nur noch an vier Bei¬
spielen die Mannigfaltigkeit des Gebotenen
zu illustrieren: Haseroth berichtet von neu¬
eren Forschungen über das apostolische
Glaubensbekenntnis, W. E. Schmidt aus
genauer Kenntnis heraus über Masaryk, den
tschechischen Präsidenten, W. Hoffmann
über die Mystik im Weltkriege, R. Otto
gibt Anregungen zur Sammlung neuerer
religiöser Lyrik.*')
Nicht selten finden sich wertvolle Auf¬
sätze über religiöse und religionswissen¬
schaftliche Fragen auch in Zeitschriften all¬
gemeineren Inhalts wie den Preußischen
Jahrbüchern. Überhaupt kann bei der Man¬
nigfaltigkeit der Beziehungen zwischen Re¬
ligion und Kultur, bei der Spezialisierung
9) Inhalt der ersten Nr. 1920: Förster,
Gott, die Dinge und wir. Witte, Natio¬
nalistisches oder weltweites Christentum?
Rade, Vom kirchenpolitischen Kriegsschau-
S latz. Kirchenpolitisches aus Preußen. H.
> ose, Prudens Hahnemeyer. Verschiedenes.
der religionswissenschaftlichen^Forschung
und der Buntheit des religiöSGtt Lebens
in Deutschland — auch die Religionsfeind¬
schaft . trägt bei uns z.-T. noch religiöse
Züge — jede theologische Zeitschriftenschau
auf begrenztem Raum nur einen Ausschnitt
des Vorhandenen würdigen. Aber nicht.da-
von soll hier weiter die Rede sein, sondern
es sei zum Schluß noch einmal auf attfe
bereits oben erwähnte Schwierigkeit hinge¬
wiesen. Zeitschriften lesen will jeder, wenn
ihr Inhalt interessant ist oder seine Kennt¬
nis ihn in seiner Berufsarbeit fördert. Zeit¬
schriften halten und bezahlen fällt vielen
schwer. Vielen wirklich nicht aus Geiz,
sondern wegen der Verteuerung der gan¬
zen Lebenshaltung. Und doch gilt: fühlen
wir überhaupt die Verpflichtung, das deut¬
sche Geisteserbe aus vergangenen Tagen
durch diese dunklen Jahre hinüberzuretten
in eine bessere Zukunft, dann gehört dazu
auch dies, daß wir die wertvolleren von
unseren Zeitschriften nicht untergehen lassen.
Je schwerer es auch für unsere Bibliotheken
wird, noch ausländische Zeitschriften zir be¬
ziehen, um so dringlicher wird die Pflicht,
von den inländischen die wertvolleren wei¬
terbestehen zu lassen. Wir wollen nicht
müde werden, dafür zu werben, daß, wer
irgend helfen kann, auch die Verpflichtung
fühle, zu helfen, sei es, indem er durch die
gegebenen Organisationen die eigentlich
wissenschaftlichen Zeitschriften mit Geld
unterstützt, sei es — und das werden die
meisten lieber tun — indem er sich den
Vorteil verschafft, neben denTageszeitungen
gemeinverständliche Zeitschriften zu bezie¬
hen, die ihm den Ertrag wissenschaftlicher
Forschung vermitteln. Die Zeit der Not
soll das Volk der Denker nicht ganz stumpf
machen. Denken und Lesen aber, so tri¬
vial das klingen mag, gehören zusammen.
Sollen Ideen leben und wirken, so müssen
sie verbreitet werden. Hier liegt die höchste
Aufgabe unserer Zeitschriften, und hier liegt
unsere Verpflichtung gegen sie.
Kiel, April 1920.
H. Mulert*
Für die Sdiriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W 30, Luitpoldstr&Be 4.
Druck von B. G. Teubner ln Leipzig.
y v
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PR1NCET0N UNLVERSL
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
14. JAHRGANG HEFT 8 AUG./SEPT. 1920
Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands.
Von M.
3.
Über die übrigen Völker will ich nur
das allerwichtigste bemerken und da¬
bei nicht systematisch nach einzelnen
Sprachgruppen vorgehen, sondern zu¬
erst die Randgebiete, die am meisten
interessieren, erwähnen.
Finnland gehört geographisch nicht zu
Rußland, kam aber 1809 von Schweden
an das russische Reich, mit dem es
durch eine Personalunion verbunden
war, bis gegen Ende des vorigen Jahr¬
hunderts bureaukratische und militäri¬
sche sich nationalistisch gebärdende
Imperialisten, denen ein solcher Staat
im Staate ein Dorn im Auge war, seine
Rechte zu vergewaltigen begannen. Die
Mehrzahl der Bevölkerung besteht aus
lutherischen Finnen (2200000 im J.
1897, was auch für alle übrigen Zah¬
len gilt), die ehemaligen Herren, die
Schweden (350000), leben hauptsäch¬
lich an der Küste. Finnland wird in Zu¬
kunft wohl einen Pufferstaat bilden,
der wie die übrigen nordischen Staa¬
ten "äuf seine Neutralität stark bedacht
sein dürfte.
Teile der Finnen, wie die der ortho¬
doxen Religion angehörenden Karelier,
leben in den angrenzenden und zer¬
streut auch in entfernten Gebieten Ru߬
lands, andere Splitter in den Gouver¬
nements Olonec (die Wepsen) und Pe¬
tersburg am Finnischen Meerbusen.
Eine größere Einheit bilden unter den
*) Siehe Heft 7.
Murko. *)
baltischen Finnen nach den Finnlän¬
dern nur noch die lutherischen Esthen
(900000) in Esthland, im nördlichen
Livland und auf der Insel Oesel, die nun
einen besonderen Staat bilden werden.
Von den alten Liven gibt es Reste
nur noch in Kurland (bei 2000).
Dann folgen die gleichfalls lutheri¬
schen, aber bereits indogermanischen
Letten (1436000) im südlichen Liv¬
land, in Kurland und in den drei west¬
lichen Kreisen des Gouvernements
Witebsk. Ob auch letztere zum neuen
Lettland gehören werden, entzieht sich
noch der Beurteilung.
Unter den Esthen und Letten bilden
zahlreiche Deutsche (1897 ungefähr
10% der Gesamtbevölkerung) als Gro߬
grundbesitzer, Geistliche und überhaupt
Vertreter der Intelligenz sowie Städter
eine Oberschicht, die eine bedeutende
Vergangenheit hat, aber infolge der
auch dort immer stärker hervortreten¬
den demokratischen und sozialen Ideen
in den Hintergrund gedrängt wird.
Solche Fragen sind überall nicht bloß
nationaler, sondern auch sozialer Na¬
tur; so richtet sich in Rußland die Re¬
volution auch gegen den Adel, obwohl
er dieselbe Sprache spricht.
Dieselbe Rolle wie die Deutschen un¬
ter den Letten und Esthen spielen die
Polen unter den katholischen Li¬
tauern (1800000), die hauptsächlich
an der Wilja und im Unterlauf des
Niemen wohnen, im Gouvernement
Kowno, in der westlichen Hälfte von
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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
676
Wilna und einem Teil von Grodno.
sodann im Gouvernement Suwalki
(Kongreß-Polen). Das Lettische und Li¬
tauische bilden mit dem ausgestorbenen
Preußischen eine besondere baltische
Sprachgruppe, die mit den slawischen
Sprachen besonders nahe verwandt ist.
Das Litauische ist von größtem Wert
für die vergleichende Sprachwissen¬
schaft; es ist so altertümlich, daß es
mit Recht ein Mammut unter den indo¬
germanischen Sprachen genannt wurde.
Die Litauer standen Jahrhunderte voll¬
ständig unter polnischem Kulturein¬
fluß, der russische machte sich erst im
letzten Jahrhundert durch die Verwal¬
tung geltend, außerdem studierten zahl¬
reiche Litauer an den russischen Uni¬
versitäten und wendeten die dort ge¬
holten freiheitlichen Ideen in dem Sinne
an, daß sie ihr Volk in gleicher Weise
von den Russen wie von den Polen zu
emanzipieren suchten.
Die genannten baltischen Gebiete ge¬
hören geographisch zu Rußland und
sind für dasselbe von größter Bedeu¬
tung wegen ihrer Häfen. Vielleicht wer¬
den auch diese neuen Staaten es für
vorteilhaft halten, mit Rußland in ir¬
gendeine nähere Beziehung zu treten,
denn.sonst werden Lettland und Esth-
land allzusehr unter englischen Einfluß
geraten; Litauen möchte aber auch das
neue Polen wieder für eine Union ge¬
winnen. Die Grenzen Litauens sind von
größter Wichtigkeit für die Frage, ob
Deutschland unmittelbare Berührung
mit Rußland haben wird oder nicht.
Das bisherige Polen, wie es der Wiener
Kongreß geschaffen hatte, mit 9455943
Einwohnern, von denen die Polen
71,8o/o bildeten, gehörte geographisch
nicht zu Rußland und trieb sich wie
ein Keil nach Mitteleuropa. Mit seinem
Verluste gewinnt Rußland eine stark
verkürzte, fast gerade Verteidigungs¬
linie; die zentralrussischen Gouverne¬
ments werden auch den Wegfall der
mit ihnen sehr stark konkurrierenden
polnischen Industrie nicht beklagen,
wohl wird aber diese den unerme߬
lichen russischen Markt schwer vermis¬
sen. Die Grenzen nach dem Osten sind
zwar noch nicht bestimmt und hängen
zum Teil davon ab, ob Polen der En¬
tente noch gute Dienste gegen den
Bolschewismus leisten kann, doch wer¬
den sich alle Parteien Rußlands kaum
viel von den ehemaligen weiß- und
kleinrussischen Provinzen Polens neh¬
men lassen, und jede größere Annexion
wäre auf die Dauer unhaltbar, denn
die polnisch-russische Geschichte würde
bei den bisherigen Anschauungen von
neuem beginnen. Auf jeden Fall wird
aber ein großer Teil der polnischen
Oberschicht in russischen Gebieten den
starken Rückhalt des Mutterlandes, wie
sie ihn bisher inr^er’ .slb des russischen
Reiches hatte, verlieren. Begreiflicher¬
weise wird es daher im neuen Polen
außer den Sozialdemokraten noch an¬
dere Kreise geben, die auf gute Be¬
ziehungen mit Rußland Gewicht legen
werden.
In Polen und in allen einst polni¬
schen, litauischen, weiß- und kleinrus¬
sischen Provinzen sind hauptsächlich
in Städten und Märkten ungemein stark
die Juden vertreten. 1897 gab es ihrer
in Rußland 5200000, in Galizien unge¬
fähr 815 000, in der Bukowina 100000,
also schon damals unter Polen und
Russen mehr als 6 Millionen. Gegen
90o/o dieser ganzen jüdischen Bevöl¬
kerung sind besitzlose Massen, wahre
Proletarier, die in Armut und in un¬
hygienischen Verhältnissen leben. Ein
Drittel von ihnen widmet sich dem
Handwerk, ein zweites Drittel dem Han¬
del, was ein ganz unnatürliches Ver¬
hältnis ist; 10% bilden Taglöhner,
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PRINCETON UNIVE
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678
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
2,1% Fabrikarbeiter, 2°/o Landwirte,
18,8% Arme, die den Gemeinden zur
Last fallen.“) Diese Juden sprechen
einen aus Deutschland mitgebrachten
verdorbenen, mit hebräischen und son¬
stigen Elementen gemischten fränki¬
schen Dialekt („Jiddisch, Jargon“), ge¬
ben Bücher, Zeitschriften und Zeitun¬
gen nicht bloß hebräisch, sondern auch
in diesem Dialekt mit hebräischen Let¬
tern heraus, haben überhaupt eine Li¬
teratur, die zu den großen russischen
Schriftstellern als ihren Lehrmeistern
emporblickt, und ein sehr realistisches
Theater. Das alles macht es begreiflich,
daß diese polnischen und russischen
Juden eine Assimilation größtenteils ab¬
lehnen, sich als eine besondere Nation
betrachten und auch entsprechende
Rechte verlangen. In dem ersten ukra¬
inischen Kabinett und auch in eini¬
gen folgenden gab es (Jäher sogar einen
Minister für jüdisch&^jAngelegenheiten.
Einen Ausfluß dieses Nationalismus
bildet auch der Zionismus, dem nun
Palästina zugewiesen werden soll, das
jedoch bei weitem nicht genügen wird.
Natürlich fanden bei den Juden auch
sozialistische und revolutionäre Ideen
einen besonders fruchtbaren Boden und
der „Allgemeine jüdische Arbeiterbund
in Rußland, Polen und Litauen“, kurz
„Bund“ genannt, ist sehr bekannt ge¬
worden. Außerhalb des „Ansiedlungs¬
rayons“ konnten sich früher Juden nur
als Kaufleute erster Gilde, in akademi¬
schen Berufen und als Handwerker au.f-
halten, was allerdings vielfach umgan¬
gen wurde. In der Krim und auf dem
Kaukasus gibt es aber davon verschie¬
dene, nicht zahlreiche Juden, die Ka-
raimen, welche vollberechtigt sind.
Bevor wir vom Westen scheiden,
müssen wir auch der zahlreichen deut¬
9) Jos.Melnik, Russen über Rußland,567.
sehen Kolonisten in Polen, in den
Gouvernements Wolhynien, Beßara-
bien, Cherson und Taurien und an der
Wolga gedenken. Durch den Krieg ha¬
ben nur die an der österreichischen
Grenze gelegenen Kolonien besonders
gelitten. Im allgemeinen leben aber die
deutschen Kolonisten in sehr guten
Verhältnissen. Als Beispiel können die
Kolonien im Gouvernement Taurien
dienen. Dort wurde zu Ende des 18.
und zu Anfang des 19. Jahrh. den
Deutschen Land in der Hälfte der Re¬
publik Sachsen zugewiesen, heute be¬
sitzen sie das dreifache Sachsen. Die
durchweg reichen Bauern, die 10—12
Schweine schlachten, „sind stolz wie
Herrscher, selbständig wie Könige“ (aus
dem Vortrag eines Kriegsteilnehmers).
Besonders stark sind die Kolonien an
der Wolga, wo es auch viele Katholiken
gibt. Ganz erstaunt war ich in Saratov
über eine katholische Kathedrale im
gotischen Stil. Das Bistum Tyraspol hat
seinen Namen nach einem Ort der
Krim aber die Regierung meinte, es
sei bei den Deutschen an der Wolga
besser aufgehoben. Nun sollen auch
Kommunisten aus Deutschland dahin
wandern, dürften sich aber mit den
dortigen selbstbewußten Bauern an¬
fangs schlecht verstehen und könnten
dort „katholisch“ gemacht werden.
Während des Krieges sprach und
schrieb man öfters von einer Rückwan¬
derung der deutschen Kolonisten, ins¬
besondere von einer Verpflanzung nach
Kurland. 10 ) Ich mußte dabei immer be¬
denklich den Kopf schütteln: der Über¬
gang dieser Bauern von einer exten¬
siven Wirtschaft im Steppengebiet zu
einer intensiven im Waldland wäre
nicht so einfach, auch wenn sie dazu
Lust hätten.
10) Sogar Hettner, Rußland, 302.
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680
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
Deutsche gibt es auch sonst überall
in Rußland, namentlich in den beiden
Hauptstädten. In Petersburg besitzen
sie im hervorragendsten Stadtteil zwei
höhere Schulen. Die Zahl aller Deut¬
schen in Rußland wurde von Florinskij
1907 auf 2 Millionen geschätzt.
Geographisch nicht zu Rußland ge¬
hört das ein besonderes Verwaltungs¬
gebiet bildende Kaukasien. Dieses
wird jedoch kaum zur Hälfte verloren
gehen, denn diesseits des Kaukasus
wohnen ja meist Russen. Im Hochge¬
birge selbst und jenseits des Kaukasus
finden wir aber eine Menge kleiner,
oft nur auf einzelne Täler beschränk¬
ter verschiedenartiger Völkerschaften,
deren Organisierung ungemein schwer
fallen wird. Auf Rittichs Karte werden
für sie elf Farben verwendet und dazu
noch eine zwölfte für „andere kleinere
Stämme“.
Da gibt es vor allem indogermani¬
sche Völker, die der iranischen S^rach-
gruppe angehören. Am zahlreichsten
sind die Armenier (bei 1200000),
zerstreut in den Gouvernements Eri¬
wan (50%), Elizavetpol (35%) und
Tiflis (25%), auch sonst am Kaukasus
und am Schwarzen Meere. Sie sind un-
gemein regsam und geschäftstüchtig,
die „Kapitalisten“ und die „Juden“ des
Kaukasus, welche sie aber ebenso wie
die Griechen übertreffen sollen. Das
Oberhaupt ihrer alten Nationalkirche,
der Katholikos aller Armenier, hatte
seit 1878 seinen Sitz in Rußland, in
Etschmiadzin. Weiter gehören zur ira¬
nischen Sprachgruppe die Taten
(125000) und Talaschinzen (unge¬
fähr 50000) im Gouvernement Baku,
Kurden (bei 100000), die mit ihren
Stammesgenossen in der Türkei als
Mohammedaner die ärgsten Gegner der
Armenier sind, und Ossetinen (bei
70000) im mittleren Hochgebirge.
Weiter gibt es eine Gruppe kaukasi¬
scher Völkerschaften, unter denen die
Georgier (russ. Grusinen) im Gou¬
vernement Tiflis (bei 400000), Ime-
retier und Kurier (bei 500000) in
Kutais, Mingrelier in Kutais und
Lasen in Batum (bei 220000), Les-
ginen (bei 600000) in Dagestan und
eine Reihe kleinerer Stämme, die wohl
im neuen Staat Georgien vereinigt
sein werden. Was mit anderen Völker¬
splittern wie Tschetschenzen, Tscherkes-
sen und Abchasiern geschehen soll, ist
mir nicht klar.
Verhältnismäßig stark sind am Kau¬
kasus die Tataren, vor allem die
Aderbendzaner (diese Schreibung
gibt die Aussprache ebenso ungenau
wieder wie die andere: Aserbeid-
schaner, 1250000), die nach Flo¬
rinskij Nachkommen der seldschuki-
schen Türken, nach Fr. Müller und der
Karte von Haardt aber iranische Tür¬
ken sein sollen. Weiter sind zu nennen
Nogaische Türken, hauptsächlich
im Gouvernement Stavropol, Kuray-
ken, Osmanen usw.
Vom Pariser Rat ist ebenso wie Ar¬
menien, dessen größerer Teil aber
der Türkei genommen werden soll, und
Georgien auch ein selbständiger
Staat Aderbendzan anerkannt wor¬
den, der aber nur die im südlichen
Kaukasien gelegenen Tataren umfas¬
sen kann. Ein schweres Leben wird Ar¬
menien haben, das Türken und Ta¬
taren nicht bloß als Nachbarn, son¬
dern auch innerhalb seiner Grenzen
zählen wird. Man sehe sich auf einer
ethnographischen Karte nur die Lage
von Eriwan an, das die Hauptstadt sein
soll. Überdies ist zu erwägen, daß kein
Volk durch den Krieg so viel Menschen
verloren hat wie die Armenier durch
Massakers und „Internierungen“ in der
Wüste, wo sie eben zugrunde gingen.
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PRINCETON UNIVERSäi
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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
682
Die Zahl solcher Opfer soll 1,2 Millio¬
nen betragen haben, d. h. so viel wie
es Armenier in Rußland gab. Wer wird
so zersplitterte Teile vereinigen, Zu¬
sammenhalten und verteidigen? Der
südliche Kaukasus kann dem Völker¬
bund viel zu schaffen geben, oder die
neuen Staaten werden bei den Gro߬
mächten Rückhalt suchen, und da
kommt natürlich auch Rußland wieder
in Betracht, so daß sich die Geschichte
von Georgien und Armenien bis zu
einem gewissen Grade wiederholen
kann.
Auf dem Kaukasus und am Schwar¬
zen Meer gibt es auch Griechen (bei
190000). Sonst verdienen im Gebiet des
Schwarzen Meeres Erwähnung noch
Rumänen am linken Dniestrufer und
bulgarische Kolonisten (im ganzen
bei 200000), die sich nach den russi¬
schen Türkenkriegen, meist erst im 19.
Jahrh. angesiedelt haben. Interessant ist
die Tatsache, daß um die Mitte des 18.
Jahrh. in den Gouvernements Jekate-
rinoslaw und Cherson zahlreiche Ser¬
ben aus Ungarn eingewandert sind,
die ein besonderes Territorium erhiel¬
ten, heute aber trotzdem zum größten
Teil in den sie umgebenden Kleinrus¬
sen aufgegangen sind, was bei der gro¬
ßen Sprachverwandtschaft und der
Gleichheit der Religion leicht begreif¬
lich ist.
In der Krim gibt es noch 150000 der
ehemals mächtigen und viel zahlrei¬
cheren, aber durch starke Auswande¬
rungen geschwächten Krim-Tata¬
ren, in denen auch Griechen, Genuesen
und Goten aufgegangen sind. Um Jalta
herum sieht man es so manchem Ta¬
taren deutlich an, daß er ein Nach¬
komme der Männer ist, bei denen Iphi¬
genie Priesterin war, ebenso erinnern
daran Namen wie Ai Petri, Ai Todor
(aus hagios = heilig).
4.
Über die Völker im Innern und Osten
von Rußland können wir uns kurz
fassen.
Vor allem sind neben den baltischen
Finnen zu nennen finnische Völ¬
kerschaften an der Wolga und
Kama. Die Wolgagruppe bilden die
Tscheremissen (bei-400000), haupt¬
sächlich im Gouvernement Kasan, und
Mordwinen (ungefähr 1000000) in
verschiedenen Gouvernements rechts
und links der Wolga. Eine Million
scheint nach westeuropäischen Begrif¬
fen schon ziemlich viel, aber man muß
bedenken, daß die Mordwinen in klei¬
nen Gruppen weit herum zwischen Rus¬
sen und Tataren eingesprengt erschei¬
nen. Da beide Völker orthodoxe Chri¬
sten sind, allerdings oft nur halbe, so
nehmen sie russische Einrichtungen
und Gebräuche und zuletzt auch die
Sprache sehr leicht an, ja sie werden
zum engeren Anschluß an die Russen
sogar gezwungen, wenn sie neben Be-
kennern des selbstherrlichen und sogar
offensiven Islams wohnen. An der
Kama finden wir die Wotjaken (bei
400000) im Gouvernement Wjatka,
Permjaken (nur noch 90000), ge¬
nannt nach der Gouvernementsstadt
Perm, und Zyrjanen (z tönendes s)
im Norden (170000). Auch diese Split¬
ter nehmen die russische Kultur gern
an. Daß sie es weit bringen können,
ersieht man daraus, daß die Zyrjanen
die Juden des Nordens genannt wer¬
den, was viel bedeutet, wenn man be¬
denkt, daß sich der Großrusse selber
auf Geschäfte sehr gut versteht. Die
Exploitierung der stammverwandten
Samojeden ist allerdings auch keine
besonders schwierige Sache.
Von der ugrofinnischen Gruppe gibt
es nur noch kleine Reste. Schon am
Ural wohnen die Wogulen (ungefähr
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683
M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
684
7000) und im nordwestlichen Sibirien
die Ostjaken (25000), die nächsten
Sprachverwandten der Magyaren in Un¬
garn.
Im hohen Norden Rußlands und
Westsibiriens leben verschiedene Zweige
der im Rückgang befindlichen Samo¬
jeden (bei 20000).
Der finnischen Völkerschaften wegen
kann also Rußland ruhig schlafen. Mehr
Bedeutung haben die Völker der al-
tai sehen Sprachgruppe: Türken,
Mongolen und Tungusen.
Türken gab es gegen 12 Millionen
(1897 bildeten sie 10,8°/o der Gesamt¬
bevölkerung, die Finnen nur 2,72<>/o),
die in verschiedenen Stämmen von der
Wolga bis Ostsibirien, von Transkau-
kasien bis zum Polarkreis zerstreut
wohnen. Diese türkischen Völker waren
Nomaden und sind es meist noch heute,
doch viele Stämme sind schon ganz
seßhaft geworden und sogar zum
Ackerbau übergegangen; man kann
auch innerhalb eines und desselben
Stammes verschiedene Zwischenstufen
beobachten. Die Tataren des Kau¬
kasus und die Reste der Krimtataren
haben wir schon erwähnt. Die fortge¬
schrittensten sind die Wolgatata¬
ren (1350000), die in allen Gouverne¬
ments weit und breit rechts und links
der Wolga bis Astrachan zerstreut sind.
Das sind die eigentlichen Reste jener
Tataren, die einst Rußland beherrsch¬
ten. Sehr wenig! Nach dem Untergang
ihrer Reiche sind die höheren Kreise
Christen geworden, um sich eine privi¬
legierte Stellung zu sichern, und in
den Russen aufgegangen, weshalb der
Titel „Fürst“ ( Knjaz ) ganz herabsank
(in russischen Städten nennt man noch
heute so die herumziehenden tatari¬
schen Händler), größere Massen sind
aber nach dem Süden und Osten ge¬
zogen, um später wieder unter russi¬
sche Herrschaft zu geraten. Anderseits
haben aber Tataren finnische Völker¬
schaften assimiliert. So sind ein Ge¬
misch von Finnen und Tataren die
Tschuwaschen (bei 650000), haupt¬
sächlich in den Gouvernements Kasan
rechts der Wolga und Simbirsk. Ihrer
finnischen Vorfahren gedenken noch die
Meschtscherjaken (bei 130000) und
Teptaren (über 300000) in den Gou¬
vernements Ufa und Orenburg, zum Teil
auch in Samara, Perm und Wjatka.
die man schon zu den Baschkiren rech¬
net. Die Baschkiren selbst (über
1300000) in den Gouvernements Ufa
und Orenburg, teilweise auch in Sa¬
mara, Perm und Wjatka werden schon
von arabischen Schriftstellern des 10.
bis 12. Jahrh. erwähnt, wurden bereits
1556 Moskau angegliedert und bieten
das Beispiel des allmählichen Rück¬
ganges eines Steppenvolkes, das zum
Teil gewaltsam zu Bauern gemacht
wurde.
Besser haben ihre Nomadenverfas¬
sung die Stämme jenseits des Urals be¬
wahrt. Am stärksten sind die Kir¬
gisen (Kirgis-Kajsaken), die über drei
Millionen Seelen zählen und seit dem
18. Jahrh. in drei Horden geteilt sind,
in eine große, mittlere und kleine, von
denen aber die kleine die zahlreichste
ist; sie bevölkern das weite Steppen¬
gebiet vom Bassin des Balchaschsees
und der Vorgebirge von Tian-Schan bis
zum Kaspischen Meere und den Nie¬
derungen der Wolga. Die Kleine Horde
wandert bis zum Kaspischen Meere,
und von ihr hat sich 1801 eine „innere“
Horde abgetrennt, die vom Ural bis zur
Wolga im Gouvernement Astrachan no¬
madisiert. Südlich von den Kirgisen
sind vom Osten nach Westen gelagert
die Karakirgisen (bei 350000), Us¬
beken (bei 600000), Sarten (bei
700000), ein ursprünglich iranischer
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M. Murko, Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands
686
Stamm, im russischen Turkestan (noch
heute sind daselbst Iranier die Tad¬
schiken), Tarantschen (bei 50 000)
und Turkmenen (bei 600000).
Im nördlichen Sibirien gibt es zahl¬
reiche kleinere Stämme, die zum Teil
ursprünglich Finnen waren. Bedeutung
haben nur die Jakuten (bei 230000)
in Ostsibirien, hauptsächlich im Bassin
der Lena, deren Sprache den alttürki¬
schen Charakter am besten bewahrt hat
und dem Sanskrit unter den indoger¬
manischen Sprachen verglichen wird.
Sie geben sich aber mit Viehzucht,
Ackerbau und Handel ab (man nennt
sie die Juden von Ostsibirien), halten
an ihren alten Sitten und ihrer Sprache
fest, sind offiziell orientalische Chri¬
sten, doch gibt es unter ihnen auch
noch Anhänger des Schamenentums.
Ebenso sind die Tschuwaschen an der
Wolga erst im 18. Jahrh. halbe Chri¬
sten geworden, unter den Wolgatataren
gibt es nur wenige getaufte, alle üb¬
rigen türkischen Völker sind aber
Bekenner des Islam; am meisten
orthodox sind die Wolgatataren, die
mit den Sarten in Zentralasien auch
die meiste Geistlichkeit den weniger
glaubenseifrigen Steppenvölkem liefern.
Zur mongolischen Gruppe gehören
die Kalmücken (bei 202000) im Gou¬
vernement Astrachan am rechten Ufer
der Wolga und Stavropol am Kauka¬
sus, außerdem noch in anderen Ge¬
bieten des europäischen und asiatischen
Rußland zerstreut. In Ostsibirien fin¬
den wir um den Baikalsee die Bur¬
jaten (bei 270000). Beide Stämme ge¬
hören den Buddhisten an. Man kann
also Anhänger des Dalai Lama auch
in Europa studieren, wenn man eine
Wolgafahrt bis zur Mündung macht
oder vom Schwarzen Meer über Ro-
stov am Don einen Abstecher zu den
Kalmücken unternimmt.
Tungusen (bei 44000) nomadisieren
auf den Riesenflächen vom Jenissei
und den nördlichen Tundren bis zum
Ochotskischen Meer und Amur. Klei¬
nere Völker dieser Gruppe zählen nur
nach Tausenden, zahlreicher sind schon
Chinesen, Koreaner und Japaner auf
russischem Boden; im Nordosten gibt
es aber wieder nur nach einigen Tau¬
senden oder sogar Hunderten zählende
Völker, über deren Zugehörigkeit man
sich gar nicht klar ist oder die schon
zur amerikanischen Gruppe gehören.
Bei den Kamtschadalen auf Kam¬
tschatka hat man am Ende des 18.
Jahrh. noch das Steinzeitalter vorge¬
funden, bei den Tschuktschen aber
noch spät im 19.
Man sieht, daß die 100 und mehr
Völker, die man in Rußland zählt, im
ganzen Osten ohne besondere Bedeu¬
tung sind. Eine Macht können nur die
verhältnismäßig zahlreichen türkischen
Völker durch das vereinigende Band
des Islams werden, aber auch sie sind
auf Riesenflächen zerstreut, zersplittert
und schwach gegenüber den Errungen¬
schaften der modernen Kultur, über
die Rußland durch seine Zivil- und
Militärorganisation, durch seine Eisen¬
bahnen und seinen Handel verfügt. Man
muß auch zugeben, daß es die Russen
verstehen ihre asiatischen Völker zu be¬
handeln, ja es gibt Panasiatisten unter
den Russen, die ihrem Volk besondere
Fähigkeiten für ein besseres Verständnis
des Orients zuschreiben. Nur zwei Bei¬
spiele für diese Behauptungen. Nach
mehr als 30 Jahren erinnere ich mich
noch lebhaft eines Vortrages in der
Petersburger Geographischen Gesell¬
schaft, wo ein Reisender berichtete,
wie es irgendwo bei den Kirgisen keine
Gotteshäuser gab. Auf eine Frage der
Behörden, welchem Glauben sie ange¬
hören, erklärten die Bewohner, sie seien
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687
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
688
Mohammedaner. Darauf baute ihnen
Rußland Moscheen, aber die offenbar
nur scheinbar zum Islam Bekehrten be¬
suchten sie nicht und die Verwaltungs¬
behörde geriet auf den Einfall, sie
durch Gendarmen hineinzutreiben. Das
heilige Rußland im Dienste Moham¬
meds! Auch die ältesten kleinen und
hohen Exzellenzen brachen da in ein
schallendes Gelächter aus. Ebenso selt¬
sam ist folgendes. In Ostsibirien gab
und gibt es noch Heiden, unter denen
Schamanen ihr Unwesen treiben. Da die
russische Kirche wenig missionsfähig
ist, empfahlen Orientalisten wie Pozd-
neev die Einführung des Buddhismus
als Surrogat für das Christentum, was
sich in der Tat bei den Burjaten be¬
währte. Daß sich auch die Bolschewi¬
sten ganz besonders auf die Gewinnung
asiatischer Völker verstehen, zeigen die
Ereignisse aus jüngster Zeit.
Meine Ausführungen waren etwas
lang, um so kürzer kann der Schluß
sein. Ich glaube durch Vorführung der
wichtigsten Tatsachen gezeigt zu ha¬
ben, daß Rußland, mag kommen was
immer, ein großes und mächtiges Reich
bleiben und auch nach den stärksten
Amputationen über 150 Millionen Ein¬
wohner zählen wird. Wenn es geo¬
graphisch gar nicht zu ihm gehörige
Gebiete wie Finnland, Polen und den
südlichen Kaukasus verliert, so ist es
nirgends in seinem .Lebensnerv getrof¬
fen, im Gegenteil, es wird manche
Schwierigkeiten los, gewinnt an Ein¬
heitlichkeit, das herrschende Element
wird noch mächtiger und sein tausend¬
jähriges Reich kann sich mit um so
größerem Erfolg seinen Aufgaben im
Innern und im Osten zuwenden. Nach
dem Gesetz der Anziehungskraft gro¬
ßer Massen auf kleinere kann Rußland
sogar Gebiete bewahren, die verloren
zu sein scheinen, oder auch seinen
Machteinfluß erweitern, namentlich
wenn es ihm gelingt sich zu einer ge¬
ordneten Föderativrepublik umzugestal¬
ten. Auf jeden Fall braucht die Welt
aus wirtschaftlichen, kulturellen und
politischen Gründen ein freies demokra¬
tisches Rußland, das namentlich in
einem wirklichen Völkerbund ebenso¬
wenig entbehrlich ist wie Deutschland.
Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff.
Von Wilhelm Abb.
Von Friedrich Althoff und seiner Le¬
bensarbeit ein Gesamtbild zu schaffen,
ist seinem Biographen noch Vorbehal¬
ten. Einzelne Skizzen der originalen
Persönlichkeit und ihrer kraftvollen Be¬
tätigung sind bereits von berufenen
Federn dargeboten worden (den Lesern
dieser Zeitschrift zuletzt gelegentlich
der zehnjährigen Wiederkehr seines To¬
destages im Oktober 1918 von P. Kehr).
Dem mir nahe gelegten Wunsche, aus
meinem Verkehr mit Althoff einige per¬
sönliche Erinnerungen aufzuzeichnen,
entspreche ich gern in der Hoffnung,
durch die Beleuchtung seines Bildes
aus der Perspektive eines früheren Un¬
tergebenen zum Verständnis seines We¬
sens und Wirkens beitragen zu kön¬
nen. War es mir doch vergönnt, ihm
von 1884 bis 1888 als Expedient und
Kalkulator zur Seite zu stehen und mit
ihm bis an sein Lebensende in dienst¬
lichen und freundschaftlichen Beziehun¬
gen zu bleiben.
1 .
Friedrich Althoff wurde im Oktober
1882 in das preußische Kultusmini-
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689
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
690
sterium berufen. Seine eigenartige Per¬
sönlichkeit machte hier bald viel von
sich reden. Er war so ganz anders als
die übrigen Vortragenden Räte, in sei¬
ner äußeren Erscheinung wie in seinem
Wesen. Original in jeder Beziehung,
fragte er nicht nach dem Herkömm¬
lichen. Er war ein Feind des Schemas
und folgte nur der eigenen Empfin¬
dung und Überlegung ohne Rücksicht
auf Bequemlichkeit, ohne Furcht vor
abfälliger Kritik und unerwünschten
Folgen seines Handelns. Sein höfliches,
zuvorkommendes Benehmen, auch im
Verkehr mit Untergebenen, fiel ange¬
nehm auf. Die ihm zugewiesenen Ex¬
pedienten behandelte er auf gleicher
gesellschaftlicher Stufe als „Mitarbei¬
ter“, wie er sie mit Vorliebe zu be¬
zeichnen pflegte, und machte ihnen bei
seinem Dienstantritt einen häuslichen
Besuch. Wo sich Gelegenheit bot,
suchte er sich in seinem neuen Wir¬
kungskreise persönlich zu orientieren.
Den einzelnen Beamten trat er dabei
menschlich näher, indem er an ihren
persönlichen Verhältnissen Interesse be¬
kundete. Seine „Mitarbeiter“ suchte er
bei gründlicher Besprechung der ge¬
schäftlichen Sachen in seine Gedanken¬
welt einzuführen und zu selbständiger
Auffassung und gewissenhafter Arbeit
anzuspornen. Selbst immer im Dienst
und mit dienstlichen Aufgaben be¬
schäftigt, erwartete er auch von ande¬
ren, daß sie ihre volle Kraft und Zeit
ihren Dienstpflichten zuwendeten. Lei¬
der machte sich bei ihm ein Mangel
an richtiger Zeiteinteilung bemerkbar.
Eine bestimmte Arbeits-, Essens- und
Ruhezeit gab es für ihn nicht. Er be¬
nutzte sein Arbeitszimmer weit über die
übliche Zeit hinaus, in der die unum¬
schränkte Besenherrschaft der Scheuer¬
frauen in ihre Rechte tritt, und scheute
nicht vor späten Abend- und Nacht¬
stunden zurück. Dies machte ihn für
seine Umgebung unbequem und führte
anfänglich zu häufigerem Personal¬
wechsel. Althoff hielt selbst Umschau
unter den jüngeren Kräften des Sekre¬
tariats, um eine persönliche Wahl zu
treffen. Auf einer solchen Suche nach
einem neuen „Mitarbeiter“ stieß er auf
mich, der ich mich nicht gerade zu
ihm hingezogen fühlte, da ich außer¬
halb Berlins wohnte und dadurch auf
pünktliche Innehaltung der Arbeitszeit
angewiesen war. Im Laufe der Unter¬
redung verlangte Althoff von mir eine
offene Antwort, weshalb ich anschei¬
nend mit ihm nichts zu tun haben
wollte. Meine freimütige Erwiderung,
daß seine übermäßigen Anforderungen
an Kraft und Zeit und die darauf zu¬
rückzuführende teilweise Erkrankung
seiner Beamten die Beschäftigung in
seinem Referat nicht begehrenswert er¬
scheinen ließen, hatten den unerwarte¬
ten Erfolg, daß Althoff, wie er sagte,
nun besonderen Wert darauf legte, mir
eine bessere Meinung von sich beizu¬
bringen. Alle Einwendungen nützten
nichts. Mein Schicksal war entschieden.
Das anfänglich nur korrekte Verhält¬
nis zwischen uns gestaltete sich bei
näherer Bekanntschaft schrittweise im¬
mer wärmer. Der Einblick in die gei¬
stige Werkstatt des hervorragenden
Mannes zwang zur höchsten Achtung;
Vorbild, Belehrung und Vertrauen zu
meinem Können weckten Interesse und
Arbeitslust. Egoistische Regungen mu߬
ten in der Althoffschen Atmosphäre
von Edelsinn und Herzensgüte verküm¬
mern. Mit den befürchteten unregelmä¬
ßigen Tischzeiten hatte es allerdings
nach meiner Übersiedelung nach Ber¬
lin seine Richtigkeit. Althoffs wachsende
Arbeitslast machte es seiner Umge¬
bung oft tagelang unmöglich, seiner zur
Erledigung der laufenden Dienstge-
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691
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althof!
692
schäfte habhaft zu werden. Führte eine
glückliche Fügung ihn mit einer Frage
zu mir, gelang es der angewandten
List nur selten, ihn zur Besprechung an¬
derer Sachen zu fesseln. Bald merkte
er die Absicht und wurde — unsichtbar.
Zur Abwehr derartiger Überfälle ver¬
fügte er über eine in reicher Erfah¬
rung angeeignete verblüffende Taktik.
Aus dem anfänglich festgehaltenen
Bureauschluß um drei Uhr wurde es
vier, fünf, auch sechs Uhr. Dann hieß
es oft: „jetzt geht es nicht mehr. Viel¬
leicht versuchen wir es heute abend
oder morgen früh oder kommen Sie
mit mir zu Tisch. Sie können ja Ihrer
Frau Gemahlin eine Rohrpostkarte
schreiben." Einmal überraschte uns die
Morgensonne gegen fünf oder sechs
Uhr in seiner Wohnung. Nach minde¬
stens achtstündiger Arbeitszeit auf dem
Bureau waf ich seiner Einladung zu
Tisch gefolgt. Das behagliche Mahl mit
selbstbereiteter Bowle und einer Ha¬
vanna hatte den Hausherrn derart ge¬
stärkt und angeregt, daß er gleich
einen zweiten Normalarbeitstag darauf
folgen ließ. Während der Nacht wurde
mehrfach aus dem Schlafzimmer ener¬
gisch geschellt, die Mahnungen der
Gattin zum Schlußmachen lösten aber
nur ein ärgerliches „ich komme ja
schon" aus, und bei Sonnenschein er¬
folgte der aufmunternde Scheidegruß:
„So gegen elf Uhr sehen wir uns wohl
auf dem Ministerium, vielleicht haben
wir dann schon etwas von den be¬
sprochenen Sachen fertig.“
Althoffs Wartezimmer war der
Schrecken seiner zahlreichen Besucher,
die gut daran taten, mit einigen Stun¬
den Wartezeit zu rechnen und sich ent¬
sprechend mit Lektüre und Proviant
zu versehen. Wer gewohnt oder ge¬
zwungen war, mit seiner Zeit haus¬
hälterisch umzugehen, empfand eine er¬
klärliche Scheu, es öfter, als unbedingt
nötig, in Anspruch zu nehmen. Die
Hoffnung aber, das Interesse des All¬
gewaltigen für einen Wunsch zu fin¬
den, und das Bewußtsein, dann auf die
kräftigste und wohlwollendste Förde¬
rung rechnen zu können, zogen mit ma¬
gischer Gewalt immer wieder hin zu
dem oft verwünschten Orte schwerer
Geduldsproben.
Trotz aller Arbeitsüberlastung war
Althoff nicht nervös. Er kannte kein
Überhasten und hatte Zeit und Ruhe
bei allem, was er vornahm. Bei Ver¬
handlungen wie bei Unterhaltungen, bet
der Arbeit wie bei der Erholung war
er stets ganz bei der Sache und ließ
an Gründlichkeit nichts zu wünschen
übrig. Mit der Fassung eines Schrift¬
stücks oder Briefes war er nicht eher
zufrieden, bis er den Eindruck hatte,
besser und korrekter könne der beab¬
sichtigte Inhalt nicht zum Ausdruck
kommen. So mancher junge Doktor,
der von ihm gelegentlich eines Be¬
suches zu einer Dienstleistung heran¬
gezogen wurde, hat Blut und Wasser ge¬
schwitzt, ehe er die Zufriedenheit des
Meisters erlangte, auch wenn es sich
nur um eine symmetrisch geordnete
Adresse auf einem Briefumschläge han¬
delte. Althoff selbst schrieb eine deut¬
liche, fast zierliche Schrift und war
darin als Kraftnatur nicht zu erken¬
nen. Unleserliche Schrift oder gar Na¬
mensunterschrift wurde von ihm als
brutale Rücksichtslosigkeit gegen Emp¬
fänger und Leser gegeißelt. Die Füh¬
rung der mannigfachen Notiz- und
Merkzettel, Repertorien und Registra¬
turen für seine umfangreiche, die Zif¬
fer von 3000 jährlich erreichende pri¬
vatdienstliche Korrespondenz zeugte
von einer für jeden Registrator vor¬
bildlichen peinlichen Sorgfalt. Sein
Handwerkszeug an Federn, Bleistiften
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696
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
Er sagte, alle uns für Universitäts¬
und wissenschaftliche Zwecke anver¬
trauten Geldmittel müßten gewissen¬
haft verwaltet, aber in vollem Umfange
verbraucht werden, da die Aufgaben
erheblich größer als die verfügbaren
Fonds wären. In der Ersparnis von Gel¬
dern erblicke er den Vorwurf für
sich und die beteiligten Beamten,
durch Unvermögen oder Trägheit
verfügbar gewesene Mittel ihrer Zweck¬
bestimmung entzogen zu haben. Er
sähe in mir seinen Finanzminister,
dessen Sache es sei, die etatsrechtliche
Form zu finden, um diesem Vorwurfe
zu begegnen. Tatsächlich erreichte Alt¬
hoff, daß z. B. größere Ersparnisse bei
den Professoren-Besoldungsfonds, die
vorher zur Staatskasse zurückflossen,
alljährlich indirekt zur Verstärkung des
an chronischer Erschöpfung leidenden
Privatdozenten-Stipendienfonds verwen¬
det wurden, wodurch mancher hoff¬
nungsvolle junge Gelehrte vor Not be¬
wahrt werden konnte. Althoffs gutes
Herz kam bei solchen Bewilligungen
oft in drastischer Weise zur Geltung,
besonders jungen Gelehrten gegenüber,
die sich mit zäher Energie unter schwie¬
rigen äußeren Lebensbedingungen zur
akademischen Laufbahn durchgerungen
hatten. Bei den persönlichen Verhand¬
lungen mit einem früheren Elementar¬
lehrer, der ein naturwissenschaftliches
Extraordinariat erhalten sollte, schraubte
Althoff das zu vereinbarende Gehalt
bis zur zulässigen Höchstgrenze her¬
auf. Dann kam unvermittelt die Frage:
„Sie haben doch Schulden?“ Als dies
zur Abwehr eines vermeintlichen Vor¬
wurfes energisch verneint wurde,
wandte sich Althoff an mich: „Solche
Antwort muß man nicht so wörtlich
nehmen. Ich kenne das. Als Familien¬
vater hat er sicher kleine Schulden,
von denen wir ihn freimachen müssen.
Können wir ihm nicht einmalig wenig¬
stens 300, 400 oder besser 500 Mark
geben, damit er ohne Druck seine ganze
Kraft in den Dienst seines neuen Amtes
stellen kann?“ Zuweilen widerfuhr es
Althoff allerdings, daß er mehr in Aus¬
sicht stellte, als sich nachher verwirk¬
lichen ließ. Dann wunderte er sich,
daß statt der immer noch berechtigten
Dankesempfindung eine erklärliche Un¬
zufriedenheit Platz griff.
Althoff hatte ein vorzügliches Ge¬
dächtnis und eine staunenswerte Per¬
sonalkenntnis unter den Dozenten der
Hochschulen. Er war nicht nur über
ihre Schriften und Leistungen eingehend
unterrichtet, sondern vielfach auch über
ihren Werdegang und ihre Persönlich¬
keit. Er benutzte jede sich mündlich
oder schriftlich bietende Gelegenheit,
nach dieser Richtung hin sein Wissen
zu vervollkommnen. Sein Votum für
die Besetzung vakanter Lehrstühle er¬
folgte erst nach gründlichsten Erkun¬
digungen und Erwägungen. Er ließ
sich in seinem Urteil nicht leicht ein¬
seitig beeinflussen, obwohl ihm Autori¬
tät über Majorität ging. Geltend ge¬
machte Schwächen suchte er durch Be¬
tonung der starken Seiten der Kandida¬
ten auszugleichen. Über menschliche
Verfehlungen dachte er nachsichtig,
stets bereit, Gestrauchelten seine hel¬
fende Hand zu reichen.
Althoff war jederzeit ein Optimist
und voll Vertrauen, eine Sache zum gu¬
ten Ende zu führen. Von hoher Warte
aus übersah er die an ihn herantreten¬
den Fragen. Sein Gedankenreichtum
zeigte ihm gewöhnlich gleich mehrere
gangbare Wege zu ihrer Lösung. Je
größer die Hindernisse und Schwierig¬
keiten, desto mehr Anreiz für seine
Kraftnatur, sie mit Energie zu über¬
winden. In der Verfolgung des sach¬
lichen Zieles ließ er Bedenken persön-
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licher oder formaler Art zurücktreten,
auch wenn dadurch die gewohnte Ord¬
nung gestört, die Referatsgrenzen über¬
schritten oder Empfindlichkeiten an¬
derer ausgelöst wurden. Ein Beispiel
dafür ist die ihm so glänzend ge¬
lungene Lösung der Charit6frage. An
dem Niedergang des einstigen Muster¬
instituts des Berliner Charitfe-Kranken-
hauses und der mit ihm verbundenen
Universitätskliniken nahm Althoff
schmerzlichen Anteil. Langjährige Vor¬
verhandlungen mit dem Finanzmini¬
sterium und der Stadt Berlin wegen
des Baulandes für die Erweiterungs¬
pläne waren auf dem toten Punkt an¬
gelangt. Obwohl er an der zur Medi¬
zinalverwaltung gehörigen Sache nur
als Korreferent beteiligt war, entschloß
er sich, sie persönlich in die Hand zu
nehmen. Eines Tages ging er mit mir
zum Charitedirektor, der die Situation
klarlegte, aber keinerlei Hoffnung auf
einen Ausweg aus der Sackgasse
machte. Etwas gönnerhaft stellte er da¬
bei Althoff ein Denkmal in der Charitö
in Aussicht, falls ihm Erfolg beschie-
den wäre. Auf dem Heimwege meinte
Althoff, das wäre so eine Aufgabe für
uns, des Schweißes der Edlen wert,
und beurlaubte mich auf drei Tage zum
gründlichen Aktenstudium. Der daraus
hervorgegangene Vorschlag einer neuen
Verhandlungsbasis war von Erfolg ge¬
krönt. Als aber das Projekt schließlich
an den mehr als 10 Millionen betra¬
genden Kosten zu scheitern drohte und
Althoff mit der Frage beschäftigt war,
die durch Mangel an Licht und Luft
bedrohte Zukunft des Botanischen Gar¬
tens in Schöneberg zu sichern, kam er
eines Abends auf mein Bureau mit
dem freudigen Ausruf: „BvQt]xa\ ich
habe die einfachste Lösung der beiden
großen Fragen gefunden. Wir verlegen
den Botanischen Garten nach Dahlem
698
— die alte Staatsdomäne wird uns der
Finanzminister sicher freigeben —, ver¬
kaufen den Schöneberger Grund und
Boden und decken aus den vielen Mil¬
lionen die Kosten der Verlegung des
Botanischen Gartens und des Umbaues
der Charitö.“ Mit seinen listigen Augen
blinzelnd setzte er noch hinzu: „Es ist
zwar sehr schade, daß die gute Lunge
verloren geht; die Schöneberger kön¬
nen ja aber tüchtig schreien und ein
mehr oder weniger großes Stück des
Botanischen Gartens als Parkanlage zu
erhalten suchen. Das ist dann Sache
des Finanzministers und der Stadt
Schöneberg und geht uns nichts an.“
Bei der bald darauf erfolgenden ge¬
meinsamen Besichtigung des Dahlemer
Terrains sagte er noch: „Was meinen
Sie wohl, um wie viele Millionen die
vor uns liegenden Privatgrundstücke
als Umgebung des künftigen Botani¬
schen Gartens steigen werden? Wenn
wir nun ordinäre Menschen wären,
könnten wir durch unsere Wissen¬
schaft eine große Spekulation machen
und mehrfache Millionäre werden.“
Althoff liebte es, seine Gedanken und
Pläne zunächst vertraulich zu bespre¬
chen und die Meinung anderer zu hö¬
ren. Seine anfänglich weitgreifenden
Gedanken wurden bis zur Gestaltung
als Projekt auf ein gesundes Maß zu¬
rückgeführt. So wollte er das in Dah¬
lem gewonnene Bauland zunächst mit
weiteren Universitätsinstituten und
staatlichen Behörden in einem Umfange
besiedeln, daß die Reichshauptstadt in
Gefahr kam, von allen öffentlichen Ge¬
bäuden entblößt zu werden. Oft habe
ich dabei beobachten können, wie gut
Althoff eine entgegengesetzte Ansicht
vertrug und wie er nach objektiver
Erörterung des Für und Wider verhält¬
nismäßig leicht einer Änderung zu¬
stimmte. Daß diese Erfahrung von sei-
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
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699
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
700
nen Vorgesetzten nicht immer gemacht
sein mußte, bemerkte ich zuerst, als
der sonst sehr auf Würde und Sub¬
ordination haltende Ministerialdirektor
G. mich als jungen Expedienten zu sich
kommen ließ, damit ich Althoff in einer
dienstlichen Sache nach einer bestimm¬
ten Richtung hin beeinflußte, weil, wie
er sagte, der Herr Geheimrat dann we¬
niger schwierig sei, als wenn er die
Empfindung habe, es solle ihm die Mei¬
nung eines Vorgesetzten aufgenötigt
werden. Vielleicht hing die verschie¬
denartige Beobachtung etwas auch da¬
mit zusammen, daß das Gefühl eige¬
ner geistiger Unterlegenheit, das ihm
gegenüber mehr oder weniger wohl
jeden überkam, von Untergebenen leich¬
ter und ohne Stachel empfunden wird.
Hatte Althoff eine Sache glücklich zu
Ende geführt, suchte er sich der An¬
erkennung seiner Verdienste zu ent¬
ziehen und sie auf seine Mitarbeiter
in einer für sie oft beschämenden Weise
abzuleiten. Das war seine Auffassung
der justitia distributiva, auf die er sich
gern berief.
3.
Ais überzeugter Monarchist ist Alt¬
hoff ein treuer Diener seines kaiser¬
lichen Herrn gewesen. Der Kaiser, der
ihn zuerst gelegentlich der Vorträge
und Verhandlungen über die Schul¬
reform kennen und schätzen lernte,
hatte neben der ihm vielfach bezeigten
Anerkennung seiner großen Verdienste
ein herzliches Wohlgefallen an seiner
Persönlichkeit, obwohl oder vielleicht
weil er kein eigentlicher Hofmann war
und sich über die Formen des höfi¬
schen Verkehrs hinwegsetzte. Auch der
Kaiserin, der Althoff in ihrer Eigen¬
schaft als Protektorin der von ihm mit
ins Leben gerufenen Bekämpfung der
Volkskrankheiten und der Säuglings¬
sterblichkeit nähertreten durfte, hat er
persönlich durch manchen Dienst als
Ratgeber seine Verehrung und Bewun¬
derung betätigt. Noch auf dem Sterbe¬
bett hat er sich mit der Frage der juri¬
stischen Vorbildung eines kaiserlichen
Sohnes eingehend beschäftigt. Auf Ein¬
ladung des Kaisers begleitete Althoff
diesen 1905 auf der Mittelmeerfahrt
an Bord des Hamburg-Amerika-Damp-
fers „Hamburg“ von Cuxhaven nach
Neapel. Beim Antritt der Reise begrüßte
der Kaiser ihn herzlichst und bemerkte
dann zu den umstehenden Herren:
„Sieht er nicht aus wie der leibhaftige
Seelotse von Cuxhaven?" Der marine¬
blaue Dreß, der einer sogenannten
Schifferkrause ähnelnde Bart und die
seemännische, etwas schwerfällige Hal¬
tung Althoffs forderten zu diesem Ver¬
gleich heraus. Die Geräumigkeit des
Schiffes gestattete die Erfüllung jedes
Wunsches nach Quartierverlegung und
-erweiterung. Das war etwas für Alt¬
hoff und sein Freizügigkeitsgefühl!
Wohl viermal wechselte er seine Ka¬
bine. Sein Freundschaftsverhältnis zu
mir betätigte er auch an Bord. Wenn
er auch dem Kaiser erzählt hatte, daß
seine Frau sich über meine Anwesen¬
heit freue, weil ich dafür sorgen werde,
daß er nicht allzu große Dummheiten
mache, so folgte er doch meinem Rate
nicht, den bei Hofe üblichen Abstand
zwischen „Kavalier“ und „Beamten"
mehr zu wahren. Einmal ließ er sich
sogar von der Kaisertafel dispensieren
und meldete sich in der Beamtenmesse
zu Tisch an, durch sein joviales Wesen
und seine treffliche Unterhaltungsgabe
alle Teilnehmer an dem Festmahle er¬
freuend.
Bei der offiziellen Landung des Kai¬
sers in Tanger lud Althoff mich zu
einer privaten Landung ein. Bei der
Unsicherheit, wie lange der Kaiseraus-
701
702
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
bleiben würde, der unruhigen See, dem
Fehlen der bereits an Land gefahrenen
Pinassen und in Ermangelung von Lan¬
desmünze machte ich Bedenken gel¬
tend. Er aber winkte als Antwort eins
der unser Schiff umkreisenden Boote
mit eingeborener Bemannung heran,
und wir fuhren gemeinsam an Land.
Eine Handvoll deutscher Silbermünze
wirkte vollbefriedigend auf die marok¬
kanischen Gemüter, die bei der Wie¬
derabfahrt sich lebhaft gestikulierend
wieder zur Verfügung stellten. Bei der
Besichtigung von Land und Leuten,
dem Einkauf kleiner Erinnerungen für
die Daheimgebliebenen ging alles gut.
Nur als Althoff eine Moschee mit un¬
geschützten Stiefeln zu betreten ver¬
suchte, schienen die Aufsichtsbeamten
nicht gleich das richtige Verständnis
für die Eigenart seiner Persönlichkeit
zu entwickeln und nicht übel Lust zu
haben, unserem Ziel ein jähes Ende zu
bereiten. Unbeabsichtigt waren wir zum
Gouvernementsgebäude gelangt, wo
eine festliche Versammlung der Hono¬
ratioren von Tanger das Erscheinen
des Kaisers erwartete. Althoff war
durch das sich bietende interessante
Bild überrascht und machte der in hel¬
ler Gewandung auf dem Dache postier¬
ten marokkanischen Damenwelt durch
lebhaftes Schwenken seiner Mütze seine
Reverenz. Laute Rufe der Freude dank¬
ten dem vermeintlichen Herolde des
Allerhöchsten Herrn. Bewegung und
Erregung über den im Programm nicht
vorgesehenen Vorakt entstand in der
Versammlung, Zweifel an der Legiti¬
mation des Herolds machten sich be¬
merkbar und der Kaiser konnte jeden
Augenblick eintreffen. Die etwas be¬
denkliche Situation ließ es geraten er¬
scheinen, auf nähere Bekanntschaften
zu verzichten und den Ort der offiziel¬
len Feier schnell wieder zu verlassen.
Bei der Rückkehr zum Hafen gab es
kurz vor dem ihn von der Innenstadt
abschließenden Tore einen Aufenthalt,
um den Kaiser und sein Gefolge zu
Pferde vorbeipassieren zu lassen. Als
der Kaiser Althoff mitten unter der
schaulustigen Menge der Eingeborenen
erblickte, rief er ihm zu, sich zu beeilen,
da die Anker gleich gelichtet würden.
Unter den Püffen der mit Stöcken be¬
wehrten Polizeimannschaften gelang es
denn auch mit genauer Not, das Tor
hinter dem kaiserlichen Gefolge zu
durcheilen und den schwankenden Hei¬
matsboden mittels Motorbootes noch
rechtzeitig zu erreichen.
Althoff blieb in seiner unbefangenen
Haltung immer derselbe, ob er vor
Souveränen stand oder sich mit einem
Arbeiter oder Kinde unterhielt. Nicht
einmal das süffisante Lächeln eines
hochherrschaftlichen Lakaien konnte
ihn in Verlegenheit bringen, wenn er
in Gedanken nach seiner Bureau¬
gewohnheit beim Ablegen der Garde¬
robe auch seine Röllchen abstreifte, an
denen er wie am Vorhemd grundsätz¬
lich festhielt.
Ein Mann von Althoffs hoher un¬
eigennütziger Gesinnung konnte auch
ungefährdet mit Krösussen in Verbin¬
dung treten. Er dachte so erhaben über
den Mammon, daß der Millionenbe¬
sitz anderer in ihm nur den einen
Wunsch erzeugte, die Besitzer zum
Nutzen der Allgemeinheit von ihrer
großen Verantwortlichkeit zu ent¬
lasten. Die von Andrew Carnegie pro¬
klamierte und in die Tat umgesetzte
Auffassung von der Pflicht der Rei¬
chen, die gesammelten Schätze der
Mitwelt zu menschheitsfördernden
Zwecken noch bei Lebzeiten wieder zu¬
zuführen, hatte auf Althoff einen tiefen
Eindruck gemacht. Neben der Förde¬
rung seiner eigenen Ziele und Gedan-
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703
Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
704
ken wollte er dem Vorbilde Carnegies
auch in Deutschland Nacheiferung er¬
wecken. In gewissem Umfange haben
seine Bemühungen auch erfreuliche Er¬
folge erzielt. Daß dabei setine geistige
Gegengabe für die Wohltäter der
Menschheit doch noch wertvoller war
als die geopferten Millionen, erfuhr ich
bei Althoffs Begräbnis aus dem Munde
eines treuen Verehrers, als er mir trä¬
nenden Auges sagte, von dem Ver¬
ewigten habe er es erst gelernt, sein
Leben lebenswert zu machen. Wem für
eine solche Gesinnung der Resonanz¬
boden fehlte, konnte die Althoffschen
Anregungen nur naiv finden und sich
von.dem für seinen Schatz so gefähr¬
lichen Manne zurückziehen. Kam es den
Nabobs aber in erster Linie auf die
Erlangung einer äußeren Anerkennung
an, so merkten sie bald, billig würden
sie durch seine Vermittlung nicht zum
Ziel gelangen. Er trat nur für diejenigen
ein, die sich durch Entäußerung eines
wesentlichen Teils ihres Vermögens
tatsächlich große Verdienste um Staat
und Allgemeinheit erworben hatten,
dann allerdings mit der ganzen Wärme
seines dankbaren Herzens.
Oft kam es vor, daß Althoff zur För¬
derung ihn interessierender Unterneh¬
mungen unter eigenem Namen große
Summen zeichnete und vertrauensvoll
die Aufbringung derselben durch an¬
dere als cura posterior behandelte. So
hat er nach dieser Methode auf seinem
Sterbebette zugunsten von Personen
und Vereinigungen, die ihm am Her¬
zen lagen, einfach testiert und dann
einen wohlhabenden Herrn seiner Be¬
kanntschaft schriftlich bitten lassen, die
Legate in seinem Namen auszuzahlen,
was auch in richtiger Würdigung des
Testators und seines Vetdrauensbewei-
ses anstandslos geschah.
4.
Anderen zu helfen und Aufmerksam¬
keiten zu erweisen, war Althoffs größte
Freude. Er bezeichnete dieses Bedürf¬
nis seines Herzens deshalb gelegent¬
lich als reinen, aber erlaubten Egois¬
mus. Da er dabei auf Dank nicht rech¬
nete, wurde er vor Enttäuschung und
Verbitterung bewahrt. Die Fürsorge für
die Witwen und Waisen des Universi¬
tätsressorts hat Althoff von Übernahme
seines Referats an erfolgreich beschäf¬
tigt. Viele wohltätige und gemein¬
nützige Stiftungen und Bestrebungen
verdanken diesem Althoffschen „Egois¬
mus“ ihr Leben. Eine derselben stund
als Zeichen opferbereiter Dankbarkeit
eines begüterten Freundes seinem Her¬
zen besonders nahe, sie führt auf kai¬
serliche Initiative hin Althoffs Namen
und wirkt im Segen zur Abhilfe be¬
sonderer Notfälle unter den wissen¬
schaftlichen Universitätsbeamten und
Oberlehrern und deren Hinterbliebenen.
Unermüdlich war Althoff auch im
Erweisen persönlicher Aufmerksamkei¬
ten. Wieviel Bücher und Spielsachen
hat er wohl in seinem Leben ver¬
schenkt? Wieviel Empfehlungen und
Glückwünsche für andere geschrieben?
Aber bei Büchern und Spielsachen blieb
es nicht, auch Gold, Silber und Blu¬
men wurden nicht gespart. Und wie
schenkte er? Mit feinsinniger Berück¬
sichtigung der subjektiven Erforder¬
nisse des Einzelfalles, am liebsten un¬
ter persönlicher Übergabe der Ge¬
schenke, besonders an Kinder. Wer Alt¬
hoff beobachtete, wenn er sich mit den
Kindern unterhielt und freute, bekam
den Eindruck, daß dieser große Kin¬
derfreund über viel Liebe und viel —
Zeit verfügte. Es war nicht möglich,
sein Schenkbedürfnis einzuschränken,
ohne ihm wehe zu tun, obwohl er sei-
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706
705 Wilhelm Abb, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff
ber doch keineswegs in guten Vermö¬
gensverhaltnissen lebte. Besonderes
Interesse brachte er den Söhnen seines
Bekanntenkreises entgegen. Ob es sich
um die Förderung ihrer Gesundheit,
ihre Ausbildung auf Schule und Uni¬
versität oder um die Wahl eines Be¬
rufes handelte, stets stand er mit Rat
und Tat gern zur Verfügung. Vielen
hat er durch seine reifen Erfahrungen
und Ansichten zu ihrem Lebensglück
verholfen und sie auf den rechten Weg
geführt. Schon in seiner Straßburger
Zeit war er als „Studentenvater“ rühm-
lichst bekannt. Auf diesen Ehrentitel
war er besonders stolz. Um so größer
sein Schmerz, als er gerade auf diesem
Gebiete eine Zeitlang angefeindet wurde.
Er, der in seinem ganzen Leben der
ewig junge Korpsstudent im besten
Sinne des Wortes geblieben war, sollte
die Freiheit der akademischen Jugend
beschneiden oder beseitigen wollen.
Der ihm damals zuteil gewordene kai¬
serliche Trost in Gestalt des Kaiser¬
bildnisses mit der Unterschrift: „Es
sind die schlechtesten Früchte nicht,
an denen die Wespen nagen“ hatte ihm
wohlgetan.
Die Schlagfertigkeit Althoffs konnte
sich gegenüber unvorsichtigen Äuße¬
rungen anderer leicht scharf und spitz
bemerkbar machen, besonders wenn
diese aus Gefühlen der Uberhebung
hervorgegangen zu sein schienen. Dies
mußte auch ein hoher Staatswürden¬
träger an einem Begrüßungsabend zu
einer offiziellen Einweihungsfeier er¬
fahren. Als er im Laufe der Unterhal¬
tung die Hälfte eines etwas bedenk¬
lichen Klapphomverses zitiert hatte,
neckte er Althoff, der den Zusammen¬
hang nicht verstand, mit der Bemer¬
kung: „Ich hätte Sie doch für sattel¬
fester in der Literatur gehalten, fragen
Sie einmal Ihren Nachbarn, der hat
Internationale Monatsschrift
mich sicher verstanden.“ Als ich Alt¬
hoff die unterdrückte Hälfte des Verses
zugeflüstert hatte, erfolgte die scharfe
Abfuhr: „Sie haben ganz recht, Exzel¬
lenz, auf dem Gebiet der Zote war
ich nie zu Hause, da lasse ich dem
Herrn Staatsminister gern und gehor-
samst den Vorrang.“
Und in der Tat, Althoff war ein Feind
der Zote, so gern er einen geistvollen
Witz und ein kräftiges, natürliches
Wort hörte oder selbst in den Mund
nahm. In seiner Gegenwart war eine
schlüpfrige Herrenabend-Unterhaltung
ausgeschlossen. Etwaige Versuche
würde er bald abzubrechen oder auf
ein höheres Niveau überzuleiten ge¬
wußt haben. Meist beherrschte Althoff
das Gespräch mit seinen fesselnden Er¬
zählungen, seinen scharfsinnig pointier¬
ten Anekdoten und seinem urwüchsigen
Humor. Wenn er bei einem Glase
Wein, den er nach Art und Herkunft
sicher erkannte, in behagliche Stim¬
mung kam und aus seinem studenti¬
schen Leben erzählte, war es eine Lust,
ihm zuzuhören und einen Blick in das
sonnige Gemüt zu tun, das auch un¬
liebsame Ereignisse in der Erinnerung
zu verklären und humoristisch zu ge¬
stalten wußte.
Althoff war an sich kein Verächter
der Tafelfreuden und war gern fröh¬
lich mit den Fröhlichen. Die Genüsse
durften aber nicht Selbstzweck sein, es
mußte, wie er zu sagen pflegte, bei sol¬
chen Zusammenkünften immer etwas
herausspringen. Einladungen zu bloßen
„Abfütterungen" nahm er grundsätzlich
nicht an. Wie viele dienstliche Bespre¬
chungen und Vereinbarungen hat er da¬
gegen beim Glase Wein abgemacht,
häufig lud er die im Ministerium nicht
abgefertigten Professoren und Instituts¬
leiter zur gründlichen Erörterung ihrer
Anliegen kurzerhand in ein Wein-
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707
Wilhelm Abb. Persönliche Erinnerungen an Friedrich Altholf
708
lokal oder nach Haus zu Tisch. Ich
bin oft sein Gast gewesen und habe es
dankbar empfunden, daß er bei un¬
seren gemeinsamen Mahlzeiten in der
Stadt oder in Potsdam zuweilen auch
mir die Rechte des Wirtes überließ.
An seinem Geburtstage durfte ich
ihn oft schon am frühen Morgen be¬
suchen, ihm meine Glückwünsche aus¬
sprechen und zusammen mit ihm nach
Berlin fahren. Meist traf ich ihn noch
beim ersten Frühstück. Im Hinblick
auf meine Warnungen vor den Folgen
unregelmäßiger Lebensweise scherzteer
einmal selbst, ich könne mich nun per¬
sönlich davon überzeugen, daß er wie
ein Kamel vor Antritt einer Wüsten¬
fahrt seinen Magen bis zur Überfülle
belaste — es war tatsächlich eine ganz
hervorragende Massen leistung, die ich
zu sehen bekam -, um dann getrost
acht bis zehn Stunden bis zur nächsten
Mahlzeit auszuhalten. Alle Warnungen
vor solchen Mißhandlungen des Magens
nützten nichts. Letzten Endes trugen
sie dazu bei, daß sein von Natur mit
zäher Gesundheit ausgestatteter Kör¬
per leider verhältnismäßig früh den
Dienst versagte. Neben Aithoffs be¬
handelnden Ärzten hat sich sein treuer
Freund und unermüdlicher Mitarbeiter
auf dem Gebiet der Tuberkulosebe¬
kämpfung, der Laryngologe B. Fr., um
sein leibliches Wohl besonders verdient
gemacht. Die Pforten seines gastlichen
Hauses standen Althoff — gewisser¬
maßen als sein Berliner Absteigequar¬
tier — jederzeit offen.
Als Althoff auf dringenden ärztlichen
Rat sich entschloß, von seinem Amte
zurückzutreten, bezeichnete er es mehr¬
fach als seinen Wunsch, zwischen Zeit
und Ewigkeit noch eine Spanne der
Ruhe und inneren Sammlung zu ge¬
winnen. Sie ist nur recht kurz ausge¬
fallen. Die Arbeit, seine treuste Freun¬
din, hat ihn aus ihren Armen nicht
loslassen wollen. Bei einem Kranken¬
besuche verneinte Althoff einst meine
Frage, ob ihm in den Tagen der er¬
zwungenen Untätigkeit der Gedanke
an das viele Gute, das ihm im Leben zu
tun vergönnt gewesen, nicht ange¬
nehm und tröstlich gewesen sei, und
meinte, davon hätte er nichts bemerkt,
wohl aber seien ihm das viele Böse
und das unterlassene Gute recht deut¬
lich und mahnend vor Augen getre¬
ten. Daß er auf seinem Sterbebett über
sein Lebenswerk besser und mit be¬
rechtigtem Stolz gedacht hat, bezeugt
sein letzter Wunsch, auf dem Grund
und Roden des Botanischen Gartens,
seiner Lieblingsschöpfung, ausruhen zu
dürfen von aller Mühe und Arbeit sei¬
nes köstlichen Lebens.
So ideal und großzügig wie der
Wunsch ist auch seine Erfüllung ge¬
worden. Wer, wie ich, dem Verewigten
im Leben nahe gestanden, wird freudi¬
gen Dank für die ungewöhnliche Ehrung
empfinden, wenn er an der selten schö¬
nen Ruhe- und Erinnerungsstätte in
treuer Verehrung des edlen Menschen
gedenkt, der in seinem Leben soviel
Licht und Wärme ausgestrahlt hat.
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Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege.
Von O. Wulff.
Niemand kann heute noch darüber
im Zweifel sein, daß der Kunstpflege
an den seit dem Vorjahr einsetzenden
Bestrebungen zur Erweiterung und Ver¬
tiefung der Volksbildung bedeutsamste
Mitarbeit zufällt. Da heißt es für alle
dazu Berufenen, sich über ihre Auf¬
gaben Rechenschaft abzulegen. Tau¬
chen doch an jedem Wendepunkte des
Kulturfortschritts — und an einem sol¬
chen stehen wir heute — neue Ziele
vor uns auf und die alten rücken bei¬
seite. So sei hier die Aufmerksamkeit des
Lesers für den Gedankengang eines im
Zentralinstitut für Erziehung und Un¬
terricht während des Pädagogischen
Osterkursus gehaltenen Vortrags in An¬
spruch genommen, in dem die aufge¬
stellte Frage vom Gesichtspunkt des
Kunstunterrichts einerseits und unseres
Museumswesens andererseits erörtert
wurde.
Das höchste Ideal der Volkserziehung
werden wir fortan im Volksgedanken
selbst erblicken, wie der Unterstaats¬
sekretär C. H. Becker in seiner wege¬
weisenden Schrift über „die kulturpoli¬
tischen Aufgaben des Reiches“ überzeu¬
gend ausgeführt hat. Seine politische
Tragkraft hat dieser Gedanke bereits
bewährt und das Reich, in dem er ge¬
wachsen ist, bislang vor dem Zerfall
bewahrt. Und doch bedarf das Volks¬
bewußtsein noch der Kräftigung, nicht
so sehr gegen die schon verminderte
Gefahr der Stammesunterschiede und
der konfessionellen Spaltung, als ge¬
gen den ungleich bedrohlicheren Zwie¬
spalt, der unser Volk nach seiner Er¬
werbstätigkeit und gesamten Lebens¬
anschauung in zwei einander fremde
große Lager scheidet; Er kann nur
durch Überbrückung und besseren Aus¬
gleich der Bildungsgegensätze und
nicht allein durch Umgestaltung des
Wirtschaftslebens geschlichtet werden.
Vor allem gilt es, der von der Scholle
und damit von der heimatlichen Über¬
lieferung gelösten großstädtischen Ar¬
beiterschaft den Zugang zu den ihr un¬
bekannten Schätzen unserer Geisteskul¬
tur weiter als bisher zu öffnen. Als
Leitstern leuchtet uns Schillers Wort
wieder auf: „Nur durch das Morgentor
des Schönen drangst du in der Er¬
kenntnis Land.“ Ist es doch die Kunst,
die den Höhenflug des menschlichen
Geistes am deutlichsten spiegelt und
die sittlichen Güter der Vergangenheit
in bleibender Gestalt nachkommenden
Geschlechtern bewahrt und, solange
schöpferische Kräfte in ihr walten, im¬
mer neue geistige Werte schafft. Der
Kunstpflege erwächst daraus die zwie¬
fache Aufgabe, jene Schätze, die sie
hütet, dem ganzen Volke zu erschließen,
und die lebendige Kunst der Gegen¬
wart zu fördern und zu leiten, die Dop¬
pelaufgabe der Kunsterziehung und
der Künstlererziehung. Hier soll
vorwiegend von der ersteren die Rede
sein, aber auch die zweite nicht außer
acht gelassen werden. Wie uns die heu¬
tige Lage auf allen Lebensgebieten zur
Zusammenfassung der Kräfte drängt, so
werden sich uns vielleicht ein paar
fruchtbare Anregungen für ihr Inein¬
andergreifen und Zusammenarbeiten zu
gegenseitiger Förderung ergeben.
1 .
In den Brennpunkt der Kunsterzie-
hung wird in Zukunft so gut wie im
sprachkundlichen Unterricht die Be-
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711
712
0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
trachtung des eigenen Volkstums tre¬
ten. Mittelalter, Renaissance und das
vorige Jahrhundert haben uns ein über¬
reiches Kunsterbe hinterlassen, das
auch die gebildeten Volkskreise noch
lange nicht zu vollem innerem Besitz er¬
worben haben. Gleichwohl wäre es ver¬
fehlt, den volkstümlichen Kunstunter¬
richt auf die Einführung in die vater¬
ländische Kunst zu beschränken. Denn
die Dinge liegen da nicht anders als
auf anderen Gebieten des deutschen
Geisteslebens der Vergangenheit. So
wenig wie in der Dichtung oder in der
kirchlichen und weltlichen Prosalitera¬
tur läßt sich das Volkstümliche rein¬
lich von dem fremden Lehngut abson¬
dern. Daß ein Wolfram und selbst Wal¬
ter v. d. Vogelweide vielfach nur wel¬
sche Vorlagen in deutschem Geiste
nachgedichtet haben, wußten wir längst.
Wieviel auch die Mystiker des 14. und
die Prosaiker des 15. bis 17. Jahrhun¬
derts ihren griechischen, lateinischen
und vor allem italienischen Quellen
verdanken, darüber hat uns Konrad
Burdachs tiefgründige Würdigung der
Renaissancekultur belehrt. Ebenso aber
hat die bildende Kunst im Laufe ihrer
Entwicklung manches fremde Pfropf¬
reis angesetzt und sich dadurch so reich
entfaltet. Deutsche Geistesart mit ihren
stärkeren persönlichen Gefühlswerten
spricht um so vernehmlicher zu uns
aus den Stifterstatuen des Naumbur-
ger Domes oder aus den Blättern
Albrecht Dürers, wenn sich der ver¬
gleichenden Betrachtung Ausblicke auf
die vorbildlichen Typen der gotischen
Plastik Frankreichs sowie auf die Kup¬
ferstiche Mantegnas bieten, unter deren
Einfluß die Zeichenkunst des deutschen
Meisters ausgereift ist. Aber auch auf
die künstlerischen Eigenwerte der Re¬
naissance kann der volkstümliche Kunst¬
unterricht so wenig als auf die der
Antike verzichten, wenn er auch Sinn
und Freude für die Darstellung des
natürlichen Menschen wecken soll.
Kunsterziehung ist Erziehung zum
Verständnis aller bildenden Kunst; sie
muß also wie bisher das Gesamtgebiet
der Kunstgeschichte umfassen. Begriff
und Betrieb dieser Bewegung haben
seit etwa zwei Jahrzehnten vor allem
dank A. Liehtwarks Vorgang in Deutsch¬
land die weiteste Verbreitung gewon¬
nen. Auch die Arbeiterschaft ist in den
Großstädten, zumal in Berlin, durch die
Volkswohlfahrtpflege schon hereingezo¬
gen worden. Einen Fortschritt bedeutet
nur die Aufnahme dieser Bestrebungen
in die neue Volkshochschule. Damit
wächst aber die Schwierigkeit der Lehr¬
aufgaben, und sie kann nur von Fall
zu Fall nach den besonderen Voraus¬
setzungen gelöst werden. Ein allgemei¬
nes Bild von diesen Anfängen haben
wir noch nicht. In Berlin ist eine sehr
zweckmäßige Verbindung zwischen der
akademischen Beratungstelle der Volks¬
hochschule und den Staatsmuseen her¬
gestellt worden, an denen bereits Füh¬
rungen nach freier Vereinbarung mit ein¬
zelnen Arbeiterverbänden veranstaltet
worden waren. Das Hauptgewicht wird
zunächst mit Recht auf abendliche Lehr¬
gänge von Lidhtbildervorträgen gelegt,
da die Heranführung einer ganz unvor-
gebildeten Hörerschaft an die Kunst¬
werke leicht einen völligen Mißerfolg
ergeben kann. Kunstgeschichtliche Be¬
lehrung soll jedoch möglichst ausge¬
schlossen bleiben. Das Gegenständliche
mit kulturgeschichtlicher Erläuterung
bietet wohl den glücklichsten Ausgangs¬
punkt, z. B. die Vorführung der antiken
Götterwelt und die Wandlung,der christ¬
lichen Idealgestalten. Der griechische
Tempel und der mittelalterliche Dom mit
ihren Bildwerken sollen geschildert wer¬
den. Erzählende Bilder- und Blätterfolgen
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0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
714
der Großmeister der Malerei und Zeich¬
nung mögen sich anschließen. Die ästhe¬
tischen Werte sollen vorwiegend durch
die Anschauung selbst und nicht durch
das Wort vermittelt werden.
Die Volkshochschule kann viel dazu
beitragen, den Lebensgenuß der auf¬
steigenden Volksschichten noch auf der
Höhe des Lebensalters durch Hebung
des Kunstverständnisses mehr als bis¬
her zu durchgeistigen und ihre Ab¬
schließung gegen den gebildeten Mit¬
telstand im Laufe der Jahre zu über¬
winden. Allein einen befriedigenden
Ausgleich werden wir kaum von der
unmittelbaren, sondern erst von der
mittelbaren, d. h. von der Kunsterzie¬
hung des heranwachsenden Geschlechts
durch die Schule und die Lehrerschaft
erhoffen dürfen. Schon auf der neuen
gemeinsamen Grundschule muß damit
begonnen und auf der Mittelschule so
gut wie auf der höheren fortgefahren
werden. Aber weder hier noch dort darf
Kunstgeschichte einen besonderen Lehr¬
gegenstand ausmachen. In jener bietet
vor allem die Heimatkunde den gege¬
benen Anknüpfungspunkt zur Belebung
der Freude und Liebe am Kunstwerk.
Kirchen und andere Baudenkmäler soll¬
ten noch fleißiger als bisher besucht
werden, wo Sammlungen bestehen,
auch diese. Während des Unterrichts
wären dann verwandte bedeutendere
Kunstschöpfungen im Bilde vorzuzei¬
gen. Zumal in der höheren Schule
würde dazu die Geschichtsstunde und
die Behandlung der deutschen Dich¬
tung in der Sprachkunde reiche Ge¬
legenheit gewähren, wie Burdach es
fordert, der in beiden Fächern die kul¬
turgeschichtliche Betrachtung eifriger
gepflegt sehen will. Ist aber der Lehrer¬
stand für diese Aufgaben schon aus¬
reichend vorbereitet? Man wird das im
allgemeinen leider wohl verneinen müs¬
sen. Wenn in der Schule auch keine
Kunstgeschichte vorgetragen werden
soll, so bedarf es doch zu solchem Füh¬
reramt der Beherrschung ihrer großen
Entwicklungszusammenhänge und einer
näheren Vertrautheit vor allem mit den
vaterländischen Denkmälerschätzen.
Daraus ergeben sich neue Forderungen
für die Lehrervorbildung einerseits und
für den akademischen Lehrbetrieb an¬
dererseits. Neuere Kunstgeschichte muß,
wie die der Antike bei den Altphilolo¬
gen, in den oben genannten Unterrichts¬
zweigen zum pflichtmäßigen Neben¬
fach bei der Staatsprüfung für das
Oberlehreramt erhoben und als solches
auch an den die Lehrerseminare er¬
setzenden Lehrinstituten der Zukunft
eingeführt werden, wenngleich hier wohl
in engerer, aber nicht strenger Beschrän¬
kung auf die deutsche Kunst und vorge¬
schichtliche Altertumskunde. Ferien¬
kurse, wie sie an unseren Universitäten
und Museen schon vor dem Kriege
öfters abgehalten wurden, können
allein diesen gesteigerten Ansprüchen
nicht genügen, vielmehr muß der aka¬
demische Lehrbetrieb auch mehr in der
Richtung der neuen Aufgaben des Leh¬
rerstandes ausgestaltet werden. Und das
kann auf ihn nur befruchtend wirken.
Die planmäßige Pflege der zusammen¬
fassenden Betrachtung ganzer Zeitalter
und des Stilwandels in allen Künsten
wird dadurch zum Haupterfordemis,
wie sie vor allem von Wölfflin wieder
aufgenommen worden ist, aber mit ein¬
dringlicherer Vertiefung in den kultur¬
geschichtlichen Gehalt. Überwiegen doch
im Lehrplan noch immer die auf die
fachwissenschaftliche Denkmälerfor¬
schung gerichteten Vorlesungen über
die einzelnen Künste und Künstler ne¬
ben öffentlichen schöngeistigen Licht¬
bildervorträgen. Wie diese dem allge¬
meinen Bildungsbedürfnis, so dienen
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716
0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
jene der Heranbildung des Nachwuchses
von Kunsthistorikern für unsere Hoch¬
schulen und Museen, in denen sie dann
gründlichere Schulung für Einzelge¬
biete der Sammlungen finden. Erwor¬
ben wird dabei in der Regel nur ein
Stückwissen, bestenfalls eine gewisse
Kennerschaft. Der wachsende Zudrang
zum Studium der Kunstgeschichte
mußte schon seit einem guten Jahr¬
zehnt Bedenken erwecken, weil er of¬
fensichtlich ein Überangebot an solchen
Hilfskräften zeitigte, das auch die Neu¬
gründungen von städtischen und Pro¬
vinzialmuseen nicht aufzunehmen ver¬
mochten. Immer häufiger wandten sich
die frisch gebackenen Doktoren nach
ein oder zwei Lehrjahren an den haupt¬
städtischen Sammlungen nicht nur der
Kunstschriftstellerei oder freier Lehrtä¬
tigkeit, sondern auch dem Kunsthandel
zu. Dieser aber bedient nicht mehr wie
im vorigen Jahrhundert die öffentliche
Sammelarbeit, ist vielmehr längst ihr
gefährlichster Nebenbuhler geworden,
der z. B. bei den letzten großen Ver¬
steigerungen bedeutender Privatsamm¬
lungen in Berlin manchen sehr er¬
wünschten Ankauf durch die unge¬
heuerliche Preistreiberei vereitelt hat.
Heute müssen alle wahren Freunde der
Kunst geradezu staatliche Schutzma߬
nahmen und Sperrgesetze gegen die
bisherige Unterstellung unseres in Pri¬
vathänden befindlichen Kunstbesitzes
unter ein unbeschränktes Warenrecht
verlangen. Die Gefahr ist aber um so
größer, als der Kunsthandel neuerdings
sogar tüchtigere Mitarbeiter unseren
Museen durch seine lockenden Gewinst¬
anteile und ungleich höheren Gehalts¬
sätze abwendig macht.
Dieser ungesunden Entwicklung kann
außer einer strengen Einschränkung des
Kunsthandels zumal mit dem Anslande
vor allem eine Umgestaltung des akade¬
mischen Unterrichts steuern. Er muß sich
fortan mehr an eine auf ideale Aufgaben
gerichtete Hörerschaft wenden. Und eine
solche wächst ihm durch die oben
aufgestellte Forderung im Lehrerstande
zu, während die verminderten Anstel¬
lungsaussichten von selbst den Zu¬
drang freiwilliger oder gar bezahlter
Hilfskräfte zu den Museen und damit
auch zum fachwissenschaftlichen Stu¬
dium der Kunstgeschichte eindämmen
müssen. Auch der Wissenschaft kann
dafür eine kunstgeschichtliche Schulung
der Lehrerschaft nutzbar gemacht wer¬
den, wenn dadurch deren Anteilnahme
an der heimatlichen Denkmalpflege und
Kunstforschung gefördert würde, wie
sie in Italien in vorbildlicher Weise
von manchem Pfarrer oder Lehrer im
Nebenberuf ausgeübt wird.
Zu alledem würde freilich eine rein
theoretische Vorbildung nicht ausrei¬
chen. Das kunstgeschichtliche Urteil muß
auch am Kunstwerk selbst kritisch ge¬
schult werden. Daraus ergibt sich dann
die zweite im bisherigen akademischen
Lehrbetrieb noch nicht genügenderfüllte
Forderung. Er muß eine innigere Ver¬
bindung mit unseren Museen eingehen,
die bis heute auffallend wenig von ihm
in Anspruch genommen werden. Die
Erklärung dafür wird man zum guten
Teil in dem Umstande erblicken dürfen,
daß sich ihm gerade während des ste¬
tigen Wachstums der öffentlichen
Kunstsammlungen das Lichtbild als be¬
quemes Hilfsmittel darbet, um die An¬
schauung jedes Kunstwerkes unmittel¬
bar mit dem Wort verbinden zu kön¬
nen. Diesem Vorteil steht freilich der
weit größere Nachteil gegenüber, daß
das Lichtbild die Form nur unzurei¬
chend und die Farbe gar nicht wieder¬
gibt.
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718
O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
2 .
Aber hier erhebt sich nun auch die
schwerwiegende Frage, ob die Museen
in ihrer heutigen Zusammensetzung
schon ihre Bestimmung als Lehrstätten
vollauf zu erfüllen vermögen. Sie ha¬
ben im letzten Menschenalter in den
Haupt- und anderen Großstädten
Deutschlands eine unschätzbare Berei¬
cherung erfahren. Und doch wird man
sich bei aller Bewunderung für die füh¬
renden Persönlichkeiten eingestehen dür¬
fen, daß sie in der angedeuteten Rich¬
tung noch ergänzungsbedürftig sind. Mit
dem Ausbau gewählter Schausammlun¬
gen hat die seinerzeit allgemein ver¬
langte Einrichtung von Lehrsammlun¬
gen nicht gleichen Schritt gehalten. Am
klarsten, wenngleich noch ziemlich gün¬
stig liegen die Dinge für die Plastik, aber
auch da sehr ungleich in den verschie¬
denen Gebieten. Die Gipssammlungen,
deren es zur Veranschaulichung der
Hauptwerke jedes Zeitalters, zumal der
monumentalen, neben der gegebenen
Auslese von Urbildern der Stein- und
Tonbildnerei sowie der Holzschnitzerei
und Kleinplastik bedarf, sind bei der
Antike wohl am vollständigsten er¬
gänzt worden, von Bildwerken der Re¬
naissance ist selbst in größeren Provin¬
zialmuseen wie in Köln und Braun¬
schweig nur eine nicht allzu reichliche
Auswahl und nicht einmal in Berlin
und Dresden der lückenlose Bestand
der in der Charlottenburger Formerei
vorrätigen, geschweige denn der bei
Lelli in Florenz erhältlichen Abgüsse
vorhanden. Das Gleiche gilt von der
Monumentalplastik des deutschen Mit¬
telalters. Weder das Germanische Mu¬
seum in Nürnberg noch das Bayrische
Nationalmuseum noch das Kaiser-
Friedrich-Museum besitzt eine voll¬
ständige und wohlgeordnete Abgu߬
sammlung, wenn auch hier neuerdings
mehr für ihre baldige Ergänzung ge¬
schehen ist. Auch steht hier bereits
eine durchgreifende Neuordnung der
Sammlung bei ihrer Überführung nach
dem in der Entstehung begriffenen
Deutschen Museum über Jahr und Tag
in erfreulicher Aussicht. Wie in die¬
sem Falle, so müssen wir überhaupt
an dem bisher in unseren deutschen
Museen befolgten Grundsatz fesihalten,
daß jeder Abteilung ihre besondere
Lehrsammlung von Gipsabgüssen an¬
zugliedern ist. Mit ihrer Vereinigung
in einem weiter abgelegenen eigenen
Museum wie im Pariser Trocadero
wäre dem Lehrzweck wenig gedient.
Denn gerade wo einzelne Arbeiten gro¬
ßer Meister wie Donatello oder Michel¬
angelo, Peter Vischer oder Adam Krafft
vorhanden sind, muß auch die An¬
schauung ihrer Hauptwerke im Abguß
leicht mit jenen verknüpft werden kön¬
nen. Zur Forderung des planmäßigen
Ausbaues der Abgußsammlungen kommt
aber eine weitere hinzu, die schon vor
Jahren lebhaft erörtert und völlig ge¬
klärt worden ist. Die Gipse sollen dem
Beschauer nicht in ihrer kreidigen Na¬
turfarbe, sondern in einer den Stoff der
Urbilder wiedergebenden oder doch an¬
deutenden Tönung, vor allem Bronze-
bildwerke in ihrem Metallcharakter, dar¬
geboten werden. Bei der Wiederauf¬
stellung der Renaissanceabgüsse im
Kaiser-Friedrich-Museum hat sich die¬
ses Verfahren vor einigen Jahren durch¬
aus bewährt.
Ungleich mehr als bei der Plastik
ist für die Lehrsammlungen bei der
Malerei nachzuholen, obgleich der
Reichtum unserer großstädtischen Ge¬
mäldegalerien auf den ersten Blick aus¬
reichenden Lehrstoff darzubieten
scheint. Allein gerade der Überfluß hat
hier zu einer vom Gesichtspunkt der
Kunsterziehung nicht ganz einwand-
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’ .Jl .AIÜJ' m,wy «,,«,wUJ|P Ml P4^,.-< U' ’
719 0. Wulf!, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
freien Ausgestaltung der Schausamm¬
lungen geführt. Sie umfassen eine vor¬
zugsweise den verwöhnten Geschmack
des Kunstkenners vollauf befriedigende
Auslese künstlerischer Höchstleistun¬
gen, während geringere Arbeiten weni¬
ger bekannter Künstler, und zumal das
namenlose Schulgut größtenteils in den
unausgestellten Bestand oder als Leih¬
gaben an Provinzialmuseen verwiesen
sind. Zur Veranschaulichung einzelner
Schulen und Stilphasen, zumal der äl¬
teren Malerei, kann der Hochschullehrer
vielfach die Belege nur aus diesem
Vorrat herausgreifen. Eigentliche Lehr¬
sammlungen sind aber bisher nur an
ein paar kleineren Universitäten aus
solchen Leihstücken zusammengestellt
worden, wo sie jedoch z. T. nur als
verstreute Proben, z. T. wieder in über¬
flüssiger Anhäufung gleichartiger Ar¬
beiten ihren Zweck nur mangelhaft er¬
füllen können. Einen viel höheren Wert
als in solcher Verzettelung würden sie
als Hilfsmittel des fachwissenschaft¬
lichen und gelegentlich auch des allge¬
meinen Kunstunterrichts in geschlosse¬
ner Vereinigung in einer hauptstädti¬
schen Lehrsammlung gewinnen. Die
letztere darf keinesfalls um der auswär¬
tigen willen benachteiligt werden,
ohne daß jene darum gänzlich der Leih¬
gaben beraubt zu werden brauchen.
In den öffentlichen Provinzialmuseen
verfehlen sie freilich ihren Zweck nur
allzu leicht und führen oft zu falscher
Bewertung der älteren Kunst. Da wä¬
ren sie besser durch hochwertige Ko¬
pien hervorragender Meisterwerke zu
ersetzen, wie solche z. B. bei der Er¬
werbung bedeutender Gemälde im Auf¬
träge unserer Museen deren früheren
Besitzern wiederholt als Ersatzstücke
nach Italien und nach Spanien gelie¬
fert worden sind. Auf alle Fälle tut
eine baldige Neusichtung der ausge¬
liehenen Bestände und eine Zusammen¬
fassung des wertvollsten Schulguts in
einer hauptstädtischen Lehrsammlung
not.
Es bleibt aber noch eine breitere
Lücke in unseren Museen zu schließen,
wenn man ihre höhere Aufgabe darin
erblickt, daß sie ein möglichst umfas¬
sendes Bild der allgemeinen Kunstent¬
wicklung geben sollen. Diesen An¬
spruch müssen wir aber zum minde¬
sten bei den Hauptmuseen Deutsch¬
lands erheben. So wenig die Lehrsamm-
sammlungen der Gipsabgüsse für die
Plastik, können sie guter farbiger Ko¬
pien zur Veranschaulichung der monu¬
mentalen Malerei entraten, da wir in
manchen Kunstkreisen von ihr die ein¬
zigen oder doch die weitaus bedeu¬
tendsten malerischen Überreste besitzen.
Auf den verschiedenen Forschungsge¬
bieten wird man dabei nicht nach dem
gleichen Plan, sondern nach dem
Grundsatz vorgehen müssen, daß den
Lehrsammlungen eine um so reich¬
lichere Folge von Nachbildungen hin¬
zuzufügen sei, je spärlicher die Zahl
der erhaltenen Denkmäler ist oder je
schwerer sie uns zugänglich sind. Über¬
all, wo erst die Archäologie diese sozu¬
sagen an das Tageslicht zieht, handelt
es sich meist zugleich um ein Ret¬
tungswerk. ln dieser Richtung konnte
beispielsweise in der altchristlichen und
byzantinischen Abteilung des Kaiser-
Friedrich-Museums im Laufe der Jahre
dank günstiger Gelegenheit eine lehr¬
reiche Kopienfolge angelegt werden,
die ihrer späteren Ausstellung nach
Freiwerden der heute noch von den
deutschen Bildwerken besetzten Räume
harrt. Den Hauptbestand bilden die von
zwei wohlbekannten Berliner Künst¬
lern während der Ausgrabungen in Mi¬
let unter Th. Wiegands Leitung auf¬
genommenen Höhlenmalereien griechi-
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72 !
O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
722
scher Einsiedler aus dem Latmosge-
birge. Ihnen schließen sich einige Auf¬
nahmen jüngerer kirchlicher Wandge¬
mälde an, die bei Gelegenheit des maze¬
donischen Feldzuges von einem der
deutschen Truppe zugeteilten Architek¬
ten mit Hilfe eines Malers ausgeführt
worden sind. Ausgestellt ist bereits seit
kurzem eine Anzahl in der Technik der
Vorbilder angefertigter Nachbildungen
altchristlicher Wandmosaiken aus Rom
und Ravenna. In einem soeben in der
Museumskunde erscheinenden Aufsatz
wird die Bedeutung dieser Lehrsamm¬
lung näher gewürdigt.
Ähnliche, aber umfangreichere Pflich¬
ten der Denkmalpflege bleiben noch un¬
seren großen Museen vaterländischer
Kunst in Nürnberg, Berlin und Mün¬
chen zu erfüllen. Da gilt es, sich ge¬
genseitig ergänzende Sammlungen ge¬
nauer farbiger Aufnahmen der nicht
allzu zahlreichen Überreste deutscher
mittelalterlicher Monumentalmalerei an¬
zulegen, wie das für die der Rheinpro¬
vinz in Bonn geschehen ist. Sind doch
diese unersetzlichen Denkmäler von der
Gefahr zufälliger Vernichtung bedroht
und z. T. sogar sicherem, wenngleich
langsamem Verfall durch äußere Ein¬
flüsse geweiht. Photographische Auf¬
nahmen werden ihrer dekorativen Far¬
benwirkung und meist, ihres viel zu
kleinen Maßstabes wegen, nicht einmal
der zeichnerischen gerecht. Die Gesamt¬
aufnahmen brauchen zwar keineswegs
durchweg in der Größe der Urbilder
hergestellt zu werden, aber doch immer
noch in einem wirkungsvollen Ma߬
stabe. Die schönsten Bilder aber oder
wenigstens Ausschnitte und Hauptge¬
stalten aus diesen sollten auch in dieser
Hinsicht in der Lehrsammlung getreue
Wiedergabe finden. Bescheidung bei
gleichem Verfahren erscheint gegenüber
der Wandmalerei des übrigen abend¬
ländischen Kunstkreises geboten und
zulässig. Kommen doch alle Kultur¬
länder selbst für die Denkmalpflege
auf. Dagegen werden wir nicht darauf
verzichten dürfen, bei gegebener Ge¬
legenheit Aufnahmen einzelner Haupt¬
werke des Monumentalstils aus Frank¬
reich, dem Mutterlande der Gotik, und
aus Italien zu beschaffen, wo sich nach
wiederholten Anleihen bei der griechi¬
schen Mosaik- und Freskomalerei im
9., 11. und 13. Jahrhundert aus deren
Kreuzung mit der gotischen Kunstströ¬
mung die neue nationale Stilbildung
vollzieht und wo die Wandmalerei bis
in das Cinquecento dem Maler die höch¬
sten Aufgaben stellt. Warum sollten
wir nicht beispielsweise von Giottos
Tanz der Salome und von Masac-
cios Zinsgroschen sowie den Schöp¬
fungsszenen der Sixtinischen Decke,
der Disputa und Schule von Athen Ge¬
samtaufnahmen etwa in halber Größe
und Bildausschnitte im Maßstabe der
Urbilder unseren Lehrsammlungen ein-
fügen? Im Southkensington-Museum in
London ist das längst geschehen. Nur
werden wir heute weit höhere Ansprüche
an die stilgetreue Wiedergabe dieser
Meisterwerke stellen. Die Vorführung
der gesamten Bilderfolgen kann dem
Bildwerfer überlassen bleiben. Aber
selbst wenn die Farbenphotographie zu
größerer Leistungsfähigkeit als vor dem
Weltkriege vervollkommnet werden
sollte, sind uns solche Nachbildungen
zu dauernder Betrachtung zum minde¬
sten sehr erwünscht. Das Hauptgewicht
wird dabei immer auf die ältere Kunst
zu legen sein. Und vor dem Barock
wird man im allgemeinen haltmachen
dürfen, nicht nur, weil wir aus diesem
Zeitalter selbst auf deutschem Boden
noch beträchtliche Kunstschätze bewah¬
ren, sondern auch, weil der Monumen¬
talstil dieser Zeit den geschlossenen
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723 0- Wulff, Neue Aufgaben
und gehaltvollen Bildcharakter der rein
dekorativen Wirkung zuliebe mehr und
mehr aufgibt.
3.
Gegen diese Vorschläge wird sich
ohne Zweifel mancher Widerspruch er¬
heben — auch aus den Kreisen der zu
ihrer Verwirklichung Berufenen. Man
wird sie vielleicht mit einem heute be¬
liebten Schlagwort als „uferlos“ abtun
zu dürfen glauben. Solchen Behauptun¬
gen läßt sich die Spitze leicht im vor¬
aus abbrechen durch Widerlegung der
zu erwartenden beiden Haupteinwände.
Es wären erstens dazu beträchtliche
Raumerweiterungen erforderlich, und
wir litten doch ohnehin an Raumman¬
gel in unseren Museen. Allein es wird
dessen in den meisten Fällen keines¬
wegs bedürfen. Vielmehr vermögen die
schon bestehenden Gipsabteilungen eine
Anzahl größerer Kopien von Wandge¬
mälden aufzunehmen, die über den Ab¬
güssen gerade den ihnen zukommenden
Platz erhalten und in die Lehrsamm¬
lung eine anregende Abwechslung brin¬
gen würden, wie sie in den Schau¬
sammlungen seit 15 Jahren nach dem
Vorbilde des Kaiser-Friedrich-Mu¬
seums allenthalben erstrebt und erzielt
wird. Die kleineren Gesamtaufnahmen
aber ließen sich teilweise in den frei
bleibenden Zwischenräumen in Augen¬
höhe des Beschauers, z.T. aber auch in
den Studiensälen unterbringen. Daß
jede Hauptabteilung des Museumseinen
solchen Raum besitzen muß, in dem
nicht nur den Hilfsarbeitern desselben,
sondern auch jedem andern, der einen
ernsten Arbeitszweck verfolgt, erlaubt
sein soll, seine Beschäftigung mit den
Kunstwerken an Ort und Stelle durch
literarische Arbeit zu ergänzen, ist
aber ebenfalls eine nachdrücklich zu
erhebende und nicht allzu schwer er-
der öffentlichen Kunstpflege
füllbare Forderung. Es braucht nicht
überall ein so geräumiger Saal zu sein,
wie ihn das Berliner Museum glück¬
licherweise schon besitzt. Mit aller Ent¬
schiedenheit aber muß der naheliegende
Gegenvorschlag abgelehnt werden, die
gesamten Lehrsammlungen den Uni¬
versitäten zu überlassen. Nur an klei¬
neren ( Universitätsstädten, wo neben
diesen keine öffentlichen Kunstmuseen
vorhanden sind, wäre ihre Erweiterung
auf dem bezeichneten Wege freudig
zu begrüßet. In unseren Großstädten
hingegen würde sie eine unfruchtbare
Trennung der stilverwandten Denkmä¬
ler und Nachbildungen und überdies
entweder eine Überfüllung der verfüg¬
baren akademischen Räumlichkeiten
oder eine unnötige Vermehrung der
erforderlichen Gebäude beanspruchen.
In Berlin kann nur die äußerste Raum¬
not und die Nähe der Universität die
schon erfolgte Abtrennung der Gips¬
sammlung von den antiken Bildwerken
rechtfertigen. Und doch haben schon
hier die der ersteren angewiesenen Teile
des neuen Flügelgebäudes nur ausge¬
reicht, um die vorhellenistische Kunst
in allerdings vorbildlicher Weise auf¬
zustellen, während die jüngere und
vollends die römische Zeit schon etwas
zu kurz gekommen ist. Der Neubau
des Deutschen Museums wird glück¬
licherweise die Zusammenfassung der
Lehr- und Schausammlungen des christ¬
lichen Zeitalters in diesen und in den
frei werdenden Räumen des Kaiser-
Friedrich-Museums ermöglichen. Wer
die höchste Aufgabe der Museen nicht
nur in der Darbietung der besten
Kunstschöpfungen der Vergangenheit
für den Kunstgenuß und die Allge¬
meinbildung des lebenden Geschlechts
erblickt, sondern sie als Schatzhäuser
der wichtigsten Kulturzeugnisse der
Geistesgeschichte ansieht, die ihre Ent-
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725
726
O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
stehung und ihr Wachstum der fort¬
gesetzten Arbeit der Wissenschaft ver¬
danken und ihr deshalb auch ein aus¬
giebiges Gastrecht ein räumen müssen,
wird diese Lösung allein gutheißen
können.
Als zweites Bedenken gegen die oben
verlangte Ausgestaltung der Lehrsamm¬
lungen wird man wohl die schon ein¬
getretene Beschränkung der Geldmittel
vor allem der staatlichen Museen gel¬
tend machen. Sie müßten in Zukunft
erst recht der Vervollständigung der
Sammlungen durch Original werke Vor¬
behalten bleiben. Daß dies nach wie
vor unsere erste Sorge sein muß, soll
jedoch durchaus nicht bestritten wer¬
den, — aber nicht unsere einzige darf
sie sein. Auf Jahre hinaus wird es kaum
möglich sein, bei dem Stande unserer
Währung und der ungemessenen Preis¬
steigerung bedeutende Ankäufe zumal
auf dem ausländischen Kunstmarkt zu
bewerkstelligen. Die meisten Abteilun¬
gen der öffentlichen Museen werden da¬
her — am besten noch mit Ausnahme
der Sammlung deutscher Kunst — wohl
jn die Lage kommen, einen Teil deraus-
geworfenen Jahresbeträge sparen zu
können. Diese Ersparnisse aber würden
besser zur Erhöhung ihres Lehrwerts
angewandt, als für unbestimmte Zwecke
aufgespeichert. Dazu kommt, daß der
Ausbau der Gipssammlungen der
Staatsmuseen nicht viel mehr als die
Deckung der Selbstkosten der Charlot¬
tenburger Formerei erfordern und zu¬
gleich der Förderung ihres Betriebes
dienen würde. Kopien von Wandma¬
lereien werden im freien Angebot nicht
viele Käufer anlocken und deshalb
schwerlich große Opfer benötigen.
Auch soll sich die Ergänzung der Lehr¬
sammlungen in dieser Richtung über
eine Reihe von Jahren erstrecken. Und
dazu eröffnet sich ein Weg, der den
Museen die Erwerbung solcher Nach¬
bildungen mit ziemlich geringen Un¬
kosten gestatten würde. Wiegands Vor¬
gehen bei der Aufnahme der Latmos-
fresken bietet die Anregung, an den
Hochschulen für bildende Kunst eine
regelmäßige Elinrichtung zu schaffen,
wie sie besonders in Rußland der Wis¬
senschaft und den Kunstsammlungen
schon seit Jahren wertvolle Dienste ge¬
leistethat. Die Erteilung von Reisestipen¬
dien an die Zöglinge der Petersburger
Kunstakademie nach vollendeter Aus¬
bildung ist dort wiederholt mit dem
Aufträge verknüpft worden, stilgetreue
Aufnahmen wichtiger Denkmäler des
byzantinischen Monumentalstils heim¬
zubringen. Dieses Verfahren erscheint
durchaus nachahmenswert, wenn den
jungen Künstlern dabei ein gewisser
Spielraum in der Auswahl der aufzu¬
nehmenden Kunstwerke belassen bliebe.
Damit berühren wir einen anderen
Zweig der öffentlichen Kunstpflege,
dem noch eine kurze Erörterung ge¬
widmet sei.
4.
Für die Künstlererziehung, mit
der es diese letzten Ausführungen zu tun
haben, scheint der eben ausgesprochene
Gedanke vielleicht auf den ersten Blick
eine überflüssige Belastung zu bedeu¬
ten. Die Malerei der Gegenwart haftet
ja fast ausschließlich am Tafelbilde und
bewegt sich in einer viel freieren Na¬
turanschauung als aller strenge Monu¬
mentalstil der älteren Kunst. Und doch
führt eine schärfere Prüfung der Sach¬
lage zur gegenteiligen Erkenntnis. Im
Kulturwandel jeder Zeit treffen eben
stets gleichartige Bestrebungen zusam¬
men. Die neueste Kunstentwicklung war
bereits seit einem Jahrzehnt zu einer
gewissen Erschöpfung des malerischen
Illusionismus der impressionistischen
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r VT' 1 ' Jr '
727
i ! ’ 7W *'
O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
728
Strömung gelangt. Vorbereitet durch
die koloristischen Wirkungen des soge¬
nannten Neoimpressionismus, trat um
1910 die neue Richtung des Expressio¬
nismus mit ihren gegensätzlichen künst¬
lerischen Absichten geschlossen hervor.
Weite Kreise der Kunstfreunde stehen
ihr noch heute mit nicht ganz unberech¬
tigtem Mißtrauen gegenüber. Krankt sie
doch noch an viel Theorie und gewalt¬
samem Sichzurückschrauben auf künst¬
lerische Urformen. Trotzdem bezeichnet
sie eine Wendung des Kunstwollens
zu einer wohlberechtigten künstleri¬
schen Gesinnung, die nach freier Phan¬
tasiegestaltung drängt und an Stelle
beobachtender Naturnachahmung die
Wiedergabe inneren Schauens setzt. Sie
unterwirft die Erscheinungswelt einer
Stilisierung durch lineare und koloristi¬
sche Gefühlssymbole, wie es die Kunst
früherer Zeitalter wiederholt mehr oder
weniger bewußt getan hat, so z. B. auch
die altchristliche Mosaikmalerei und der
byzantinische Monumentalstil. Gerade
die deutsche Kunst neigt von jeher
dazu, und zwar nicht nur die mittel¬
alterliche. Altdorfer und Grünewald,
Schwind und Böcklin verfolgen und
verwirklichen expressionistische Ab¬
sichten. Die reiche dichterische Bild¬
phantasie unserer jüngeren deutschen
Künstler, allen voran Max Klingers,
sucht auch mit Vorliebe ihren Aus¬
druck im Zeichnerischen. Wir erfreuen
uns zur Zeit eines Wiederaufblühens
der bescheideneren zeichnenden Künste
des Holzschnittes unter der Führung
der Expressionisten, aber auch der
schlichten Silhouettenkunst. Eine Aus¬
stellung im Kupferstichkabinett zeigt
uns Arbeiten von jenen, die Schatten¬
bilder Dieffenbachs u. a. begegnen uns
oft als beliebter Wandschmuck im
Hause des gebildeten Mittelstandes. Alle
diese Bestrebungen sind innerlich mit¬
einander, aber auch mit der Monumen¬
talmalerei verwandt, deren Flächenstil
der Linie den weitesten Spielraum und
die stärksten Wirkungen gewährt. Sie
in die Bahnen einer gesunden Entwick¬
lung zu leiten, ist eine Hauptaufgabe
der Kunstpflege und, wie das geschehen
kann, eine Hauptfrage der Künstler¬
erziehung.
Um die Vorbildung der Künstler ist
in den letzten Jahren lebhaft gestritten
worden. Gegen einen in der „Woche"
1916 ausgesprochenen Vorschlag W.
v. Bodes, daß in Zukunft alle Künstler
zuerst auf Kunstgewerbeschulen aus¬
gebildet werden und nur die Meister¬
ateliers der Akademien für die zur
hohen Kunst begabten bestehen blei¬
ben sollten, trat A. Kampf ebenda für
das Daseinsrecht der Kunstakademien
ein. In einer durch W. v. Seidlitz ver¬
anstalteten Umfrage vereinigte sich die
Mehrzahl der Künstler und Kunstge¬
lehrten auf die Forderung einer gemein¬
samen Vorschule, in der neben dem
Zeichenunterricht und einer vorwiegend
handwerklichen technischen Ausbildung
Raum-, Formen- und Farbenlehre vor¬
getragen werden sollte. Aber mit Recht
verlangten einsichtsvolle Künstler, vor
allem Gr. Kalckreuth, H. Olde und
Bantzer auf der einen und von den
Kunstgewerblern R. Meyer und B. Paul
auf der anderen Seite, größtmögliche
Freiheit der Betätigung der Schüler in
dieser Elementarklasse. Und einzelne
der ersteren befürworteten auch mit
Kampf die Erhaltung der akademischen
Fachklassen. Nach Beendigung der Vor¬
schule seien die verschiedenen Bega¬
bungen diesen oder einer Kunstge¬
werbeschule zuzuführen.
In der Tat ist es zwar eine verbreitete,
aber durchaus irrige Annahme, daß die
Begabung für hohe Kunst nur eine höhere
Stufe der Begabung für angewandte, d.h.
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O. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
730
dekorative, Kunst sei. Sie beruht auf
einer unbegründeten Verallgemeinerung
der kunstgeschichtlichen Tatsache, daß
die großen Meister der Frührenaissance
noch aus den handwerklichen Künst¬
lerzünften des Mittelalters hervorgegan-
sind und daß ein Ghiberti und Ver-
rocchio und vielleicht sogar Dürer sich
noch im Kunstgewerbe betätigt haben
und daß sie und selbst Michelangelo
sowohl gemalt als auch modelliert ha¬
ben. Allein in seiner Anschauungsweise
bleibt doch ein jeder von ihnen entweder
Bildhauer oder Maler wie heutigenta-
ges ein Klinger. Dem Handwerk verdan¬
ken sie nur das technische Können,
während ein B. Cellini auch in seinen
großen Arbeiten den dekorativen Klein¬
meister verrät. Die klassische Malerei
und Plastik des Cinquecento und voll¬
ends die Kunst desi Barock wurzelt be¬
reits in der durch Lionardo und Michel¬
angelo angebahnten unmittelbaren Er¬
ziehung zur freien Kunst.
Wenn die Unterschiede der Kunstbe¬
gabung von so vielen Künstlern und
Kunstgelehrten verkannt werden, so liegt
das freilich auch an der mangelhaften
Einsicht in die psychologischen Grundla¬
gen des künstlerischen Schaffens, die bei
diesen wie bei jenen nodh heute herrscht.
Hier hat die Pädagogik durch die von
der Kunstwissenschaft noch ganz ver¬
nachlässigte Beschäftigung mit der Kin¬
derkunst den Vorsprung gewonnen.
Den Untersuchungen des Psychologen
William Stern und des Pädagogen
Georg Kerschensteiner u. a. m. verdan¬
ken wir neben anderen wichtigen Auf¬
schlüssen, auf die schon der metho¬
dische Zeichenunterricht in den Schu¬
len begründet werden konnte, die Er¬
kenntnis, daß sich bereits auf früher
Altersstufe deutlich mehrere Bega¬
bungstypen sondern, und zwar eine
reine Gedächtnisbegabung von der star¬
ken Befähigung zur Auffassung des
Naturvorbildes sowie von einer die Er¬
innerungsbilder frei umgestaltenden
Phantasiebegabung. Diesen drei sowohl
in der zeichnerischen wie in der bild¬
nerischen Betätigung hervortretenden
Richtungen steht wieder eine — beim
weiblichen Geschlecht überwiegende —
dekorative bzw. ornamentale Sonderbe¬
gabung gegenüber. Es kann also schon
in der Schule die Berufsberatung für den
angehenden Künstler auf der Oberstufe
des Zeichenunterrichts stattfinden. Die
Scheidung der verschiedenen Bega¬
bungsrichtungen in der gemeinsamen
Vorschule der Akademien und der Kunst¬
gewerbeschulen erscheint danach kei¬
neswegs so schwierig, wie von einzel¬
nen Künstlern in der Umfrage befürch¬
tet wurde, vorausgesetzt, daß ihr Leiter
die erforderliche Vertrautheit mit den
Ergebnissen der psychologischen und
der Kinderkunstforschung besitzt. Die
Kunsterziehung muß daher für die Her¬
anbildung solcher Zeichenlehrer durch
Lehraufträge für systematische Kunst¬
wissenschaft an den Universitäten und
Kunstakademien Sorge tragen. Eine Mi߬
leitung in der Elementarklasse könnte
sehr viel Unheil anrichten, denn es wird
niemals gelingen, die zur freien Kunst
Begabten zu tüchtigen Kunstgewerblern
zu erziehen und umgekehrt und so das
Kunstproletariat der Unbegabten aus¬
zurotten, wie schon Max Klinger aus¬
gesprochen hat.
Besonders wichtig erscheint nun für
die nächste Zukunft das Herausfinden
und die zielbewußte Ausbildung der
schöpferischen Phantasiebegabungen für
die Monumentalmalerei. Nur dadurch
können die eigenbrötlerischen Verirrun¬
gen des Expressionismus überwunden
werden. Dazu genügt aber nicht Kompo¬
sitionslehre und technische Schulung.
Sind doch sogar unsere größten Dich-
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0. Wulff, Neue Aufgaben der öffentlichen Kunstpflege
732
termaler Böcklin und Thoma wiederholt
an der Aufgabe der Wandmalerei ge¬
scheitert, während Feuerbachs Gastmahl
des Plato seine monumentale Wirkung
noch dem Zusammenhang mit der künst¬
lerischen Überlieferung des Kartonstils
der Klassiker und Romantiker verdankt.
Auch die zeitgenössische Gedanken¬
kunst muß wieder an das Vorbild und
die Grundsätze der großen Meister¬
werke des Monumentalstils aller Zeit¬
alter anknüpfen, um die fruchtbaren
Ansätze zu einem neuen Flächenstil zu
entwickeln. Daraus ergibt sich, daß die
Aufträge, die unsere öffentliche Kunst¬
pflege den werdenden Künstlern auch
zu Nutz und Frommen der Wissen¬
schaft und Kunsterziehung zu stellen
hätte, durchaus in der Richtung der
jüngsten Kunstentwicklung liegen.
Kunsterziehung und Künstlererzie¬
hung reichen einander hier die Hand.
Die Pflichten der staatlichen Fürsorge
für beide würden in den oben gezo¬
genen Grenzen ihre Erfüllung finden.
Allein der schaffenden Kunst der Ge¬
genwart wäre damit noch nicht ge¬
nügt. Und wozu soll alle Bemühung
um den Monumentalstil dienen, wird
man zweifelnd fragen, wenn ihm doch
keine großen Aufträge zuteil werden
können? In der Tat, am rechten Felde
der Betätigung hat es der expressio¬
nistischen Kunstrichtung bis heute ge¬
fehlt. Erst auf großen Wandflächen
würden die Liniensprache und die Far¬
benklänge der Phantasiegebilde und der
Ideallandschaften eines Pechstein und
Nolde zu ihrer vollen Wirkung kom¬
men. Im Tafelbilde wirken sie nur
allzuleidit wie grillenhafte Einfälle.
Aber auch die höheren Aufgaben mü߬
ten den Künstlern von einem Auftrag¬
geber gestellt werden. Jeder Monumen¬
talstil der Vergangenheit ist auf dieser
gesunden Grundlage erwachsen. Hätte
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der Weltkrieg einen siegreichen Aus-,
gang für uns genommen, so wäre*i.wohl
der Kunst mancher schöne Staatsiiuf-
trag zugefallen. Der Gewaltfried« _ha_t
auch sie um die besten Hoff.
betrogen. Von einem unterdrückte
verarmten Staat darf sie keine gro߬
mütige Förderung beanspruchen. Auch
die Kirche kann ihr keine reichere Be¬
schäftigung geben, üben doch ihre
Idealgestalten nur in den katholischen
Gebieten unseres Vaterlandes auf die
Volksseele eine tiefere Wirkung.
Und doch fehlt es uns so wenig an dem
gemeinsamen Ideal wie an zeugenden
Kräften zu seiner künstlerischen Ge¬
staltung. Aus dem Volkstum entsprin¬
gen diese, und im Volkstum ist jenes
beschlossen. Zu seiner Pflege aber sind
an erster Stelle die Gemeinden beru¬
fen. Wie Preußen nach dem Zusam¬
menbruch von 1806 durch den Frei¬
herrn v. Stein auf dem Wege ihrer
Verselbständigung wiederaufgerichtet
wurde, so muß auch heute von ihnen
die Gesundung des Wirtschaftslebens
und der Gesellschaftsordnung aus¬
gehen. Sie werden durch gerechte
steuerliche Erfassung der steigenden
Bodenwerte zuerst imstande sein, ihren
Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen
und größere Mittel für die öffentliche
Kunstpllege bereitzustellen, die dem
Volksgedanken dienen soll. Ihre kräf¬
tige Unterstützung verdient vor allem
Hand in Hand mit dem Volkshochschul¬
wesen eine schon im letzten Kriegsjahr
erwachte, leider aber durch die Not
der Zeit heut schwer gehemmte Bewe¬
gung. Es ist der Volkshausbund, der den
Gemeinden schon das richtige Ziel ge¬
wiesen hat, Lehr- und Kunststätten zu
schaffen, in denen unserem Volke ne¬
ben wissenschaftlicher Bildung die
Schätze der deutschen Dichtung und
Tonkunst geboten und erschlossen
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sen wer-
. . ..I
733
Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
734
den sollen. Das ist der Platz, an dem
auch die bildende Kunst in der schlich¬
ten, aber eindrucksvollen Sprache der
Wandmalerei am vernehmlichsten zu
frechen ^ nn - Von ihrem Auftrag-
"° . der Gemeinde, ist damit auch
ihre höhere Aufgabe bereits gestellt.
Zum Volke sprechen soll sie von ihm
selbst, von allem, was es bewegt, von
seiner Arbeit und von seinen Freu¬
den. Von allen heimatlichen Erinne¬
rungen und von der Schönheit der
deutschen Heimat, auch von seinen Lei¬
den und seinem Heldenkampfe soll sie
nicht schweigen, des Blutopfers un¬
serer Jugend auf den Schlachtfeldern
Flanderns wollen wir nicht vergessen.
Wenn sich die tiefsten Wunden'un¬
seres Vaterlandes erst geschlossen ha¬
ben, wird auch die Wandmalerei von
dem Ringen um unsere Selbstbehaup¬
tung in höherem Tone sprechen kön¬
nen als auf den Kriegsausstellungen,
'die so wenig von idealistischer Auffas¬
sung des Kampfes ausstrahlten. Vor
allem aber soll die Kunst in den Volks-
häusem die Gestaltenwelt unserer gro¬
ßen Dichter schildern, deren Worte in
denselben Räumen an das Ohr des
Volkes schlagen. Aus der „Glocke“ und
aus „Hermann und Dorothea“, aus
„Reineke Fuchs“ und aus dem deut¬
schen Märchen kann sie noch immer
frische Bildgedanken schöpfen, von
Siegfried und von Hermann, von Tann¬
häuser und Lohengrin, von Teils und
von Götzens Taten erzählen, von dem
Großen Kurfürsten und von Friedrich
berichten, die Erinnerung an die Be¬
freiungskriege und an des Reiches
Gründung wiederbeleben. Keinen un¬
serer großen Führer soll sie verleug¬
nen. am wenigsten aber der Geistes¬
helden Luther und Lessing, Kant und
Fichte vergessen. In der Verkörperung
ihrer Gestalten für die Volkshäuser er¬
wachsen auch der Bildnerei neue Auf¬
gaben. Wenn wir vor dem drohenden
Niedergange unserer Geisteskultur be¬
wahrt bleiben wollen, so muß dieser
geistige Besitz mit seinen sittlichen Wer¬
ten Gemeingut aller Berufsklassen wer¬
den. In den Volkshäusern soll das Bür¬
gertum und die Arbeiterschaft wieder
zusammenwachsen zu einem Volkskör¬
per. Dazu soll uns die Volkshochschule
und die Kunst verhelfen. Daß sie es ver¬
mag, solche Macht über die Geister der
Masse zu gewinnen, dessen mögen uns
wiederum Schillers Worte an „die
Künstler“ getrosten:
„die von dem Ton, dem Stein bescheiden
aufgestiegen,
die schöpferische Kunst umschließt mit stil¬
len Siegen
des Geistes ungemess'nes Reich.“
Tragik nach Schopenhauer und von heute.
Von Oskar Walzel.
Dichtung der Ausdruckskunst bedeutet
Rückkehr zu Anschauungen Schopenhauers.
Mitleid mit dem Menschen, Mitgefühl mit
dem Tiere beherrschen einen guten Teil dör
Dichterbekenntnisse von heute. Aufgegeben
ist die Lehre vom Übermenschen. Vor kur¬
zer Zeit konnten deutsche Dramatiker gar
nicht oft genug Gewaltnaturen aus der Re¬
naissance, wie Nietzsche sie nahm und an¬
erkannte, in den Mittelpunkt ihrer Stücke
stellen. Lieblingsfigur des Tragikers ist jetzt
der Mensch, der, bereit sich für andere auf¬
zuopfern, Verzicht auf Ichsucht, Aufgehen
des Einzel-Ichs im Ganzen der Menschheit
(nicht etwa bloß eines Volks) verkündet.
Er tut es zuweilen mit der Gebärde des Bu߬
predigers.
Paul Claudel leitete seine deutschen Be¬
wunderer auf solche Wege eines Spiritua¬
lismus, der den Willen zum Leben und
dessen Verwirklichung auf Kosten anderer
ablehnt. Aus der großen Schar neuster
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736
Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
Dramen nur einen Beleg für solche Hin¬
wendung zu Schopenhauers Weltbild zu
nennen, sei hingewiesen auf Julius Maria
Beckers „Letztes Gericht“ und auf die Ent¬
hüllungen, die hier der „Geist der Mensch¬
heit“ einem Sucher macht: Wohl haben im
Krieg viele ihr karges Ich großmütig preis¬
gegeben und sind im Ich des Volkes zu
höherer Bedeutung aufgegangen. Aber dies
Völker-Ich blieb Summierung all der bar»
barischen Wildheiten der einzelnen. Mit
grenzenlosen Umrissen erwuchs das Ich des
Ganzen, hassenswert nicht minder als jeg¬
liches Ich. Ein zweiter Sturm ist nötig, der
die Völker mit ihrem Ich aufgehen läßt im
Ganzen der Menschheit. Oder Friedrich
Wolfs „Das bist du“, das Drama der ver¬
söhnenden Opfertat, nimmt den Begriff des
„Tat twam asi“ ausdrücklich auf und in ihm
einen der entscheidenden Gedanken von
Schopenhauers Sittlichkeit. Wolfs Spiel trifft
auch mit Schopenhauers Ansicht vom Tra¬
gischen überein, indem es sich mit Schopen¬
hauer zu dem Satz bekennt, das Leben sei
der Güter höchstes nicht. Lösung tragischer
Gegensätze fand ja Schopenhauer nicht in
irgendwelcher Betätigung poetischer Ge¬
rechtigkeit, sondern in dem Verzicht auf
die Genüsse des Lebens. Der Held büße
so die Erbsünde ab: die Schuld des Da¬
seins. Calderons Worte „Pues el delito
mayor del hombre es haber nacido“ nahm
Schopenhauer für solche Bestimmung des
Tragischen in Anspruch.
Allein neuste Dichtung und auch neuste
Dramatik bleiben nicht immer stehen bei
der unbedingten Verneinung dieser Welt.
Es ist ein Irrtum, die Ausdruckskunst schlecht¬
hin wie Abkehr von aller bejahenden Tat
zu fassen. Sie will nicht bloß Bestehendes
zerstören, sie will in diesem Leben zugleich
Neues aufbauen, eine Welt des Geists an
die Stelle einer Welt des Stoffs setzen. Und
wenn solches Streben in seiner Verwirk¬
lichung. den jungen Dichtern auch schon
schwere Enttäuschung, sogar Schlimmeres
eingetragen hat, so besteht trotzdem nach wie
vor im Kreise der Ausdruckskunst neben
weltflüchtiger auch eine wenn nicht unbe¬
dingt weltbejahende, doch weltgestaltende
Richtung.
Von Schopenhauer geht das ab. Oder
mindestens bedürfte es neuer Erfassung und
Deutung vereinzelter Gedanken Schopen¬
hauers, die nicht völlig im Zuge seiner
Grundüberzeugungen sich bewegen, wenn
von dieser Stelle jüngster dichterischer
Betätigung ein Weg zu Schopenhauer, auf¬
getan werden soll. Ich aber möchte über¬
haupt nicht bei den großen Linien stehen
bleiben, an denen so Übereinstimmung der
unmittelbaren Gegenwart mit Schopenhauer
wie Gegensatz beider sich bemerklich ma¬
chen. Audi ein Vergleich der ganzen neuen
tragischen Dichtung mit Schopenhauers An¬
sicht vom Tragischen ist nicht meine Ab¬
sicht. Sondern nur ein Punkt sei näher be¬
leuchtet, an dem sich unzweideutig die Tra¬
gik unserer Zeit von Schopenhauer abkehrt.
In § 51 des vierten Buchs seines Haupt¬
werks scheidet Schopenhauer drei Möglich¬
keiten des Tragischen. Die beiden ersten
sind leicht zu erfassen. Entweder wird tra¬
gisches Leid wachgerufen von außerordent¬
licher Bosheit des Charakters oder durch
blindes Schicksal, also durch Irrtum oder
Zufall. Die erste Art findet Schopenhauer
wieder in der „Antigone“ und zwar in der
Betätigung Kreons, bei Shakespeare in
Richard III., in Jago, auch in Shylock, fer¬
ner in Franz Moor. Noch die Phädra des
Euripides holt er heran. Die zweite Art
verkörpern ihm der „König Ödipus“ 8es
Sophokles, dann überhaupt die Mehrzahl
der antiken Tragödien, ferner „Romeo und
Julie“, Voltaires „Tankred“ und die „Braut
von Messina“. Wieweit er mit solcher
Einreihung das Rechte trifft oder nicht, ist
hier gleichgültig.
Schwieriger wird ihm die Umschreibung
der dritten tragischen Möglichkeit. Sie grün¬
det das Unglück bloß auf die Stellung der
Personen zueinander, auf die Verhältnisse.
Weder bedarf es eines Ungeheuern Irrtums
noch eines unerhörten Zufalls noch eines
Bösewichts. Sondern Charaktere, wie sie
in sittlicher Hinsicht gewöhnlich sind, wer¬
den unter Umständen, wie sie häufig ein-
treten, so gegeneinander gestellt, daß ihre
Lage sie zwingt, sich gegenseitig, wissend
und sehend, das größte Unheil zu bereiten.
Unrecht besteht nicht bloß auf der einen
Seite.
Schopenhauer reicht dieser dritten Art
der Tragik die Palme. Denn sie zeige das
größte Unglück nicht wie eine Ausnahme,
sondern lasse es, ohne seltener Umstände
oder ungewöhnlicher Menschen zu bedürfen,
leicht und von selbst fast wie etwas We¬
sentliches hervorgehen aus dem Tun und
aus den Charakteren der Menschen. Un¬
geheures Schicksal und entsetzliche Bos-
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737 Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 738
heit empfinden wir als schreckliche, aber die jünger ist als Schopenhauers Hauptwerk,
nur aus großer Ferne drohende Mächte. Heute stünden viel mehr Belege für Scho-
Aber die Tragik der dritten Art zeigt, wie penhauers dritte Art des Tragischen zur
Glück und Leben zerstört werden auf We- Verfügung als am Schluß des zweiten Jahr¬
gen, die jeden Augenblick zu uns führen zehnts des 19. Jahrhunderts,
können. Die wesentlichen Züge solcher Gegen das Ende des Jahrhunderts hin
Verflechtungen kann auch unser Schicksal erreichte die Tragik, die ohne Bösewicht
annehmen. Solche Handlungen zu begehen, und nicht durch Zufall oder Irrtum tragische
wären auch wir fähig. Diese Tragik emp- Gegensätze erzielen will, immer mehr eine
fiehlt eindringlicher als jede andere, zur beherrschende Stellung. Wie in allem an-
Entsagung zu flüchten. dem, kehrt sich jüngste Kunst auch hier ab
Von Grundüberzeugungen aus gelangt von den Bräuchen, die sie vorfindet. Der
Schopenhauer zu seiner Wertung. Wie ihm böse Mensch lebt im Trauerspiel wieder
um seiner Weltverleugnung willen die Tra- auf. Scharf und groß wird wieder der Ge-
gödie zum Kunstwerk der Lebensvernei- gensatz zwischen den Persönlichkeiten, für
nung wird, so schätzt er die eine tragische die der Dichter sich einsetzt und die er als
Abart am höchsten, die unbedingt und ohne gut empfindet, und ihren Gegenspielern, die
Möglichkeit einer Ausflucht die Gefahren als Verkörperungen des Bösen gefaßt wer-
des Lebens aufdeckt. den. Walter HasencleversDrama„DerSohn“
Schopenhauer weiß, daß dergleichen Tra- von 1914 dürfte einer der ersten deutschen
gik nicht leicht zu erbringen ist. Mit dem Versuche sein, dem Bösewicht seine alte
geringsten Aufwand von Mitteln, bloß durch Stellung in der tragischen Verwicklung Zu¬
stellung und Verteilung soll sie die größte rückzugeben, ihn auch ausdrücklich als ei-
Wirkung erzielen. Daher sei selbst in den nen Bösewicht hinzustellen. Im ersten Auf¬
besten Trauerspielen die Schwierigkeit nur tritt des fünften Aufzugs ist der Vater em-
umgangen. Wirklich hat Schopenhauer bloß pört, daß in einer Versammlung einer gegen
ein einziges vollkommenes Muster zu nen- die Väter gesprochen hat. Ein Polizeikom-
nen: Goethes „Clavigo“. Er führt noch „Ham- missar sucht ihn zu beruhigen mit der Be-
let“ an, meint aber nuj Hamlets Beziehun- merkung, der Vortrag sei nur gegen die
gen zu Laertes und Ophelia. Ebenso hebt unmoralischen Väter gerichtet gewesen. Der
er aus dem „Faust“ (der ihm bei der Ab- Vater antwortet höhnisch (so verlangt es aus-
fassung seines Hauptwerks nur mit dem drücklich die Bühnenanweisung), fordert
ersten Teil vorlag) bloß die sogenannte äußerste Strenge gegen ein Vorgehen, das
Gretchentragödie heraus. Wenn er endlich er als einen Verrat an der eigenen Familie
neben Corneilles „Cid“ noch „Wallenstein“ empfindet, und kennzeichnet sich selbst da-
heranholt, so hat er natürlich auch nur Max mit als einen der unmoralischen Väter. Der
und Thekla im Sinn. Schluß des Stücks macht kein Hehl daraus,
Im 15. Buch von „Dichtung und Wahr- daß der Dichter den Untergang dieses Va-
heit“ sagt an oftangerufener Stelle Goethe, ters wie einen Sieg der guten Sache emp-
wie sein „Clavigo“ gemeint war. Der Böse- findet. Den Weg von Hasenclevers „Sohn“
wichter müde, die aus Rache, Haß oder begingen inzwischen viele Vertreter der
kleinlichen Absichten sich einer edlen Na- Ausdruckskunst.
tur entgegensetzen und sie zugrunde rieh- Schopenhauer aber wurde, im Sinn seiner
ten, wollte er in Carlos reinen Weltverstand Rangordnung der tragischen Möglichkeiten
mit wahrer Freundschaft gegen Leiden- fortschreitend, immer unduldsamer gegen
Schaft, Neigung und äußere Bedrängnis Dramatiker, die zwischen ihre Gestalten
wirken lassen. Das erhärtet die Richtigkeit weite Abstände sittlichen Verhaltens legen,
von Schopenhauers Deutung. Schon im 37. Kapitel des zweiten Bands
Goethes „Clavigo“ tut einen wichtigen der „Welt als Wille und Vorstellung“ kehrt
Schritt hinaus über die nur wenig ältere er sich gegen Dramen, die ihren Menschen
..Emilia Galotti“, die des Bösewichts Mari- zu viel Edelmut einimpfen. Er nennt Les-
nelli bedarf, um Tragik in die Wege zu sings „Minna von Barnhelm“. Er versichert
leiten. „Clavigo" ist der Ausgangspunkt ironisch, so viel Edelmut wie der einzige
einet langen Reihe von Dramen, die auf Marquis Posa darbiete, sei in Goethes sämt-
den Bösewicht verzichten. Sie gehören liehen Werken zusammengenommen nicht
allerdings zum großen Teil einer Zeit an, I aufzutreiben. Die „Parerga und Paralipo-
Intemationule Monatsschrift. 24
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739
Oskar Walzel. Tragik nach Schopenhauer und von heute
740
mena“ steigern das zu dem Vorwurf, der In einer späten Äußerung, in der Be-
seitdem ihnen immer wieder nachgespro- sprechung von G. G. Gervinus’ „Geschichte
dien worden ist: Schiller scheide seine Per- des neunzehnten Jahrhunderts“, schrieb 1862
sonen ziemlich scharf in schwarze und Hebbel den Satz hin, von dem dramatischen
weiße, in Engel und Teufel. Shakespeare Dichter sei es bekannt, daß er um so we-
hingegen zeige Menschen im Spiegel der niger tauge, je mehr Bösewichte er brauche.
Dichtkunst, nicht moralische Karikaturen. Er „Wie schwarz ist der Teufel bei den klei¬
habe in die Welt hineingesehen, Schiller nen Talenten, wie oft wird er zitiert, und
hingegen in die „Kritik der praktischen wie weiß Shakespeare selbst seine furcht-
Vernunft“. An anderer Stelle verdenken die barsten Charaktere auf Naturbedingungen
„Parerga und Paralipomena“ es Schiller, zurückzuführen, die ihnen die Existenzbe-
daß er den Teufel gern schwarz male, und rechtigung sichern!“ Das stimmt genau zu
daß seine sittliche Billigung oder Mißbilli- Schopenhauers Ansicht. Lange ehe Hebbel
gung der von ihm dargestellten Charaktere einen Blick in Schopenhauers Schriften ge-
durch ihre Worte durchklinge. Bei Shake- worfen hatte, war er zu solcher Überzeu-
speare habe jeder, während er dasteht und gung gelangt. Er hatte auch schon wich-
redet, vollkommen recht, und wäre er der tige Bekenntnisse über seine Auffassung
Teufel selbst. Auch bei Goethe; Schopen- des Tragischen veröffentlicht, als er im
hauer empfiehlt, den Herzog Alba von Goe- März 1844 zu Paris entdeckte, daß Hegels
thes „Egmont“ mit dem Herzog Alba des tragischer Schuldbegriff und Hegels Bestim-
„Don Carlos“ zu vergleichen. Dabei ist mung echtester Tragik mit seinen eigenen
Schopenhauer sich wohlbewußt, daß Shake- Annahmen übereinträfen,
speares Menschen, besonders in den Histo- Der § 140 von Hegels Rechtsphilosophie,
rien, durch Eigennutz und Bosheit geleitet der von Hebbel angeführt wird, berührt sich
werden, mit wenigen und nicht zu grell an entscheidender Stelle mit Schopenhauer,
abstechenden Ausnahmen. Ihn stört nur der Auch Hegel verficht eine Tragik, in der
Bösewicht, der von vornherein wie etwas auf keiner Seite volles Unrecht besteht. Er
Verwerfliches in ein Drama hinein- und dem fordert gleichberechtigte sittliche Mächte,
guten Menschen entgegengesetzt wird. Von die sich Sittlichem entgegensetzen, also
Jago und von Richard III. sagt er freilich beide recht und unrecht haben. Die wahre
hier kein Wort, auch nicht von Shylock, Sittlichkeit gehe dann zuletzt als Siegerin
den er doch bei der Scheidung der drei über Einseitigkeit, versöhnt mit uns, hervor.
Arten des Tragischen zu den Bösewichten Wir erheben uns an dem Triumph des
des Trauerspiels zählt. Wahren und müssen nicht den Untergang
Schopenhauer war nicht der erste, der in des Besten miterleben. Das ist nach Hegel
Deutschland gegen den Bösewicht im tra- das wahrhafte reinsittliche Interesse der an¬
gischen Spiel Bedenken hatte. Lessing, der tiken Tragödie.
Schöpfer Marinellis, kommt in der „Ham- Diese Ansicht wurzelt so tief in Hegels
burgischen Dramaturgie“ mehrfach auf den Überzeugung, daß sie schon in der „Phä-
Bösewicht zu sprechen, weist ihn zwar nicht nomenologie des Geistes“ von 1807 sich an¬
völlig aus der Tragödie hinaus, hat indes kündigt; nur zu greifbarerer Darlegung ge-
eine Fülle von Bedenken gegen die Bösen langt sie in den „Grundlinien der Philoso-
bei Corneille, auch gegen die Gestalt, die phie des Rechts“, die 1821 zum erstenmal,
sein Jugendfreund Christian Felix Weiße dann in der Gesamtausgabe seiner Schrif-
in einer Umstilisierung von Shakespeares ten als achter Band, herausgegeben von
Stück dem dritten Richard gab. Besonders Ed. Gans, in erster Auflage 1833, in zweiter
fordert er, daß der Bösewicht sein laster- 1840 veröffentlicht wurden. Unnötig ist,
haftes Tun für unvermeidlich und notwen- noch besonders hervorzuheben, daß Hegel
dig halte. Da kündigt sich leise an, was dank seinem Weltbild auch hier von ganz
durch „Clavigo“ zum Durchbruch kam: die andern Voraussetzungen ausgeht als Scho-
Neigung, vom Bösewicht im Trauerspiel penhauer. Durchaus stimmen sie überein
abzusehen oder mindestens dem Bösewicht in der Wertschätzung einer Tragik, die
engere Grenzen zu ziehen und ihm seine gleichmäßig Recht und Unrecht auf Spieler
einseitigsten Züge zu nehmen. Zu voller und Gegenspieler verteilt.
Ausprägung gelangte das bald nach Scho- Wie enge Hebbels Ansicht vom Tragi-
penhauers Hauptwerk durch Hebbel. sehen mit Hegels Auffassung zusammen-
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4
741 Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
hängt, gesteht Hebbel, sonst geneigt, Hegel
zu befehden und Hegels Worte abzulehnen,
im Tagebuch vom 25. März 1844 unzwei¬
deutig genug ein. Seinen Fingerzeig hat
die Forschung schon längst sich zu Herzen
genommen. Wir wissen heute, daß Hebbel
in seinen Dramen des Bösewichts entraten
konnte, weil er wie Hegel ein dialek¬
tisch geordnetes Aufsteigen der Sittlich¬
keit in der Entwicklung der Menschheit er¬
blickte. Die Gegensätze des dialektischen
Ablaufs verteilte Hebbel auf die Menschen,
die sich in seinen Dramen gegensätzlich
gegenüberstehen. Der eine vertritt eine äl¬
tere, der andere eine jüngere Stufe sittlicher
Entwicklung der Menschheit. Und da sol¬
ches Zusammentreffen zweier Entwicklungs¬
schichten der Menschheit für Hebbel unent¬
behrlich ist, holt er seine tragischen Stoffe
aus den Zeiten, in denen sich das Rad der
Welt zu einer neuen Drehung anschickt,
also aus Übergangszeiten. Einseitiges trifft
auf Einseitiges; beide aber sind bedingt
durch die Zeit, nicht durch persönliche Bös¬
willigkeit. Wer dann wie Kandaules im Wi¬
derstreit erliegt, im Bewußtsein, trotz allem
Unrecht, das er begangen hat, doch einen
Vorstoß im Sinn kommender Sittlichkeit
gewagt zu haben, darf sich trösten mit dem
Bewußtsein: „Die Zeit wird einmal kom¬
men, wo alles denkt wie ich.“ Sein Tun
war nicht absolut, aber relativ berechtigt.
Allein wer wie Hebbel und wie Hegel Sitt¬
lichkeit als etwas Entwicklungsfähiges faßt,
für den ist jede irdische Stufe des Sittlichen
bloß etwas Relativberechtigtes. Absolute
Sittlichkeit liegt als fernes Ziel unerreich¬
bar vor uns, ein Ideal, dem man sich nähern,
das man nie völlig verwirklichen kann.
Ein Schritt zur Anerkennung des sitt¬
lichen Relativismus, aber noch lange nicht
der sittliche Relativismus, der im weitern
Ablauf des 19. Jahrhunderts auch auf dem
Feld dramatischer Dichtung sich durchsetzen
sollte. Immerhin trennt sich Hebbel mit
Hegel schon fühlbarvon Schillers kantisch ge¬
dachtem absolutem sittlichem Wertmaßstab.
Undenkbar wäre zwischen Wallenstein und
Max die Erörterung der Frage, ob Wallen¬
steins Verrat an Oesterreich morgen oder
übermorgen ein anderes sittliches Urteil zu
gewärtigen hätte als heute. Schillers Wallen¬
stein könnte nie mit irgendeinem Anschein
des Rechts behaupten, die Zeit werde ein¬
mal kommen, wo alles denke wie er. Don
Cesar gibt freiwillig sein Leben hin, um
742
schwere Schuld zu büßen. Doch nicht von
ferne denkt er an die Möglichkeit, nur unter
dem Druck einer Sittlichkeit zu stehen, die
durch die Zeit bedingt ist und mit der Zeit
sich wandeln, einer künftigen besseren Sitt¬
lichkeit Raum geben müsse. Etwa der Sitt¬
lichkeit des Machtmenschen, für den sich,
was von Kant verneint wird, in Bejahtes
umsetzt.
Es fragt sich, ob Ibsen auf dem Weg re¬
lativistischer Sittlichkeit weiter vorgedrungen
ist als Hebbel, mit dem er die Überzeugung
teilt, daß Sittlichkeit im Lauf der Zeiten sich
verändere. Des Bösewichts entriet er si¬
cherlich immer mehr und mehr. Rektor
Kroll in „Rosmersholm“ vertritt zwar als
Gegenspieler eine sittliche Macht, die das
Recht für sich in Anspruch nimmt, die über¬
dies — wie Hegel es meint — der Sittlich¬
keit Rosmers und Rebekkas gleichberechtigt
ist. Doch Pastor Rosmer und Rebekka kom¬
men nahe an Schillers Don Cesar heran,
wenn sie freiwillig ihr Leben hingeben, um
für begangene Schuld zu büßen. Sie be¬
gründen ihren letzten Schritt freilich nicht
durch den Hinweis auf den kategorischen
Imperativ. Bestehen aber bleibt etwas von
dem großen gigantischen Schicksal, das den
Menschen erhebt, wenn es ihn zermalmt.
Wie Schiller, getragen von Kants Sitten¬
lehre, es für die Tragödie forderte, erwirkt
sich am Ende der Eindruck des Tragisch¬
erhabenen durch einen Entschluß, der aus
freier Selbstbestimmung gefaßt wird. Am
wenigsten ist Ibsen geneigt, die sittliche
Schuld, die in dem Vorgehen Rebekkas
liegt, schlechthin zu vergeben. Er läßt diese
Schuld durch Worte Rebekkas begreiflicher
werden. Er macht sie entschuldbarer, als
vielleicht Schiller es getan hätte. Er lauscht
der Seele des Menschen und ihrem Unter¬
bewußtsein Geheimnisse ab, um die sich
Schiller kaum kümmert. Allein Erklärung,
die aus der vertieften Kenntnis der Seele
schöpft, erhebt hier nicht den Anspruch,
von den sittlichen Pflichten zu entbinden,
die dem Menschen auferlegt sind in seinem
Verhalten zum Mitmenschen.
Den Eindruck relativistischer Sittlichkeit,
einer Sittlichkeit, die gleichmäßig zwei völlig
entgegengesetzten Richtungen des Wollens
und Handelns gerecht wird, gewinnt weit
weniger der Betrachter eines einzelnen Dra¬
mas von Ibsen, als wer eine Reihe zeitlich
aufeinander folgender Stücke Ibsens vor¬
nimmt. Längst habe ich versucht, dasEigene
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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
744
des Nacheinanders von Ibsens Schöpfungen
als ein Fortschreiten in dialektischen Ge¬
gensätzen zu bezeichnen. Seine sittliche
Selbstbesinnung stellte immer wieder neue
Ziele auf und erkannte immer wieder, wie¬
viel Täuschung dabei unterlief. Wenn er
ein Werk beendete, hatte er sich meist ent¬
schlossen, den Gedanken, zu dessen künst¬
lerischer Verklärung das Werk dienen sollte,
abzulehnen und nur noch wie eine Quelle
tragischen Leids zu fassen. Im ganzen
Zusammenhang seines Schaffens bedingte
dies Verfahren, daß ein neues Werk wirken
konnte wie Absage an das unmittelbar
vorangehende. „Puppenheim“ und „Ge¬
spenster“ oder „Volksfeind" und „Wild¬
ente“ können als solche gegensätzliche
Paare gefaßt werden. Es ist, als nähme
in jedem dieser Paare das zweite Stück
zurück, was im ersten zum Ausdruck ge¬
langt ist. Doch nicht das Bedürfnis, sittliche
Gegensätze zu begreifen und verständlich
zu machen, sondern ruhelose und stets un¬
befriedigte Selbstprüfung, ein rastloser sitt¬
licher Drang lebte sich in Ibsens Schaffen
aus.
Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“
greifen mit neuen Mitteln und von neuem
Standpunkt die Tragik von „Rosmersholm“
auf. Das Ende zeigt nicht einen Menschen,
der, sein eigener Richter, aus freiem Ent¬
schluß in den Tod geht, sondern ein weicher
und widerstandsloser Mensch, der unter dem
Druck eines schweren Erlebens sich gelbst
mit fester Hand zu führen verlernt hat,
dessen sittliche Selbstbestimmung vernich¬
tet ist, taumelt in den Selbstmord hinein.
Von Ibsens Bedürfnis, Gerichtstag über sein
eigenes Ich zu halten, ist so wenig zu ver¬
spüren wie gleich darauf am Schlüsse der
„Versunkenen Glocke“. Und wie auf dem
Wege von Ibsen zu Hauptmann Sittliches
sich erweicht, so verlieren auch die tragi¬
schen Gegensätze an Schärfe und Wucht.
Folge ist ein noch unbedingteres Bekennt¬
nis zu der tragischen Art, die als dritte von
Schopenhauer bezeichnet und als beste
bewertet wird, zu der Tragik des „Clavigo“,
zu Hegels und Hebbels Anschauung, daß
gleichwertige Mächte von ebenbürtiger Sitt¬
lichkeit Zusammentreffen sollen im Trauer¬
spiel. Könnte in Rebekka West noch etwas
von bösem Wollen entdeckt werden, ist sie
in jungen Jahren von der Verbrechernatur
ihres Vaters zu unsittlicher Lebensführung
erzogen worden, so hat Anna Mahr bloß
alle Kennzeichen eines guten Menschen.
Gütig sind auch ihre Gegenspieler. Ganz
wie Schopenhauer es wünscht, wird Un¬
glück in den „Einsamen Menschen“ nicht
herbeigeführt durch einen ungewöhnlichen
Charakter, sondern leicht und von selbst,
fast wesentlich notwendig geht aus dem
Tun und aus der Beschaffenheit von Men¬
schen, die so gut wie nichts Ungemeines
an sich haben, tragische Verwicklung her¬
vor.
Tragik, die aus kleinsten Gegensätzen
keimt, zwischen deren Trägern keinerlei
unvereinbare sittliche Widersprüche be¬
stehen, wurde durch Hauptmann auf viele
Jahre hinaus Lieblingsaufgabe deutscher
Dramatiker. Vielleicht noch weiter alsHaupt-
mann gelangte auf dessen Spuren der Wie¬
ner Arthur Schnitzler. In den „Einsamen
Menschen“ treffen immer noch hebbelisch
alte und neue Zeit aufeinander. Im „Zwi¬
schenspiel“ Schnitzlers kommt es zu tragi¬
scher Entfremdung zweier Menschen, die
beide gleichmäßig neue vorurteilslose Sitt¬
lichkeit und Verzicht auf alte, scheinbar ent¬
wertete und abgenutzte sittliche Bedenken
anstreben. Möglichkeit gleicher tragischer
Entzweiung tut sich — wie Schopenhauer
verlangt — hier auf, vielleicht nicht für je¬
den andern, aber gewiß für die vielen, die
so frei über die Sitte der Vergangenheit
wegblicken wie Martn und Frau im „Zwi¬
schenspiel“, Naturen von hoher seelischer
Bildung, Menschen, die sich bewußt sind,
das Beste ihrer Zeit in sich zu verkörpern.
Und wie Schnitzler aus kleinsten Gegen¬
sätzen Tragik ableitet, so denkt er auch
nicht daran, über seine Menschen zu rich¬
ten. Er will sie verstehen. Er möchte re¬
lativistisch Handlungen begreifen, die vor
strengerem Gericht schlechthin als unrecht,
wohl gar als unsittlich befunden werden
könnten. Nicht wesentlich anders hatte
Hauptmann es gemeint.
Ihm aber ergab sich noch eine Steige¬
rung sittlich relativistischer Tragik: eine
Tragik, deren Leid es ist, Menschen und
ihr Handeln nicht begreifen zu können, sie
für unsittlich halten zu müssen. Wenn
endlich Verständnis sich ermöglicht, wenn
das Schwerbegreifliche endlich begriffen ist,
dann ist auch das tragische Leid überwun¬
den. Versöhnlich klingt das Stück aus.
Hauptmanns „Michael Kramer“ stattet in
den beiden ersten Aufzügen, also in der er¬
sten Hälfte des Dramas, den Sohn Kramers
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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
aus mit Merkmalen, wie sie der junge
Schiller kaum ausgiebiger seinen Bösewich¬
ten geliehen hätte. Im ersten Aufzug, wenn
Arnold Kramer mit seiner Mutter spricht,
vollends im zweiten, wenn der Sohn den
Vater unbedenklich belügt. Michael Kra¬
mer schreit qualvoll auf: „Du bist nicht mein
Sohn! — Du kannst nicht mein Sohn sein!
Geh! Geh! Mich ekelt’s! Du ekelst mich
an!!“
Bloß ganz leise ist in den beiden ersten
Aufzügen angedeutet, daß Arnold Kramer
ein hochbegabter, aber tiefunglücklicher
Mensch ist, ein echter Künstler, der schwer
an den Hemmungen seiner Seele leidet.
Beinahe ist dem Darsteller überlassen, die
gewinnenden Züge stärker zu betonen, da¬
mit die Wendung begreiflicher werde, die
sich in der zweiten Hälfte des Stücks voll¬
zieht. Schon im dritten Aufzuge gewinnt
Arnold das Mitgefühl des Zuschauers, so¬
bald er zu zotigen Philistern in Widerstreit
gelangt. Wenn im vierten Aufzug Michael
Kramer vor dem toten Sohn steht, ist alles
wie weggelöscht, was jemals zwischen
beiden eine unübersteigliche Mauer errich¬
tet hatte. Endlich meint Kramer den Sohn
recht zu verstehen, den nicht begreifen zu
können, den verurteilen zu müssen das Leid
seines Lebens gewesen war. Er beugt sich
vor ihm. Er bekennt: „Ich war die Hülse,
dort liegt der Kern.“ Es klagt sich selbst
an, den Sohn gequält, diese Pflanze viel¬
leicht erstickt zu haben. „Und nun ist er
mir so ins Erhabne gewachsen.“
Was Kramer über seinen toten Sohn zu
sagen hat, nimmt so viel Raum in Anspruch
innerhalb des wenig umfangreichen Stücks,
daß der Schwerpunkt nodi unverkennbarer
hinrückt zu der Frage des Begreifens. Der
sittliche Zusammenprall löst sich auf in ei¬
nem Licht, das die verwerflichen Züge ei¬
nes Menschen wegleuchtet und die Hinder¬
nisse tilgt, die vollem Verstehen im Wege
sind. Dies Licht strahlt der Tod aus.
Fast gleich im Ausgang und in der Be¬
deutung, die auf tragischer Bühne dem Be¬
greifen zugemessen wird, ist dem Spiel von
Arnold Kramer das Legendenspiel „Kaiser
Karls Geisel“. Wie Michael an seinem
Sohn, leidet der alternde Kaiser an dem
Dirnlein Gersuind, das aussieht wie eine
Heilige und unheiliges Wort im Munde
führt, unheilige Tat begeht. Den blonden
Irrwisch, das sehr aberwitzige Ding möchte
der Kaiser veredeln. Sowenig sie geneigt
ist, von diesem Mann anderes zu verlangen
als von allen übrigen, Kaiser Karl kann
doch noch am Ende des zweiten Aufzugs
sie entlassen mit dem Wunsche: „Eile!
deine Seele entsühne, bade sie von Flecken
rein!“ Im nächsten Aufzug eröffnen sich
ihm freilich Blicke in Gersuinds Treiben,
die ihn zwingen, sie mit ähnlicher Ge¬
bärde von sich zu weisen wie Michael
Kramer den lügnerischen Sohn: „Stehst du
noch immer da? Die Peitsche denn . . .“
Des Spielzeugs ist er müde. Wie Michael
Kramer leidet er minder an dem sittlichen
Gegensatz, der zwischen ihm und einem
andern Menschen klafft, als an der Un¬
fähigkeit, die Stelle zu finden, von der aus
ihm eine unverständliche Seele begreiflich
wird. Und wie dort ersteht auch hier die
Möglichkeit des Begreifens, sänftigend und
erlösend, wenn diese unbegreifliche Seele
dahingegangen ist.
Ein Vergleich mit Grillparzers „Jüdin von
Toledo“ läßt das Wesentliche von „Kaiser
Karls Geisel“, läßt überhaupt die Eigenart
solcher Tragik des Nichtverstehenkönnens
noch fester erfassen. Die beiden Stücke
sind miteinander engverwandt, aber an ent¬
scheidender Stelle grundverschieden. Da
wie dort ist ein König, das eine Mal ein
alternder, das andere Mal ein junger, um¬
strickt von dem Liebreiz eines leichtherzi¬
gen, sinnlich bezaubernden Geschöpfs. Da
wie dort fühlt der Mann in dem Mädchen
etwas sittlich Minderwertiges. Der junge
Fürst leert die Schale, die der alte nicht an
die Lippen zu setzen wagt. Doch auch
dem Kaiser Karl drängt sich in dem Erleb¬
nis etwas so Übermächtiges auf, daß er
wie König Alfons seines Reiches vergißt
und Fürstenpflicht versäumt. Daher schaffen
die Würdenträger des Landes das Hinder¬
nis beiseite. Sie töten das Mädchen. Wenn
jedoch Kaiser Karl angesichts der Ermor¬
deten zum erstenmal ihr Wesen ganz zu
fassen meint, so erwirkt in König Alfons
der Anblick der Getöteten genau das Ge¬
genteil. Das Böse, das in ihr sleckte, offen¬
bart sich ihm. Er streift von sich ab, was
er wie eine Befleckung empfindet. Er ent¬
scheidet sich sittlich gegen sie. Und wäh¬
rend Kaiser Karl gerade durch das Bewußt¬
sein, jetzt endlich ganz begriffen und ver¬
ziehen zu haben, Mut zu frischem Auf¬
schwung und zu neuer Herrscher- und Hel¬
dentat gewinnt, ersteht gleiches in Alfons
dank der entgegengesetzten Erkenntnis; er
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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
wirft das Erlebte von sich, um in sittlicher
Selbstbescheidung sein ganzes künftiges
Leben dienstbar zu machen tatkräftiger Buße
für das Begangene.
Sittliche Entscheidung und bloßes Be¬
greifenwollen stehen da einander gegen¬
über. Grillparzer trifft die Wahl zwischen
Gut und Böse. Hauptmann läßt in einem
Menschenkind, das fast allen für böse gilt,
zuletzt noch etwas Gutes erkennen. Hart
wirkt der Wiener Grillparzer neben Haupt¬
mann. Man hat dem Dichter der „Jüdin
von Toledo“ verdacht, daß er seinem Kö¬
nig es so leicht mache, die Pflichten gegen
die Tote loszuwerden. War das nicht auch
schon das Urteil einer Zeit, die in sittlichen
Dingen immer mehr einer relativistischen
Wertung zuneigte? Sicherlich übersah sie,
auf welcher Seite in dem Zusammenstoß
von Pflichten, den der König Grillparzers
in sich erlebt, die ernstere und heiligere
Verpflichtung liegt.
Hauptmann jedoch setzt sich durch
die weiche Empfänglichkeit, die er wie
seinem Michael Kramer so auch seinem
Kaiser Karl leiht, der Mißdeutung aus.
Könnte nicht ein williger Zweifler einwen¬
den, beide fühlten sich versöhnt mit dem
Menschen, der ihnen seelisches Leid wegen
seines sittlichen Verhaltens bereitet hat, so¬
bald der Tod diesem Menschen unmöglich
macht, von neuem den Gegensatz zu be¬
währen, der zwischen ihm und anspruchs¬
vollem sittlichen Förderern besteht? Emp¬
finden vielleicht Michael Kramer und Kaiser
Karl wirklich nur deshalb in sich keinen
Widerspruch mehr zu den Toten, weil die
Toten ihnen nicht mehr widersprechen
können? Besonders aus den Worten Kaiser
Karls geht wenig klar hervor, was ihn ei¬
gentlich ermächtigt, Gersuind zuletzt wie
eine Verklärte zu sehen. Wie immer, wenn
Hauptmann in letzter tiefaufgewühlter Rede
einen Menschen aussprechen läßt, was wie
ein schwer deutbares Geheimnis endlich sich
enthüllt hat, versagen ihm die Worte. „Gott
zerschellte an dem Engel, den er schuf —
von Menschenmacht ganz zu geschweigen
und von mir!“ Vernehmlicher als eine
endlich erzielte Deutung des Rätsels Ger¬
suind klingt aus Kaiser Karl das Geständ¬
nis: „Was ich ihr streng verschwieg, das
sag ich euch: ich liebte sie!“ Tritt da an
die Stelle relativistischen sittlichen Werfens
nicht vollends bloß allesverzeihende, alle
Bedenken wegschwemmende Liebe?
Die Gefahr, die einer relativistisch wer¬
tenden Tragik droht, erfüllt sich in beiden
Stücken Hauptmanns: der sittliche Konflikt
verliert den Boden unter den Füßen. Diese
Gefahr wurde schon vor dem Erscheinen
„Michael Kramers“, also lange vor „Kaiser
Karls Geisel“ gekennzeichnet durch Haupt¬
manns Gegenfüßler Paul Ernst. Sein Auf¬
satz „Das Drama und die moderne Welt¬
anschauung“ von 1898 ist inzwischen über¬
gegangen in das Buch „Der Weg zur Form“.
Er bezeichnet als die schlimmste Gefahr
des Tragischen die Ansicht von der Rela¬
tivität aller Sittlichkeit. Wenn es keine ob¬
jektiven, allgemeinen und unter allen Um¬
ständen gültigen Regeln der Sittlichkeit
gebe, dann gebe es nur noch ein Verstehen,
sagte Ernst. Er nahm mit dieser Behaup¬
tung Stücke von der Art der beiden Dramen
Hauptmanns im Gedanken vorweg. Er war
sich bewußt, daß naturalistisches Drama
auf dieses Ziel losgehe. Er beschuldigte
Euripides, durch den sittlich relativistisch
gedachten Satz, dieselbe Handlung könne
je nach Person und Umständen gut und
böse sein, der griechischen Tragödie das
Ende bereitet zu haben. Er führte den sitt¬
lichen Relativismus des Euripides zurück
auf die Sophisten des Altertums und nannte
sie die Zerstörer des antiken Dramas. Er
stellte fest, daß der soziologische Positivis¬
mus des 19. Jahrhunderts, in dem die rela¬
tivistische Sittlichkeit des naturalistischen
Zeitalters und des naturalistischen Dramas
wurzelt, übereinstimme mit der alten So-
phistik. Er stützte die Behauptung auf den
Versuch des Positivisten Ernst Laas, den
Sophisten Protagoras vom Standpunkt des
Positivismus zu rechtfertigen.
Ernst eröffnete einer Tragödie wieder
die Bahn, die nicht bloß auf Verstehen,
sondern auf sittliches'.Werten ausgeht. Wie
in anderm wurde auch in dieser Wendung
Ernst Wegweiser einer neuen Kunst, Weg¬
bereiter des sogenannten Expressionismus.
Als einer der ersten kündigte er die Um¬
kehr an, die sich seitdem wie auf dem Feld
der Dichtung auf dem Feld philosophischer
Selbstbesinnung vollzogen hat. Das ist ja
das Große des Augenblicks, daß sich Kunst
gemeinsam und einhellig mit Weltanschau-
ungslehre zu Neuem durchringt. Beide
wollen zurückkehren zu einem Bekenntnis,
das dem Weltbild jüngster Vergangenheit
widerspricht und ältere Überzeugungen neu
belebt.
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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
Die große Wandlung spiegelt sich in
einem Denker, der vor kurzem dahinging,
in sich aber noch die Umkehr erlebte, die
über philosophisches Denken gekommen ist.
Georg Simmel war vor einem Menschen¬
alter der unbedingteste Vorkämpfer relati¬
vistischer Sittlichkeit. Als er starb, war er
auf dem Wege zu dem entgegengesetzten
Ende.
Als Simmel vor etwa einem Menschen¬
alter seine „Einleitung in die Moralwissen¬
schaft“ schrieb, lehnte er ausdrücklich ab,
der Wissenschaft die Aufgabe einer Fest¬
setzung sittlicher Vorschriften zuzuweisen.
Nicht sie habe Ideale aufzustellen. Viel¬
mehr bescheide sie sich, das vorhandene
sittliche Leben zu beschreiben, ohne zu
ihm eine wertende Stellung einzuneh¬
men. Wissenschaft blieb damals für Simmel
die Erforschung sittlicher Tatsachen nur so
lange, wie sie die Begriffe Altruismus, Ego¬
ismus, sittliches Verdienst, sittliche Schuld,
Glückseligkeit, kategorischer Imperativ,
Zweck, Freiheit und Verwandtes vom Stand¬
punkt der Ergründung des Seelenlebens
zergliederte. Simmel nannte daher jeden
Versuch, sittliche Normen aufzustellen, un¬
wissenschaftlich.
Die letzte Folgerung aus den Grund¬
sätzen relativistischer Auffassung des Lebens
war mit dieser Entscheidung für die Lehre
von der Sittlichkeit gezogen. Doch wie
Philosophie um 1S00 überhaupt vom Rela¬
tivismus sich abzuwenden begann, so war
auch bei Simmel Abkehr von den Ansich¬
ten zu verspüren, die er zu Beginn der
neunziger Jahre vertreten hatte. Gleich¬
gültig ist hier, die Männer zu nennen, die
ihn zu einer Sinnesänderung bewogen ha¬
ben mögen. Wichtig bleibt nur, daß er
eines Tages der Wissenschaft das Recht,
Sittliches zu werten, wieder zuerkannte.
Die Bedeutung, die für Simmel selbst
wie für seine Zeit solche Wandlung hatte,
ist erfolgreich herausgestellt in dem Nach¬
ruf, den im 24. Band der „Kantstudien“ ihm
Max Frischeisen-Köhler stiftete. Simmel,
für die Welt einst schlechthin ausgeprägter
Verfechter des Relativismus, scheinbar be¬
strebt, den Relativismus zur äußersten Sub¬
jektivität der Moderne zu steigern, drang
zuletzt zu einem neuen Absolutismus durch.
Frischeisen-Köhler nennt es einen Gewinn,
der einer kom menden systematischen Epoche
unserer Philosophie nicht verloren gehen
kann, daß Simmel schließlich zu all¬
gemeinsten metaphysischen Überlegungen
gelangte, die unmittelbar in die deutsche
Spekulation und in die Fragestellungen un¬
serer Zeit einmündeten, ln einem der gei¬
stig Beweglichsten setzte sich das Bedürf¬
nis des Gemüts nach absolutem Halt durch.
So wurde für Simmel der Relativismus, der
das letzte Wort aller Kritik zu sein schien,
zu einer bloß vorletzten Ansicht.
In Simmels Verhalten spiegelt sich, was
gleichzeitig der deutschen geistigen Welt
zum Erlebnis geworden ist. Ein eindrucks¬
voller Redner, ein vielgelesener Schrift¬
steller, hat Simmel die Wandlung mitbe¬
stimmt, die sich in den jüngstvergangenen
Jahren auch außerhalb philosophischer
Kreise ergab. Wenn er einst deutsche Dich¬
ter zum Relativismus erzog und seinen
starken Anteil hatte an einer Kunst, die
begreifen und nicht werten wollte, wo es
sich um Fragen sittlichen Lebens drehte:
so wurde er auch zum Wegweiser einer
neuen Jugend, die an die Stelle des bloßen
Begreifens das Werten wieder einsetzte
und vor allem der Tragödie sittliche Ent¬
scheidung, zugleich erneute Trennung von
Gut und Böse zuführte.
Wie sich seit Hasenclevers „Sohn“ Ab¬
solutismus der Sittlichkeit in deutscher dra¬
matischer Dichtung immer mehr durchsetzt,
will meine „Deutsche Dichtung seit Goe¬
thes Tod“ erweisen. In dem Sammelwerk
„Zur Einführung in die Kunst der Gegen¬
wart“, das zuerst im Sommer 1919 hervor¬
trat, suchte ich einen Teil der Zusammen¬
hänge, die hier erwogen werden, schon
(S. 33 ff.) anzudeuten. Füglich darf jetzt
darauf verzichtet werden, weitere Belege
für die Stellung heranzuholen, die zu rela¬
tivistischem Begreifen und zu absolutem
Werten Strebungen und Taten neuster Dich¬
tung einnehmen.
Wenn indes hier von Anfang an der Ge¬
gensatz zwischen jüngster deutscher Dich¬
tung und Schopenhauer ins Auge gefaßt
worden ist, so muß nunmehr zugestanden
werden, daß solcher Gegensatz nicht be¬
steht, soweit es wieder zurückgeht zu nicht-
relativistischer Sittlichkeit. Zwar nimmt man
und nahm man besonders auf der Dresdner
Schopenhauertagung in den Pfingsttagen
dieses Jahres Schopenhauer für alles Mög¬
liche in Anspruch, was um 1900 sich im
deutschen Denken ergeben hat. Allein wer
wagte wohl, Schopenhauer zum sittlichen
Relativisten zu machen? Der Gegensatz
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Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute 752
zwischen Schopenhauer und der Tragödie
von heute besteht bloß, soweit Schopen¬
hauer für seine dritte Art des Tragischen
eintritt und in ihr die höchste Leistung
tragischer Kunst erkennt. Die Kräfte, die
heute in der Tragödie zusammenprallen, be¬
deuten nicht ein gleiches Maß von Recht
und Unrecht. Wieder liebt man es, das
Unrecht auf einer der beiden Seiten min¬
destens beträchtlich überwiegen zu lassen.
Wieder nimmt der Dichter Partei für die
eine und gegen die andre seiner Gestalten.
Strindberg allerdings, in dem mit Recht
ein wichtiger Anreger unserer Neusten er¬
blickt wird, soll nach Hans Taubs Schrift
von 1918 über das „Traumspiel“ (S. 53 f.)
in diesem Bekenntnis den Standpunkt durch¬
aus wahren, den die dritte Art des Tragi¬
schen nach Schopenhauer einnimmt. Wie¬
weit Taub zuzustimmen ist, sei nicht weiter
erwogen. Daß Strindberg sonst auch mit
ungleichmäßigerer Verteilung von Recht
und Unrecht arbeitet, ist wohl genug be¬
kannt. Und gerade diesem Strindberg, der
wieder zu bösen Menschen auf der Bühne
gelangte, leistete das neue deutsche Drama
Gefolgschaft, ln Strindbergs Dramen ist
überdies viel, was nicht bloß von der scho-
penhauerisch gemeinten Tragik des „Cla-
vigo“ oder Hebbels abgeht, auch von deren
relativistischer Übersteigerung, die sich in
der Tragik des bloßen Begreifens bei Haupt¬
mann oder bei Schnitzler ergab.
Denn nur eine Übersteigerung der An¬
sicht, die hier auf ihrem Wege von Goethe
über Hegel, Schopenhauer und Hebbel zu
Ibsen verfolgt wurde, ist und nicht auf Scho¬
penhauer berufen darf sich eine Tragik, die
nicht mehr zwischen Gut und Böse schei¬
den, sondern nur noch verstehen will; eine
Tragik, der tragisches Leid nicht so sehr
aus sittlichen Gegensätzen als aus der Un¬
fähigkeit des Begreifens ersteht. Eine Über¬
steigerung, doch auch eine letzte Folgerung.
Ein geschlossenes Ganzes bedeutet sicher¬
lich tragische Dichtung von „Clavigo“ bis
zu „Kaiser Karls Geisel“; ja noch etwas
über „Clavigo“ zurück und etwas über
Hauptmanns Drama von Gersuind hinaus
reicht dieser Zusammenhang. Das ergibt
sich dem Betrachter von heute, wenn er
feststellen muß, wie in entschiedener Ab¬
kehr von diesem geschlossenen Ganzen,
das durch ungefähr zwei Jahrhunderte die
Führung auf der Bühne für sich in An¬
spruch nahm, es heute zurückgeht zu einer
Tragik, die vor dem Erstehen dieses Gan¬
zen ihre Geltung in der Weltliteratur hatte.
Als eine Einheit von eigenen Gesetzen
enthüllte sich dies Ganze schon vor Jahren,
und ehe noch von Ausdruckskunst, also
auch von einem Abschluß und von An¬
sätzen zu einer gegensätzlichen Entwick¬
lung die Rede war, dem ungarischen Den¬
ker Georg von Lukäcs. Er hatte in seiner
Muttersprache am Ende des ersten Jahr¬
zehnts dieses Jahrhunderts ein Werk über die
Entwicklungsgeschichte des neuern Dramas
niedergeschrieben. Aus den einleitenden
Kapiteln des Buchs geschöpft ist der Auf¬
satz „Zur Soziologie des modernen Dramas“,
der 1914 im „Archiv für Sozialwissenschaft
und Sozialpolitik“ (38 , 303 ff. 662 ff.) er¬
schien. Er müßte hier erwähnt werden,
weil er sich ausdrücklich auf Schopenhauers
Worte über dessen dritte Art der Tragik be¬
zieht, auch wenn die lichtvolle Darlegung
von Lukäcs nicht überdies eine vertiefte
Erfassung der hier betrachteten Zusammen¬
hänge ermöglichte.
Lukäcs stellt in den jüngsten zwei Jahr¬
hunderten eine Verbürgerlichung des Dra¬
mas fest. Durch das bürgerliche Drama des
Engländers George Lillo, das von Dide¬
rot in die französische, von Lessings „Miß
Sara Sampson“ in die deutsche Dichtung
übertragen wurde, kam in fast alle neuere
Dramatik, auch in Stücke aus nichtbürger¬
licher Schicht und aus ferner Vergangen¬
heit ein bürgerlicher Zug. Ihn weisen eben¬
so „Iphigenie auf Tauris“ und „Torquato
Tasso“ wie Hebbels „Gyges“. Am vollsten
entfaltete er sich in der Zeit der Eindrucks¬
kunst.
Ihn bezeichnet fortschreitende Intellektu¬
alisierung. Unreligiös war der Ursprung
dieses verbürgerlichten Dramas, im Gegen¬
satz zu dem Drama älterer Weltliteratur.
Begriffsbestimmung und Zergliederung tra¬
ten an die Stelle von Symbolen. Nicht
Leidenschaften prallten fortan zusammen,
sondern Ansichten. Nicht Menschen schlecht¬
weg, sondern Vertreter bestimmter Schich¬
ten der Gesellschaft trafen in der Tragödie
aufeinander, und zwar mit Vorliebe Ver¬
treter gegensätzlicher Schichten. Abhängiger
als je zuvor wurden die tragischen Gestal¬
ten von ihrer Umwelt, zugleich aber immer
individualistischer. Das ging bis zum Krank¬
haften schon bei Goethes Orest oder Tasso.
Eine der bedeutsamsten Wendungen, die
durch die Intellektualisierung erbracht wur-
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PFTNCETON ÜNIVERSITY
753
754
Oskar Walzel, Tragik nach Schopenhauer und von heute
de, war eine Objektivität, die sich in man¬
nigfachster Form durchsetzte. Die Men¬
schen gingen nicht mehr in ihren eigenen
Taten auf, sondern erlebten sie aus einer
gewissen Entfernung. Aller Gegensatz wur¬
de ins Begriffliche gewandelt. Der Kampf
näherte sich dem Streitgespräch, das ja
von vornherein Ausgleichung, Überzeugung
des andern, Einsicht in die relative Richtig¬
keit von dessen Wahrheiten nicht aus¬
schaltet.
Lukäcs’ schlagendstes Beispiel istHebbels
Herzog Ernst; er macht den eigenen Sohn
zum Richter in einem Streit, der zwischen
ihm und diesem Sohn waltet. So sehr ist
der Herzog überzeugt von seinem Recht
und von der Möglichkeit, daß auch sein
Sohn und Gegner zu gleicher Überzeugung
gelangen müsse. Er vertraut dem Verstän¬
de und hofft, daß dieser Verstand über
Leidenschaft siegen werde. Er behält recht.
Selbstverständlich gedenkt Lukäcs der
Worte, mit denen Hebbel den Bösewicht
aus dem Trauerspiel hinausweist. Dann
aber auch der Ansicht Schopenhauers, die
Tragödie ersteige ihre höchste Stufe, wenn
Menschen in unausweichlicher Folgerung
aus ihrer gegenseitigen Lage einander zu¬
grunde richten. Er hat die Stelle des Haupt¬
werks im Auge, von der hier ausgegangen
worden ist.
Schopenhauer also ein Anwalt der ver¬
bürgerlichten Tragik der jüngsten zwei Jahr¬
hunderte. Sein Eintreten für eine Tragik,
die nicht vom Bösewicht und nicht vom
Schicksal erweckt wird, nur der Ausfluß
einer Wandlung des Dramas, die zu Beginn
des 18. Jahrhunderts einsetzt und auf die
Verbürgerlichung der Welt zurückgeht. Ei¬
ner Wandlung, die für Lukäcs, den Gesin¬
nungsgenossen und Freund Paul Ernsts,
gleichkommt einer Zerstörung des eigent¬
lich Tragischen.
Widerspricht dieser Einstellung nicht
der Einwand, der von Schopenhauers
Hauptwerk im 37. Kapitel des zweiten Ban¬
des gegen das bürgerliche Drama erhoben
wird? Nicht im ersten Anlauf, nur in zwei¬
ter Bearbeitung fand Schopenhauer für die¬
sen Einwand das Wort: den bürgerlichen
Personen fehlt es an Fallhöhe.
Es wäre zu bequem, diesen Widerspruch
beseitigen zu wollen durch den Hinweis,
Lukäcs denke ja nicht bloß an das bürger¬
liche Drama im geläufigen und strengen
Sinn des Worts, sondern an das ganze
neuere Drama, das er verbürgerlicht findet.
Das bürgerliche Schauspiel bleibt gewiß
die ausgeprägteste Gestalt des verbürger¬
lichten Dramas. Vielmehr besteht Wider¬
spruch nicht zwischen Schopenhauer und
Lukäcs, sondern zwischen den beiden Äu¬
ßerungen des Hauptwerks.
Schopenhauer findet im bürgerlichen Dra¬
ma zu wenig Fallhöhe, weil nur das Un¬
glück der Menschen von großer Macht und
von großem Ansehen genug Größe habe,
um furchtbar zu erscheinen. Er tritt also
ein für eine gewisse Entfernung zwischen
den Bühnengestalten und den Zuschauern.
Dort indes, wo er für seine dritte Art des
Tragischen ficht, legt er alles Gewicht auf
die Möglichkeit, daß der Zuschauer das
Leid der Bühnengestalten seinen eigenen
Lebensmöglichkeiten recht nahverwandt
empfindet. Um erleichterte Einfühlung ist
ihm zu tun. Das Wort von der ungenü¬
genden Fallhöhe legt hingegen das Ge¬
wicht auf die überwältigende Wirkung
eines Ungeheuern Erlebnisses, das durch
seine Wucht auch dann erschüttert, wenn
der Zuschauer das Leid der Bühnengestal¬
ten nicht als sein eigenes empfindet. Es
ist der Gegensatz, den man in die Begriffe
Einfühlung und Abstraktion zu fassen ver¬
sucht.
Zwei Pole des Tragischen erblicke ich in
diesem Gegensatz. Die eine Tragik bleibt
dem Leben nahe, sie ist mit Willen bürger¬
lich, sie bringt Erlebnisse, wie der Alitag
sie bietet, sie wirkt durch die Entdeckung
tragischer Möglichkeit in dem Gewohnten,
in dem Leben, wie es jeder führt. Die
andere geht hinaus über das Alltägliche,
ihre Spannungen sind stärker als die des
gewohnten Daseins, sie erweckt die Schauer
eines fernen und fremden Erhabenen.
Die erste Art, die Einfühlungstragik,
waltet in der verbürgerlichten Welt, kenn¬
zeichnet sich am stärksten im Drama der
Eindruckskunst, bei Hauptmann und bei
Schnitzler; aber auch Lessing, dann Goethe
nähert sich ihr, ja schon Euripides. Die an¬
dere Art heißt Aisdiylos und Sophokles,
auch Shakespeare, heißt sogar Schiller, mag
Schiller immerhin Sohn der verbürgerlichten
Zeit sein. Sie muß wieder erwachen,
wenn nicht Rembrandts gedämpfte, dem
Leben verwandte Kunst, sondern die eksta¬
tische Gotik Matthias Grünewalds dem Ge¬
fühl des Zeitalters entspricht. Darum mel¬
det sie sich jetzt wieder an; und zurück
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PRINCETON UNIVERSITY
755
Nachrichten und Mitteilungen
750
tritt die verbürgerlichte Einfühlungstragik
der jüngsten Jahrhunderte.
Wieder ist man darauf aus, Imaginatives
in der Dichtung zu verwirklichen. Goethe
hingegen ging mit Bewußtsein den ent¬
gegengesetzten Weg. Schon Goethes Name
bezeugt den hohen Bildungswert, der sol¬
cher nichtimaginativen, gedämpften Kunst
innewohnt. Mag sie — wie Paul Ernst und
Lukäcs sagen — der Tragik ihre beste. Kraft
geraubt haben, sie hat im Rahmen der
bürgerlichen Kultur Großes geleistet, hat
eine Kunst der kleinen Gegensätze und
Menschen gezeitigt, die fähig waren, auch
das Schwere kleiner Gegensätze zu erfühlen.
Jetzt geht es wieder zurück zum dröhnen-
deren Zusammenprall entgegengesetzterer
Kräfte. Schärfere Scheidung setzt sich durch.
Allein heißt das nicht, manchen schönen
seelischen Gewinn aufgeben? Muß nicht auf
Werte verzichtet werden, die aufzugeben
Verlust bedeutet?
Doch die Kunst der kleinen Gegensätze
hat augenscheinlich ihre letzten und äs-
ßersten Möglichkeiten ausgeschöpft. Nach¬
dem sie zuerst den Bösewicht aus der Tra¬
gödie hinausgewiesen, war sie noch einen
Schritt weitergegangen und hatte ihn we¬
der aufgenommen, nicht um ihn zu verur¬
teilen, nur um ihn zu begreifen; hatte sie
die Tragik bloß noch in dem Menschen ge¬
sucht, dem dies Begreifen schwer wird.
Umkehr also ist nötig geworden, wie immer,
nachdem eine Entwicklung ihre letzten Fol¬
gerungen gezogen hat.
Schopenhauer aber bewährt sich als Sohr
der verbürgerlichten Zeit, soweit er seine
Tragik dritter Art verficht. Er wächst über
seine Zeit empor, indem er der Gegenwart
seine Mitleidsittlichkeit schenkt. Er nähert
sich ebenso der Gegenwart durch der
Wunsch, Tragödien von beträchtlicher Fall¬
höhe auf der Bühne zu sehen. Wie alle
Großen ist er nicht bloß Ausdruck seines
Zeitalters, auch über seine Zeit hinaus
Führer in eine andersgeartete Zukunft.
Nachrichten und Mitteilungen.
August Raps.
In der Nacht vom 19. zum 20. April d. Js.
starb im 56. Lebensjahre das langjährige Mit¬
glied des Vorstandes der Siemens & Halske-
A.-G., Direktor des Wernerwerkes, Prof.
Dr. August Raps. Mit ihm ist einer der be¬
deutenden Führer der deutschen Elektro¬
technik dahingegangen, ein vornehmer
Kämpfer der alten Schule für Deutschlands
Ruhm und Ehre, der die neuen Verhältnisse,
in denen jeder einzelne nur noch egoisti¬
sche Ansprüche kennt, nicht begreifen und
die Selbstvernichtung des deutschen Volkes
nicht ertragen konnte.
August Raps war der Sohn eines Malers,
von dem er den Sinn für Kunst und guten
Geschmack geerbt hatte. Er verlor den
Vater bereits in seinem 9. Lebensjahre, so
daß die Mutter, an der er mit großer Innig¬
keit hing, in der Hauptsache für die Aus¬
bildung seines Charakters maßgebend ge¬
worden ist. Seiner Vaterstadt Cöln ver¬
dankte er die Veranlagung zu einem ge¬
sunden Humor. Gern kehrte er, wenn
Dienstreisen nach dem Westen es ihm ge¬
statteten, für kurze Zeit in das gastliche
Haus der Mutter ein, in dem sich die ge¬
samte jugendliche Verwandtschaft ein Stell¬
dichein gab. Da saß er mit Behagen am
Fenster, betrachtete wie einst in den Jugend¬
jahren den Straßenverkehr und stellte mit
Befriedigung fest, daß es noch das gleiche
cölnsche Leben sei, wenn er auch die Per¬
sonen nicht mehr kannte.
Bereits in der Schule kam das Interesse
für das Praktische bei Raps zum Ausdruck.
Schon damals wußte er die Mutter zu be¬
wegen, ihm eine Drehbank zu kaufen -
sie blieb ihm sein Leben lang ein teurer
Gegenstand — und ihm bei einem Mecha¬
niker gründlichen Unterricht erteilen zu
lassen. Diese frühzeitige Bekanntschaft mit
der Präzisionsarbeit hat ihm ein sicheres
Urteil für technische Leistungen anderer
und für die Ansprüche, die man stellen
kann, gegeben. Studiert hat Raps in Bonn
und Berlin. Auf der Berliner Universität
hörte er bei Helmholtz und Kundt; bei dem
letzteren war er Assistent, ihm ist er be¬
sonders nahegetreten. Das ist nicht wun¬
derbar, weil Kundt, der ausgesprochene Ex¬
perimentator, die praktische Veranlagung
von Raps besonders zu schätzen und zu
fördern vermochte. Ein jeder, der das Glück
gehabt hat, einem bedeutenden Manne in
der Studienzeit als Lehrer oder überhaupt
im Leben näherzutreten, weiß, welch un¬
geheuren Einfluß das auf den Charakter
und das Wesen des Schülers ausübt. Raps'
Arbeiten aus seiner Universitätszeit behan-
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PRINCETON UNIVERSI
757
Nachrichten und Mitteilungen
758
dein zwar auch rein wissenschaftliche Pro¬
bleme, besonders aus der Optik und Aku¬
stik, aber auch sie weisen auf die prakti¬
sche Anwendung hin; aus dieser Zeit stammt
auch die Erfindung der Rapsschen Expan¬
sionsluftpumpe, die die Anerkennung der
Technik gefunden hat.
Raps ist eine ganze Reihe von Jahren
Dozent an der Berliner Universität gewesen
und hat hier auch den Professortitel erhal¬
ten; einen Ruf als Professor an die Tech¬
nische Hochschule in Dresden, als Zweiund-
dreißigjähriger, lehnte er ab, weil er sein
Lebensziel in der reinen Technik sah. Den
Weg dahin eröffnete ihm Wilhelm Von
Siemens, der ihm eine Beschäftigung im
Berliner Werk des Hauses Siemens & Halske
anbot. Mit dem Entschluß, diesem Ruf zu
folgen, begründete Raps seine Lebensauf¬
gabe; es war im Jahre 1893. Schon wenige
Jahre danach übernahm er zunächst ver¬
tretungsweise für den erkrankten Direktor
des Werkes Hermann Siemens und nach
dessen Tode endgültig die Leitung dieses
Werkes, die er zunächst allein und vom
Jahre 1898 ab gemeinsam mit Adolf Franke
geführt hat. Als das Haus Siemens & Halske
dem Zuge der Zeit folgend aus finanziellen
Gründen Aktiengesellschaft wurde, erhielt
das Werk den Sfamen Wernerwerk, dem
Begründer des Hauses Werner v. Siemens
zu Ehren; denn im Wernerwerk wurden
und werden diejenigen Arbeiten und Pro¬
bleme gefördert, mit denen Werner v. Sie¬
mens den Grund für den Ruf des Hauses
gelegt hatte, darunter diejenigen der Tele¬
graphie; im allgemeinen bezeichnen wir
diese Teile der Elektrotechnik als Schwach¬
stromtechnik.
Als Raps die Leitung des Berliner Werkes
übernahm, waren etwa 1000 Angestellte und
Arbeiter dort tätig, bei seinem Tode etwa
12000; ein großer Teil der Beschäftigten wa¬
ren und sind gut durchgebildete und tüchtige
Mechaniker. Sehr vielseitig waren stets die
Aufgaben und dementsprechend die Auf¬
träge, die im Wernerwerk zu erledigen
sind. Raps erklärte eines Tages auf die
Frage eines Wißbegierigen, wieviel ver¬
schiedenartige Apparate im Wernerwerk
hergestellt würden, es sei unmöglich, diese
Anzahl zu bestimmen, da täglich neue Ap¬
parate hergestellt würden, jedenfalls seien
es viele Tausende. Und doch war diese
Vielseitigkeit keine Verzettelung; das ver¬
hinderte Raps’ praktische Veranlagung und
sein glänzendes Organisationstalent. Die
Technik löst nicht nur Aufgaben, sondern
sie sucht auch selber diejenigen heraus, die
das praktische Leben in vielen Exempla¬
ren braucht; für diese hat sie besondere
Herstellungsmethoden und Maschinen nötig,
und hier wußte Raps stets mit klarem Blick
die richtigen Wege zu weisen.
Er hatte die schöne Eigenschaft, seine
Mitarbeiter mit großer Selbständigkeit und
Freiheit ihre Aufgaben entwickeln zu las¬
sen, wodurch er die Freude an der Arbeit
und damit die Sache selbst förderte. Es
seien hier einige der Arbeiten genannt, bei
denen Raps persönlich auch um Einzelhei¬
ten sich gekümmert hat. Er war sich voll¬
kommen bewußt, daß seine Kräfte nicht
ausreichten, sich um alles zu kümmern; er
bedauerte oft lebhaft, wie traurig es für
ihn sei, daß er sich an manchen wissenschaft¬
lich hoch interessanten Problemen, Über¬
legungen, Messungen, Konstruktionen nicht
selbst beteiligen könne. Das geht natürlich
einem jeden, der in seiner Stellung wächst,
ebenso, und das ist ein Glück; denn nur
dadurch ist die Erzielung eines guten Nach¬
wuchses möglich. Hierher gehört die Ent¬
wickelung der technischen elektrischen Me߬
instrumente, der Minenzündapparate, des
Lautsprechers, der Schiffskommandoappa¬
rate — mit der deutschen Flotte ist ein
wichtiges Lebenswerk von Raps zugrunde
gegangen —, der Fernsprechzentralen, der
Trinkwassersterilisation mittels Ozon, der
Herstellung des als Düngemittel wichtig
gewordenen Kalkstickstoffes.
Ganz allgemein kann man von Raps
sagen, daß er mit jugendlicher Begeiste¬
rung stets die Errungenschaften und Lei¬
stungen des Wernerwerks zu schildern ver¬
stand, ob dies in öffentlicher Sitzung oder
im kleinen Kreise im Werk geschah; er
hielt es für die Pflicht eines jeden Beam¬
ten, die Resultate würdiger Arbeiten auch
in entsprechender Form zu schildern. Der
Ausstellungsraum des Wernerwerks ist eine
Bestätigung hierfür; dieser wurde von Raps
zu einem Museum der lebenden modern¬
sten Schwachstromtechnik ausgestaltet.
Daß Raps auch allgemeine Interessen der
Technik stets im Auge gehabt hat, zeigen
seine langjährigen Bemühungen um die
Vereinheitlichung in der Fabrikation, die
im Wernerwerk gründlich durchgebildet für
die Allgemeinheit wertvolle Anhaltspunkte
geben konnten. Dahin zu rechnen ist auch
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PRINCETON UNIVERSITY
759
Nachrichten und Mitteilungen
seine Bemühung, eine gediegene Pflanz¬
stätte für die Ausbildung von Mechanikern
zu schaffen; diese mit dem Wernerwerk
eng verbundene Lehrlingswerkstatt kann
als ein Muster einer derartigen Schule an¬
gesehen werden.
An äußeren Anerkennungen hat es Raps
nicht gefehlt. Von der Technischen Hoch¬
schule zu Danzig wurde er zum Dr. ing. e. h.
ernannt; er war Mitglied des Kuratoriums
der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt
und Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesell¬
schaft; außer anderen Orden und Ehren¬
zeichen wurde ihm das Eiserne Kreuz 2. Kl.
am weiß-schwarzen Bande für seine wohl¬
verdienten Bemühungen um die Kaiserliche
Marine zuteil. Wenn er solche Anerken¬
nungen auch mit einem gewissen Stolz ent¬
gegennahm, so war das in der Hauptsache
lediglich die Freude, daß seine Leistungen
und Bemühungen auch von der Öffentlich¬
keit anerkannt wurden; er war in seinem
innersten Wesen außerordentlich bescheiden.
Wenn man nun fragt, warum kann Raps
zu den Führern der deutschen Elektro¬
technik und damit auch der deutschen Tech¬
nik im allgemeinen gerechnet werden, so
soll darunter nicht verstanden werden, daß
er einer der Direktoren eines großen Hau¬
ses gewesen ist, sondern daß er zu den
Männern gehört hat, die mit gediegenem
Wissen ausgerüstet als typische Charaktere
deutscher Art ihrem Wirkungskreis den
Stempel der Persönlichkeit aufgedrückt und
den Ruf der deutschen Arbeit und der deut¬
schen Gründlichkeit gefördert haben.
Charlottenburg. Dr. A. Ebeling.
Lic. Dr. Wilhelm Erbt: Die deutsche Er¬
ziehung. Eine Geschichte der Le¬
benswerte unseresVolk es und ihrer
Verwirklichung an seiner Jugend.
Frankfurt a. M. 1920, Moritz Diesterweg.
Geh. 7,70 M., geb. 9,50 M.
Bis auf den heutigen Tag hat die Päd¬
agogik um ihre Anerkennung als Wissen¬
schaft zu kämpfen. Sie gilt vielen als eine
bloße Theorie der Erziehungstechnik, die
allenfalls durch ihre Beziehung zur Psycho¬
logie und Ethik eine gewisse wissenschaft¬
liche Färbung gewinne, der man aber sonst
gern einen Platz außerhalb der echten Wis¬
senschaften anzuweisen geneigt ist. Und
doch hat, wenn die Pädagogik bisher in
der Entwicklung zurückgeblieben ist, dies
nicht darin seinen Grund, daß sie zu ge-
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760
ringe, sondern umgekehrt darin, daß sie
sehr große Ansprüche an Wissenschaftlich¬
keit und Methode stellt. Denn die Päd¬
agogik ist nicht ein isolierbares Spezialfach,
sondern ein Lebensgebiet, das seine Pro¬
bleme durch die mannigfaltigsten Beziehun¬
gen zu den verschiedensten Gebieten emp¬
fängt. So hat namentlich Eduard Spran-
ger die Erziehung gedeutet: als einen Kul¬
turvorgang, der in den Zusammenhang des
ganzen geistigen Lebens eingebettet ist,
und danach die Pädagogik als eine Wissen¬
schaft, die in ihrem historischen, beschrei¬
benden und normativen Teil mit allen übri¬
gen Kulturgebieten eng verwoben ist.
An dieser Schwierigkeit sind bisher so
gut wie alle für den pädagogischen Sctiul-
gebrauch bestimmten Darstellungen der Ge¬
schichte des Erziehungs- und Bildungswe¬
sens gescheitert. Es sind fast durchweg
Biographien der großen Erzieher, die zu
persönlicher Leistung verengen, was ganz
nur durch die Gesamtbewegung des natio¬
nalen Lebens erklärbar wird. Uber diesen
engen Standpunkt erhebt sich die neue Ge¬
schichte der Pädagogik, die Wilhelm Erbt,
wesentlich zur Verwendung in Lehrer- und
Lehrerinnenbildungsanstalten, uns jetzt ge¬
schenkt hat. ln diesem Buche ist die so¬
eben gekennzeichnete Auffassung von den
Aufgaben der Pädagogik für die Darstel¬
lung ihres geschichtlichen Entwicklungs¬
ganges verwirklicht. Denn der Verfasser
stellt die Geschichte der deutschen Erzie¬
hung und Bildung in den innigsten Zusam¬
menhang mit den treibenden Kräften, durch
die die Entwicklung der deutschen Kultur
getragen ist. Er verfügt über die weitrei¬
chende geistige Ausrüstung, die erforder¬
lich ist, um die vielfältigen Beziehungen
aufzudecken, die Wirtschaft, Verfassung und
Gesellschaft, Philosophie und Religion, Li¬
teratur, Kunst und Technik mit der Erzie¬
hung und Bildung des deutschen Volkes
verbinden. Muß über dem Nachweis, daß
diese Lebensgebiete mit den inneren Wand¬
lungen des deutschen Erziehungs- und Bil¬
dungswesens verflochten sind, auch manche
pädagogische Einzelleistung zurücktreten,
so bietet diese großzügige Betrachtung da¬
für ein um so eindrucksvolleres Bild der
wechselnden Daseinsbedingungen und der
beständigen Ergänzung und Berichtigung
der Lebenswerte, um deren Verwirklichung
jfdes neue Geschlecht, geführt von den
großen Männern seiner Zeit, sich
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PRINCETON UNIVER
Zeitschriftenschau
762
761
wieder müht. Diese Zusammenschau der
inneren Beziehungen unseres nationalen
Lebens erhöht ihre Wirkung vor allem
auch durch das Gewand, in das sie gehüllt
ist: eine in reinstem Deutsch sich bewegen¬
de Darstellungskunst. Wir stehen nicht an,
das Buch Erbts dem Werke Paulsens:
„Das deutsche Bildungswesen in seiner ge¬
schichtlichen Entwicklung“ (Aus Natur und
Geisteswelt, Bd. 100, Leipzig, B. G. Teub-
ner) an die Seite zu stellen, mit der Unter¬
scheidung, daß Erbt als schulmäßige Dar¬
stellung geleistet hat, was Paulsen unter An¬
nahme höherer Voraussetzungen schuf. H. R.
J. Lepsius, Der Todesgang des armenischen
Volkes. Bericht über das Schicksal des
armenischen Volkes in der Türkei wäh¬
rend des Weltkrieges. Potsdam 1919
Tempelverlag. XXIX, 309 S.
Der Sammlung diplomatischer Akten¬
stücke über die Armenierverfolgungen (vgl.
I. M. 1919, Sp. 831 f.) läßt Lepsius jetzt
noch einen auf verschiedenen mündlichen
und schriftlichen Informationen beruhenden
Bericht folgen, den er nach seiner Rückkehr
aus Konstantinopel 1916 verfaßt hat. In
den wesentlichen Punkten stimmt dieser
ältere Bericht mit der späteren Dokumen-
tenpublikation überein, liefert also weitere
wichtige Beiträge zur neuesten Geschichte
der durch den Zusammenbruch der Türkei
keineswegs gelösten armenischen Frage.
Das Buch enthält auch einen Abschnitt über
das Verhalten der deutschen Presse, der
sich jedoch in der Hauptsache auf eine kri¬
tische Auseinandersetzung mit Bratters
Kriegsbroschüre beschränkt. J. H.
Hans von Kiesling: Damaskus. Altes und
Neues aus Syrien. 126 S. mit Bildern und
einer Kartenskizze. Leipzig 1919, Dieterich.
Deutsche Kriegsleute in den Straßen von
Damaskus! Wie der Traum einer überhitz¬
ten Phantasie könnte uns heute diese Vor¬
stellung anmuten und war doch fast gestern
noch Wirklichkeit. Jene Landsleute, deren
ganzes Leben sich auf engstem Raum ab¬
spielte, können das Gefühl der Wehmut
kaum verstehen, mit dem wir alten Aus¬
ländsdeutschen, denen da draußen eine
zweite Heimat versank, solche Bücher wie
die vorliegende Schrift über Damaskus zur
Hand nehmen. Für den Erdkundigen be¬
deuten Damaskus und der in den gelben
Rahmen der Wüste gefaßte Topas der Ghuta
unendlich viel, aber bei dem Kulturhistori¬
ker ist die alte Hauptstadt Syriens fast noch
größerer Teilnahme sicher. Neben Babylon
und Athen, Rom und Byzanz zählt sie zu
den Stätten der Erde, über die sich jeder
Gebildete immer wieder gern unterrichtet,
namentlich dann, wenn ihm die Belehrung
in so angenehmer Form geboten wird wie
von diesem deutschen Kriegsmann. Ich
weiß nicht, wie alt an Jahren der Verfasser
ist. Jedenfalls schaute er mit dem großen,
staunenden Auge der Jugend — in so mär¬
chenhafter Fremde wird auch der reife
Mann wieder jung — in die ihm neue Welt,
aber dennoch gibt er uns viel mehr als
lebensvolle Stimmungsbilder. Um sich dar¬
auf zu beschränken, war der Generalstabs¬
offizier eines Colmar v. d. Goltz viel zu sehr
an Methodik und Gründlichkeit gewöhnt.
Während wir mit ihm von einem Baudenk¬
mal der Stadt zum andern pilgern, ziehen
die einzelnen Abschnitte ihrer Geschichte
an uns vorüber, und der Leser empfindet
es nur angenehm, daß überall persönliche
Erlebnisse den sachlichen Mitteilungen Fri¬
sche und Wärme verleihen. Schon als ich
die nachdenkliche Einleitung über die Ge¬
schichte der Paulusstadt gelesen hatte,
wußte ich, daß das schmale Bändchen einen
reichen Inhalt berge. Von dem feinen Emp¬
finden des Verfassers zeugen auch die hüb¬
schen Bilder, unter denen wir das wunder¬
volle Türkenbild auf S. 71 besonders her¬
vorheben möchten. Gebe Gott, daß bald
Zeiten wiederkehren, da diese deutsche Art,
schönheits- und wissensdurstig, freie Bahn
findet, um die weite Welt zu durchgeisti¬
gen und zu adeln.
Deutsch-Eylau. Fritz Braun.
Zeitschriftenschau.
Aus englischen Zeitschriften 1919.
Wer aus englischen Zeitschriften berich¬
ten will, muß von vornherein um Nachsicht
bitten. Sind die Beschränkungen, die der
Krieg mit sich brachte, endlich gefallen, so
hat das Valutaelend der folgenden Zeit die
Bibliotheken gezwungen, unter ihren aus¬
ländischen Zeitschriften fürchterliche Muste¬
rung zu halten. Für 1919 traf beides zu¬
sammen; die Folge ist, daß die hier ge¬
botene Übersicht auf Vollständigkeit keinen
Anspruch machen kann: nicht jede Zeit-
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763
Zeitschriftenschau
764
schrift lag vollständig vor, manche, obwohl sehen Gymnasium“. Keine fruchtbringen¬
dem Namen nach noch gehalten, war nicht dere Einführung in die Anschauung des
zugänglich. Menschen als Mitglied der menschlichen
Im ganzen kann immerhin gesagt wer- Gesellschaft könne es für Englischsprechende
den, daß die Literatur augenblicklich in den geben als wirkliches Verständnis ihrer gro-
englischen Zeitschriften nur einen schmalen ßen Sprache und Literatur. Wahre Vater-
Raum einnimmt: Politik, wirtschaftliche Fra- landsliebe müsse gegründet sein auf dem
gen, der Krieg und was mit ihm zusam- Wissen, wofür England in der Vergangen-
menhängt, all das steht im Vordergründe, heit eingestanden sei und wofür es jetzt
und auch die Angelegenheiten der Kunst stehe, und diese Kenntnis vermittle nichts
und Dichtung werden gelegentlich von besser als das Studium der großen Spre-
einem Standpunkte betrachtet, der außer- eher des englischen Volkes seit Jahrhun-
halb ihres engeren Bereiches liegt. Dahin derten. Gewiß sei der künstlerische Genuß
gehört ein anonymer, „A Playgoer* gezeich- Hauptzweck der Dichtung, aber daneben
neter Artikel des Novemberheftes der Con- sei sie doch der Mund der Geschichte, sie
temporary Review, dessen Erörterungen erhalte die Vergangenheit und gerade den
übrigens auch Sorgen berühren, die unsere Alltag der Vergangenheit im wachen Be-
Theaterzustände wachzurufen nur zu ge- wußtsein und sei so das einigende Band
eignet sind. Der Verfasser stellt der idealen zwischen den Geschlechtern eines Volkes.
Bühne des Altertums und Mittelalters die Denselben Zweck erfülle das Sprachstudium,
moderne Spekulationsbühne gegenüber; die indem es die Sprache als einen durch die
Zeit rufe nach einer „reineren, sittlicheren, Jahrhunderte sich lebendig entwickelnden
freudenbringenderen“ Verwendungder weit- Organismus erkennen lehre — der englische
bedeutenden Bretter; dazu solle die in Unterricht sei also nicht Sache der Lehrer,
Amerika entstandene „Kleintheaterbewe- sondern eines jeden und einer jeden,
gung* helfen, die überall, nicht zuletzt auch Es ist anziehend zu sehen, in welcher
auf dem Lande, kleine Bühnen für 60—600 Weise die Zeitschriften der Aufgabe die-
Besucher schaffen wolle. Sie sollen den nen, den geistigen Besitz der Vergangen-
Spieltrieb in der Bevölkerung wecken und heit in der Gegenwart lebendig zu erhal-
so dazu helfen, daß die dramatische Kunst ten. Der größte Dichter des englischen
lebendiger Besitz der breiten Schichten Volkes hat derartige Bemühungen wohl
werde; in London werde man demnächst am wenigsten nötig, wenn vielleicht auch
den ersten derartigen Versuch mit „ The Lessings bekanntes Klopstockepigramm das
Everyman Theatre“ machen: ein Haus, das Verhältnis des Durchschnittsengländers zu
allen modernen technischen Anforderungen ihm ganz gut bezeichnet: jedenfalls gilt
genüge, sei vorhanden, die Truppe werde ihm nur ein Aufsatz aus der Feder seines
sich aus für die Sache begeisterten Berufs- Biographen Sidney Lee ( Quarterly Rev.
schauspielern, erprobten Dilettanten und Juli). Er wendet sich gegen einen von dem
Theaterschülern zusammensetzen. Es ist Franzosen Abel Lefranc in einem zweibän-
natürlich klar, daß von diesem Anfang, digen Buche auf Grund eines schon 1891
dessen Art wohl durch die Londoner Ver- veröffentlichten Briefes von neuem präsen-
hältnisse bedingt ist, bis zum vorschweben- tierten „wahren Shakespeare“, diesmal ist
den Ziel noch ein weiter Weg ist, mag es William Stanley, sechster Graf von Der-
der Verfasser schon von eifriger Nachfolge by; nach Lee hält Lefranc bei seiner ge-
über ganz England, von einem endlich ge- ringen Kenntnis der elisabethinischen Lite-
fundenen Mittel gegen die Flucht vom Lande ratur ein paar zufällige Übereinstimmungen
und aus den kleinen Städten träumen. Je- für bezeichnend, während sie in Wirklich-
denfalls darf man begierig auf die Erfolge keit alltäglich sind. Sicher haben in Aus-
so schöner Pläne sein. gaben, Anthologien, Literaturgeschichten,
Auch der im selben Heft abgedruckte Essais die Engländer viel dafür getan, die
Vortrag, den Edith J. Morley vor der Zeit der Elisabeth jedem nahezubringen,
Ortsgruppe Newcastle der English associa- der den guten Willen hat, sie kennen zu
tion gehalten hat, trägt einen kulturpoliti- lernen; dagegen birgt das 17. Jahrhundert
sehen Anstrich; sein Thema „die Stel- noch manchen zu Unrecht halbvergessenen
lung des Studiums des Englischen Dichter: im Augustheft der Contemporary
im Leben der Nation“ erinnert an den Rev. findet sich ein Aufsatz von C. Spender
bei uns erhobenen Ruf nach dem „deut- über Richard Crashaw (1613—48J, einen
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Zeitschriftenschau
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mystisch-visionären Dichter mit der Gabe
eindringlicher und deutlicher Rede, dessen
Verse oft genug gar modern anmuten und
für die müden, kriegssatten Menschen un¬
serer Zeit manche Botschaft haben.
Wer England verstehen will, wird nicht
zuletzt darauf achten, welche Schriftsteller
der Vergangenheit dort noch heute nicht
nur als klassisch gelten, sondern auch gelesen
werden, und wird damit die Schätzung im
eigenen Lande vergleichen. Wahrlich, wir
haben genug englische Romanliteratur bei
uns aufgenommen, aber wer kannte, wer
kennt bei uns Jane Austen (1775—1817)?
Dem Engländer gilt sie als eine der ersten
Meisterinnen der Gattung und darüber hin¬
aus als große Persönlichkeit: eine französi¬
sche Doktoratsthese von Leonce Villard gibt
einer entfernten Verwandten der Schrift¬
stellerin, Mary A. Austen Leigh, Veran¬
lassung, in der Quarterly Rev. (Oktober) von
ihr n A personal aspect “ zu geben. Leider
sei Jane Austens Briefwechsel in seinen
wichtigsten Teilen unwiederbringlich ver¬
loren, aber ihre Romane seien als Doku¬
mente ihrer Persönlichkeit zu verwenden,
und durch sie ziehe sich eine bezeichnende
Gedankenreihe: stets verwebe sie mit der
Handlung die Geschichte eines begangenen
Fehltritts, darauf folgender Einsicht und auf
ihr beruhender Besserung, mit einem Worte,
sie sei die Dichterin der ethischen Bedeu¬
tung der Reue. Darauf beruhe der Austen
tief sittlicher, ja religiöser Wert, und diese
Seite ihrer Persönlichkeit habe die Franzö¬
sin gerade verkannt — worin sie denn
übrigens mit einem sehr verbreiteten deut¬
schen Urteil zusammentrifft: in Engels
Englischer Literaturgeschichte heißt
es (7. Aufl. S. 381) von der Austen: „sie hat
das Höchste erreicht, was ohne weiten Blick
und ohne Herzenswärme geleistet werden
kann.“ Im Gegensatz zu Jane Austen ist
George Eliot bei uns wohlbekannt und
gilt noch heute als Englands größte Ro¬
manschriftstellerin, mag die Zahl ihrer Le¬
ser auch kaum mehr sehr groß sein; in
ihrem Heimatland scheint sie jetzt hinter
der Austen und der Brontö zu stehen: ein
Säkularartikel im Dezemberheft der Con¬
temporary Rev. von Th. Seccombe be¬
richtet wenigstens von dem seltsamen Zu¬
sammenbruch ihres einst überragenden
Ruhmes; seit den neunziger Jahren seien ihr
Name und Ruf verdunkelt, der Absatz ihrer
Bücher zurückgegangen. Den Grund dafür
sieht der Verfasser in einer Überschätzung
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durch die Zeitgenossen und in ihrem allzu
bewußten, tendenziösen Schaffen; nur die¬
jenigen ihrer Werke würden sich auf die
Dauer als unabhängig von allen Zeitströ¬
mungen erweisen, die aus dem Erleben
ihrer Jugend schöpften, die sich nährten
aus dem Mutterboden des Eliotlandes, je¬
ner Gegend Mittelenglands, in der die Dich¬
terin wie einige ihrer Hauptgestalten zu
Hause sind.
Einem in England umstrittenen Dichter
huldigt O. Burdett in der Dublin Review
(Oktober/Dezember) in schier überschweng¬
licher Weise, nämlich Coventry Patmore
(1823—96), von dessen Hauptwerk The Angel
in the House, einem Epos von 24 Gesängen,
Leon Kellner, wohl der einzige, der bei
uns diesem Dichter etwas eingehendere
Betrachtung geschenkt hat, sagt: „Noch nie
ist auf einen so nichtigen Stoff soviel Ar¬
beit verwendet worden wie in diesem Ge¬
dichte“ (Die englische Literatur im
Zeitalter der Königin Viktoria S.476).
Aus Burdetts Aufsatz geht hervor, daß sol¬
che Urteile auch in England gefällt werden;
Burdett aber spricht für die zahlreiche Pat-
moregemeinde, für die ihr Dichter der ein¬
zige Epiker großen Stils in unserer Zeit ist,
ein Mann, den man ohne Umstände mit
Homer und Dante in einem Atem nennen
kann. Er sei Fortsetzer und Vollender der
großen epischen Überlieferung, Gipfel einer
Kultur, im Gegensatz zu Milton, dem Sohn
des Zusammenbruchs, der aus jener Über¬
lieferung herausfalle. Der Schöpfer des
Angel in the House sei der Dichter der Liebe
unserer Zeit, der rechtmäßigen Liebe, die
ihr Glück in der Ehe finde. „Mit voller
Absicht zog er die Dinge in den Bereich
der Dichtung, die andere sorgfältig aus¬
schlossen. Da gibt es eine prächtige Rhap¬
sodie über die Kleidung, nach dem Essen
kreist der Portwein, der Heiratsvertrag wird
in den Einzelheiten erörtert ... Die Hand¬
lung beruht gänzlich auf dem Verlauf einer
durchschnittlichen Liebeswerbung, und dar¬
um müssen die Vorfälle so alltäglich wie
möglich sein.“ Die Gegner sprächen von
der Prosa des Familienglückes der mittle¬
ren Schichten, aber sei solche Prosa nicht
Ziel jedes einzelnen und sollen denn nicht
Leben und Dichtung eins sein? Homer ver¬
kläre seine Gegenwart, Patmore die unsrige!
Die irdische Liebe sei die unserm Erleben
zugängliche Offenbarung der göttlichen
Liebe, deren Sänger derselbe Patmore in
seinen Oden sei: so biete sein Schaffen eine
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großartige Einheit und bedeute die Über¬
windung der protestantisch-puritanischen
Naturfeindschaft im christlichen Geist.
Noch geringer ist der Raum, der für die
nichtenglische Literatur übrigbleibt. Gott¬
fried Kellers hundertster Geburtstag ist
nicht unbemerkt vorübergegangen: Alec
W. G. Randall berichtet den Lesern der
Contemporary Review (November) kurz über
sein Leben und stellt von seinen Werken
den Grünen Heinrich und die Leute
von Seldwyla in den Vordergrund. Sehr
tief gehen seine Bemerkungen nicht, natür¬
lich vergißt er nicht zu betonen, daß Keller
Schweizer ist und daß die deutsche Litera¬
tur eine Reihe ihrer bezeichnendsten Werke
der erzählenden Dichtung Landsleuten von
ihm verdankt. Nicht uninteressant ist, daß
eine Übersetzung von Romeo und Julia
auf dem Dorfe während des Krieges er¬
schien (1915 von Edith Wharton). Weiter
und tiefer greift ein Aufsatz von Arthur
Mc. Dowall ( Quarterly Review, Oktober)
über den französischen Roman, den
ein Buch von Saintsbury über denselben
Gegenstand angeregt hat. Der Verfasser
bemüht sich zu zeigen, welche Züge die
französische Erzählungskunst gegenüber der
englischen charakterisieren: das natürliche
Gefühl für eine den Bericht lohnende Ge¬
schichte, die gewandte Leichtigkeit der Dar¬
bietung, diesorgfältigeBehandlung derTech-
nik seien hervorstechende Züge, im übrigen
sei die Neigung der Franzosen dahin ge¬
gangen, ihre Gestalten lieber als Geschöpfe
der Gesellschaft zu zeichnen und zu erklären,
statt den Einzelmenschen seinem Geschick
gegenüberzustellen und „jene letzten Fragen
heraufzubeschwören, an die englische und
russische Romanschriftsteller beständig erin¬
nern“. Freilich sei es nicht unwahrschein¬
lich, daß sidi das ändern werde: für die
Zukunft des französischen Romans scheine
Ch. L. Philipp es Wort maintenant il faut
des barbares maßgebend zu sein, die neuen
Schriftsteller erstrebten statt psychologischer
Zergliederung der Beweggründe die E r-
gründung des Bewußtseinsinhalts von innen
heraus — das heißt also, der Expressionis¬
mus steht vor der Tür.
Die altehrwürdige Westminster Review
bringt einen Aufsatz zur klassischen Lite¬
ratur „Höhere Homerkritik“ von A.J. B.
Wace, der sich gegen den immer noch an¬
dauernden Einfluß von Wolfs Lehren in
England richtet: „die moderne Homerkri
beginnt wie so vieles andere, das rein e
reißend ist, in Deutschland“, bemerkt c
Verf. liebenswürdig. Jedenfalls seien -n
die Dinge durch die Ergebnisse der Ai
grabungen in Troja, Mykene, auf Kreta
ein neues — oder altes — Licht gerücl
mit Wolfs Voraussetzung, daß die Griech
zur Zeit der Entstehung der homerisch
Gedichte noch nicht geschrieben hätte
falle auch die Wichtigkeit der berühmt
Textherstellung unter Pisistratus; Homer s
kein Zeitgenosse seiner Helden gewese
sondern ein Dichter, der seinen Stoff n
bewußtem Streben nach dichterischer Ei:
heit behandelte, und Ilias und Odyssc
stammen, so wie sie sind, von Homer. Di
Homerkritik kehre also zum Standpunkt de
alten Aristarch zurück, nur daß wir ei
sicheres Wissen von der Wirklichkeit die
ser Städte und dieser Kultur haben, wäh
rend Aristarch nur daran glaubte.
Dem Gebiet der Literatur nahe steht end
lieh noch ein gutgeschriebener, mit zahl
reichen Belegen versehener Aufsatz in
Oktoberheft der Contemporary Review vor
Malcolm Letts über Reisen in derVer-
gangenheit und die Entwicklung des
Schönheitsgefühls. Er zeigt, wie we¬
sentlich die Möglichkeit, bequem und ge¬
fahrlos zu reisen, für die Empfindung land¬
schaftlicher Schönheit im Hochgebirge war.
Bis ins 15. Jahrhundert dachte der Reisende
vor allem an die glückliche Heimkehr, dann
begann er zu sehen, zuerst allerdings nach
dem, was nützlich war, und Nutzen wurde
ihm ein wesentlicher Bestandteil der Schön¬
heit; erst ganz zuletzt erscheint der voll¬
kommene Reisende, der schlechthin glück¬
lich ist, wenn seine Augen Schönheit trin¬
ken. Diese Reihenfolge ist an sich nicht
neu; nur sind wir in erster Linie gewohnt,
die Entwicklung des Gefühls für landschaft¬
liche Schönheit an literarische Einflüsse
(Rousseaus Neue Helo'fse, Goethes Werther)
zu knüpfen; daneben sind zweifellos aber
auch, vor allem für die allgemeine Empfäng¬
lichkeit gegenüber solchen Eindrücken, die
äußeren Bedingungen nicht zu vergessen,
auf die Letts aufmerksam macht — bei den
Schwierigkeiten des Reisens in unserer Zeit
wird man ja vielleicht, wenn die Dinge
sich nicht ändern, Gelegenheit haben, eine
Art von Probe aufs Exempel zu machen.
Berlin, Mai 1920. Albert Ludwig.
Für die Schriftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicellus, Berlin W 30, LuitpolrtstmBe *
Druck von B. O. Teubner in Leipzig.
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